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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1096–1099

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Reinhard, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die fundamentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit der Geschichte.

Verlag:

Freiburg: Rombach 1995. 325 S. gr.8° = Rombach Wissenschaft, Reihe Historiae, 7. DM 62,­. ISBN 3-7930-9125-2.

Rezensent:

Horst Bürkle

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die unter dem Thema "Kollektive Identität und Geschichte" 1993 durch die Breuninger Stiftung in Titisee veranstaltet wurde. In seiner ausführlichen Einleitung erläutert der Herausgeber den in den Titel eingegangenen Begriff "fundamentalistische Revolution".

Die von Hause aus bestimmten Richtungen des nordamerikanischen Protestantismus eigene Bezeichnung des Fundamentalistischen wird hier in einer neuen, erweiterten und nicht mehr spezifischen Weise verwendet. Sie findet Anwendung auf höchst unterschiedliche Bewegungen in der Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Sie sind separatistisch und sie begründen ihre Identität in der Partikularität durch ihre Differenz. Was in früheren Zeiten sich auf das Selbstverständnis religiöser Sekten beschränkte, ist zu einem verbreiteten politischen Phänomen auf allen Ebenen heutiger Gesellschaften geworden. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Absage an den "auf Einheitlichkeit gerichteteten Universalismus der Neuzeit". Ausdruck desselben ist das Ziel einer Weltzivilisation mit sich gleichenden Strukturen und einer Ideologie, die auf den neuzeitlichen Nationalstaat europäischer Prägung gefolgt ist. Begleitphänomen dieser Entwicklung ist eine "postmoderne Philosophie", die den Pluralismus auf allen Ebenen in den Rang des Geistes des neuen Zeitalters erhebt. Reinhard hat diesen Hintergrund für das Entstehen der partikularistischen Bewegungen, die der Band im einzelnen vorstellt, zutreffend benannt und analysiert. "Denn das Bekenntnis zur radikalen Alterität [eine zwar verständliche, dennoch eigenwillige Begriffsbildung] geht dabei in ethnozentrische Xenophobie über, für die Kommunikationsabbruch, Assimilationsverbot, Ausgrenzung, Unterdrückung, Verfolgung des Anderen selbstverständliche Postulate werden" (10).

Gerade zu dem Zeitpunkt, da religiöser Pluralismus auch unter christlichen Theologen mehr und mehr Gefallen findet, wird hier eine nüchterne Einsicht vermittelt. In einem Klima des "everything goes" gedeihen die Treibhauseffekte von Gruppierungen, die nach neuer, separater Identität streben und diese in irgendeinem Sondergut finden. Solches Sondergut aber erhebt gleichzeitig universalen Anspruch auf das Ganze. Im vermeintlich toleranten, im Grunde jedoch indifferenten Beliebigkeitsdenken pluralistischer Spielarten drängen neue, sektiererische Absolutheitsansprüche auf den ’Markt der Möglichkeiten’. "Unter selektiver Nutzung der Vergangenheit werden die eigenen Ziele legitimiert und emotionalisiert,wobei die Aktualisierung der Historie nie zur Ruhe kommt. Kompromißlose, geradezu sektiererische Verengung auf das eigene Erbe kann so weit getrieben werden, daß korrigierende Realität ausgeblendet und nicht mehr wahrgenommen wird, so daß die eigene Gruppe mit dem Wahren, Ganzen, ja Wirklichen schlechthin identifiziert werden kann" (12).

Das ist das Interessante und Erhellende an der 47seitigen ’Einleitung’ von Wolfgang Reinhard: Die Untersuchungen und Analysen zu den in diesem Buch behandelten, oft sehr verschiedenen partikularistischen Bewegungen werden hinsichtlich der Voraussetzungen und Möglichkeiten ihres Entstehens in der gegenwärtigen Situation erklärt. Sie sind Reaktionen auf eine Entwicklung, die geschichtlich gewachsenen und in ihrer Verbindlichkeit legitimen Identitäten keinen Raum mehr gewährt. Dieser Interpretationsrahmen erlaubt es, auch noch eine Bewegung wie den Feminismus darin unterzubringen ("die in ihren radikaleren Varianten ähnliche Wege geht wie kulturelle und ethnische Authentizitätsbewegungen"). Jedenfalls werden sie mit dem Anspruch einer Gesamtdeutung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen alle in den Blick genommen: die ethischen und regionalistischen Bewegungen, die neuen sozialen und religiösen, insbesondere die quasi-religiösen Bewegungen und die traditionalistischen ("kollektives Gedächtnis"). Regional wie kulturell und religiös ist der Bogen in diesem Band weit gespannt ­ so weit, daß es eines Aufweises des inneren Zusammenhanges und eines umfassenden Erklärungsmusters bedarf, wie es der Herausgeber hier vorlegt. Ob jedoch der sie umgreifende Begriff der "fundamentalistischen Revolution" (Titel des Buches) dazu geeignet ist, muß bezweifelt werden. Der Preis dafür erscheint mir in einer unspezifischen Ausweitung des Begriffs zu bestehen. Gerechtfertigt ist er nur insoweit, als es ihr gemeinsames Ziel ist, "den modernen Staat partikularistisch zu dekonstruieren" (34). Gerade diese sie verbindende Tendenz geht über das, was sich bisher mit dem Begriff verband, weit hinaus und trifft auch nicht für alle in diesem Band aufgenommenen Teilbeiträge zu. Sie gilt es hier in der gebotenen Kürze vorzustellen.

Für die Thematik des Bandes untypisch, aber als Forschungsbeitrag von Rang ist die Untersuchung von Jan Assmann zu den Bedingungen für die Entstehung von Geschichte im alten Orient. Die Antwort auf die Frage, warum Geschichtsschreibung in Mesopotamien und nicht in Ägypten entsteht, findet Assmann in dessen zyklischem Zeitverständnis ("Wirklichkeit ... im Aspekt ihrer regelmäßigen Wiederkehr"). Das orientalische Prinzip der Geschichtsschreibung zeigt sich in den Zusammenhängen der Tatenfolge (Tun-Ergehens-Zusammenhang) und bringt eine Geschichte mit "erzählbarer Ereignisstruktur" hervor. Erst der Monotheismus Israels führt zu einem "Durchbruch in völlig neuen Größenordungen" ("Konzept der Heilsgeschichte").

Sabine Dabringhaus behandelt im Blick auf China im 19. und 20. Jh. die Rolle der ethnischen Identitäten in ihrem spannungsvollen Verhältnis zur staatlichen Zusammengehörigkeit. Unter besonderer Berücksichtigung Tibets und der Mongolei wird der geschichtliche Hintergrund erhellt, der die heute wieder auflebenden kulturellen Identitätsbestrebungen in ihrer politischen Dimension verständlich macht.

Zu den master pieces dieses Bandes muß Heinrich von Stietencrons Beitrag gerechnet werden: Die Suche nach nationaler Identität im Indien des 19. und 20. Jh.s. Dabei wird noch einmal deutlich, welche Rolle das Zusammenspiel des europäisch geprägten Nationbegriffs mit den traditionellen indischen Vorstellungen von der übergreifenden Gemeinschaft (jâti, râstrîya) gespielt hat. Die Korrespondenz von Mythos und Geschichte erklärt im "heiligen Land der Götter" im Blick auf Heute Ereignisse, die mit den geläufigen politischen Kriterien nicht zu erfassen sind.

Diese Problematik ergänzend und aktualisierend schließt sich der Beitrag von Gita Dharampal-Frick "Zwischen ’Säkularismus’ und ’Kommunalismus’ ­ Identitätsprobleme in der indischen Politik und Gesellschaft seit der Unabhängigkeit" an (besonders wertvoll die neueste Literaturübersicht zum Thema). Zwei weitere Beiträge tragen zur Relevanz des Gesamtthemas angesichts gegenwärtiger spannungsvoller und konfliktreicher Entwicklungen bei: Werner Ende über "Kollektive Identität und Geschichte in der islamischen Welt der Gegenwart" und Albert Wirz über "Geschichte und antikolonialen Nationalismus" im heutigen Afrika. Der Kolonialzeit auch noch das Identitätsbewußtsein im afrikanischen Stammesdenken anzulasten, erscheint mir bei Wirz als eine falsche und inakzeptable Hypothese. Sie ist auch kaum geeiget zur Widerlegung des bisher vorherrschenden Deutungsmusters (die afrikanischen Staaten als bloße artfremde Kunstgebilde kolonialer Interessenlagen). Wer ’Bodenberührung’ mit afrikanischen Gemeinschaften gehabt hat, kann der von John Iliffe übernommenen Behauptung nur widersprechen: "Die Europäer glaubten, daß Afrikaner in Stämmen leben, und so schufen die Afrikaner Stämme, um dazuzugehören. Um sich möglichst gut einzurichten im kolonialen Gebäude" (174).

Eine beachtenswerte Spezialstudie zur Bedeutung des Alten Ägyptens für die Geschichtsschreibung zu Afrika liefert Andreas Eckert an Hand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Werk Cheikh Anta Diops ("Wem gehört das Alte Ägypten?"). Dem wohlmeinenden Versuch, "Afrika seine Geschichte und Authentizität" zurückzugeben, stellt er nicht allein den Kanon der kritischen Forschung entgegen, sondern macht begründete eigene Einwände geltend.

An Hand der in den 50er und 60er Jahren auf Jamaika entstandenen Rastafari-Bewegung behandelt Christopher Marx die Frage nach der Rolle eines mythischen Geschichtsbildes im Blick auf eine daraus abgeleitete kollektive Identität. Ein nach Darstellung und Interpretation für das Thema des Bandes einschlägiger, interessanter Beitrag in Auseinandersetzung mit den bislang vorliegenden Forschungsergebnissen mit anhangweisem wertvollem Literaturüberblick! In regionale und thematische Nähe dazu gehört Volkmar Blums Abhandlung über "Rezente Indianerbewegungen und neue Identitäten in Lateinamerika" mit seinem aufschlußreichen Ergebnis: "Auf keinen Fall dürfen die indianischen Bewegungen als traditionelle Bewegungen verstanden werden, die von einer traditionell lebenden Bevölkerung getragen werden". Deren Organisatoren gehören vielmehr zu den Intellektuellen einer indianischen Bildungselite (268).

Peter Waldmann behandelt den "Ethnoregionalismus als Herausforderung für den Nationalstaat" an Hand verschiedener Beispiele aus dem europäischen Raum. Den Abschluß des Bandes bildet Anne Conrads kritisch gewichtender, höchst informativer Überblick über die verschiedenen Phasen der Geschichtsschreibung zu den Frauenbewegungen mit einer überzeugenden neuen Aufgabenstellung: "Nicht die ’Hälfte’ der Geschichte ist das Ziel, sondern eine ’ganze’ Geschichte, die der Vielschichtigkeit männlicher wie weiblicher Lebenszusammenhänge gerecht zu werden versucht" (325).

Ein Symposion, das seiner Gesamtthematik derart facettenreiche neue Einsichten abzugewinnen vermochte, rechtfertigt einen solchen Sammelband und macht ihn zu einer empfehlenswerten, gewinnreichen Lektüre.