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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1112 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lemche, Niels Peter

Titel/Untertitel:

Die Vorgeschichte Israels. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts v. Chr.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 231 S. m. 1 Kte gr.8° = Biblische Enzyklopädie, 1. Kart. DM 39,­. ISBN 3-17-012330-0.

Rezensent:

Ulrich Hübner

Das hier vorzustellende Buch bildet den ersten Band einer neuen Reihe, die von W. Dietrich und W. Stegemann unter dem Namen "Biblische Enzyklopädie" herausgegeben wird. Ihrem eigenen Anspruch nach will die "Biblische Enzyklopädie" "das von der neueren und neuesten Forschung bereitgestellte Wissen über die Bibel auswerten und geschichtlich und systematisch geordnet wiedergeben. In der Aufeinanderfolge der historischen und literaturgeschichtlichen Epochen, von den Anfängen der biblischen Überlieferung bis zum Vorliegen der hebräischen und christlichen Bibel, sollen Zugänge zu den heutigen bibelwissenschaftlichen Erkenntnissen eröffnet werden". Jeder Band folgt dabei dem folgenden Schema "Das biblische Bild ­ Die Geschichte ­ Die Literatur ­ Der theologische Ertrag". Über Sinn und Unsinn der anspruchsvollen Bezeichnung "Biblische Enzyklopädie" braucht hier nicht debattiert zu werden; eine etwas weniger hochtrabende Namengebung wäre sicherlich an-gemessener gewesen, denn im Kern verbirgt sich dahinter nichts anderes als eine zwölfbändige "Geschichte Israels in alt- und neutestamentlicher Zeit" von den Anfängen bis in die frühchristliche Zeit, verteilt auf 12 verschiedene Verfasser.

Der erste Band der neuen Reihe ist von dem dänischen Alttestamentler N. P. Lemche (Kopenhagen) verfaßt worden. Er be-schreibt "die Vorgeschichte Israels von den Anfängen bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts v. Chr.". Entsprechend dem Grundschema der Reihe beginnt der Band mit dem "Biblischen Bild der Epoche" (9-73), wobei die S. 9-18 eine ermüdende Paraphrase von Gen 11-Num 25 bilden. Etwas unglücklich beginnt die Darstellung S. 9 mit einer lückenhaften Übersetzung von Dtn 26,5-9 ­ in V. 7b bleibt einiges unübersetzt, die konventionelle Übersetzung von Yhwh mit "der Herr" ist falsch und die Anm. 1 (cobed statt ’obed) problematisch. Anschließend werden die alttestamentlichen Quellen (19 ff.) auf ihre Historizität befragt. Wie in seinen zahlreichen bisherigen Publikationen zuvor bestreitet L. mit Nachdruck so gut wie jede historische Auswertbarkeit der alttestamentlichen Erzväter-, Exodus- und Sinai-Überlieferungen für die Vorgeschichte Israels. Diese Position ist schon länger bekannt; sie ist bis heute umstritten, scheint aber zunehmend akzeptiert zu werden.

Sind die alttestamentlichen Quellen von ihrem literarischen Charakter her als historiographische Fiktionen aufzufassen und insofern historisch weitgehend wertlos, muß der Historiker nach andern Quellen Ausschau halten, vor allem "den schriftlichen Quellen zur Geschichte Syriens und Palästinas" (74-83). Sie werden knapp und übersichtlich erläutert, allerdings mit der unzutreffenden Bemerkung, in Palästina gäbe es keine In-schriften aus dem 3. Jt. (vgl. dagegen z. B. das frühbronzezeitliche Arad) und aus der 1. Hälfte des 2. Jt.s v. Chr. nur die Funde aus Hazor (vgl. dagegen z. B. die Keilschriftfunde von Tell er-Rumede). Das anschließende Kapitel "Die Archäologie" (83-89) bietet de facto kaum mehr als einige forschungsgeschichtliche und methodologische Bemerkungen. Über das wesentliche, nämlich die materielle Kultur z. B. der Spätbronzezeit, erfährt der Leser so gut wie nichts, obwohl gerade hier zu zeigen gewesen wäre, in welchem hohen Ausmaß Grundlagen der früheisenzeitlichen Kultur schon in der Spätbronzezeit gelegt worden waren. Auf das Kapitel "Die ’Bühne’: Die geographischen und ökologischen Lebensbedingungen" (96-109), in dem der Vf. ge-sellschaftliche und ökonomische Bedingungen problemorientiert darstellt, folgt "Die Geschichte Syriens und Palästinas" (109-150). Sie umfaßt den Zeitraum von ca. 2300 bis 1200 v. Chr. Laut L. beginnt also die Vorgeschichte Israels spätestens in der Mittelbronzezeit, erstaunlich früh, wenn man bedenkt, daß die erste außeralttestamentliche und gesicherte Erwähnung Israels aus der Zeit Merneptahs stammt. Zu der Fülle des Materials, die der Vf. souverän bewältigt, seien zwei kurze Bemerkungen erlaubt: Wer ­ mit beachtenwerten Gründen ­ "kanaanitisch" in Anführungszeichen setzt, sollte dies auch bei "amurritisch" und ebenso S. 50 u. ö. bei "Hebräern" machen. Daß ausgerechnet L. Jos 11,10 in den Zusammenhang der Mittelbronzezeit stellt (117, 120), ist mehr als inkonsequent. Das wichtige Kapitel "Elemente des Geisteslebens" (151-207) beschäftigt sich einerseits mit der Literatur (153-183), z. B. der Idrimi-Inschrift, den Amarna-Briefen und vor allem mit ugaritischen Texten, andererseits mit der Götterwelt, Magie und Prophetie jener Zeit. Was Idrimi mit der Vorgeschichte zu tun haben soll, hätte der Vf. m. E. ebenso kritisch problematisieren müssen, wie er dies bei alttestamentlichen Quellen zu tun pflegt.

Wozu ein "theologischer Ertrag" am Ende eines historischen Buches (208-224), das sich nicht (!) mit der Geschichte Israels beschäftigt, sondern ­ neben anderem ­ mit der präisraelitischen Geschichte Syrien-Palästinas und den historiographischen Vorstellungen und Fiktionen alttestamentlicher Verfasser von der präisraelitischen Geschichte Israels? Was bietet dazu ein Autor, der dazu neigt, die meisten alttestamentlichen Quellen zur Vorgeschichte Israels in die nachexilische Geschichte zu datieren und ihnen nahezu jede Historizität abzusprechen: Er möchte allen Ernstes "die geschichtliche Wahrheit" bieten. Ob es nicht auch bescheidener geht?

Geschichten, die sich als historisch unzutreffend erweisen, können gleichzeitig "wahr" sein und Sinn bieten ­ und umgekehrt. Dem Band würde m. E. ohne das letzte Kapitel kaum etwas fehlen. Nun aber steht zu befürchten, daß am Ende aller weiteren Bände der "Biblischen Enzyklopädie" in Folge ihres selbstauferlegten Systemzwanges stets ein sogenannter theologischer Ertrag stehen wird.

L. destruiert die alttestamentlichen Geschichten von der angeblichen Vorgeschichte Israels; allenfalls in Andeutungen und Ansätzen rekonstruiert er alttestamentliche Vorstellungen für das historische Israel. Das kann man dem Vf. nicht vorwerfen, denn dazu müßte er einige der noch ausstehenden Bände der neuen Reihe selbst schreiben, v. a. jenen über die nachexilische Zeit. Ob und wie die sehr verschiedenen Autoren der folgenden Bände bereit sind, die Destruktionen L.s kreativ in Konstruktionen umzusetzen, wird sich erst zeigen müssen: Historische Fiktionen sind keine Quellen über die erzählte Zeit, aber geistes- und mentalitätsgeschichtliche Quellen ersten Ranges über die Zeit ihrer Entstehung sind sie allemal.

L. hat einen gut lesbaren Überblick über die Vorgeschichte Israels und ihre Probleme geschrieben. Ihm sind viele Leser, gerade unter Studierenden, zu wünschen. Die Register (225-231) am Ende des Buches erhöhen seine Benutzbarkeit.

Kleine Auswahl nennenswerter Versehen: Hekataios statt Hechataios (217, 226); Hattuschili statt Hattuschilisch (133, 159); 19. statt 18. (86, Z. 35).