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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1091–1094

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hick, John

Titel/Untertitel:

Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod. Übers. von C. Wilhelm, bearb. u. mit einem Vorwort versehen von A. Kreiner.

Verlag:

München: Diederichs 1996. 462 S. 8°. ISBN 3-424-01311-0.

Rezensent:

Wolfgang Pfüller

Wenn, wie Armin Kreiner in seinem "Vorwort zur deutschen Ausgabe" des anzuzeigenden Buches schreibt, John Hick gegenwärtig "einer der weltweit prominentesten Wortführer einer im besten Sinn des Wortes ’liberalen’ Theologie" ist (9), dann ist es um die theologische Liberalität im deutschen Sprachbereich nicht zum besten bestellt. Nicht nur wurden bislang nur sehr wenige Arbeiten H.s ins Deutsche übersetzt; auch die vorliegende Übersetzung eines seiner Hauptwerke erschien erst im Abstand von sieben Jahren. Umso mehr freilich ist dem Übersetzer, dem Bearbeiter wie dem Verlag für diese sorgfältige Ausgabe zu danken.

H. entwickelt in diesem Buch, das eine erweiterte Version seiner Gifford-Vorlesungen von 1986/87 darstellt, einen groß angelegten Interpretationsversuch der Religion ­ freilich, wie die Einleitung (15 ff.) belegt, mit charakteristischen Einschränkungen. Zunächst macht er deutlich, daß es ihm um eine "religiöse Interpretation der Religion" geht. Sodann meint er in Anbetracht der bekannten Definitionsschwierigkeiten, auf einen allgemeinen Religionsbegriff verzichten zu müssen. Im Anschluß an Wittgensteins Diskussion des Begriffs der Familienähnlichkeit plädiert H. für eine unscharfe Verwendung des Wortes Religion. "Statt einer Gruppe definierender Merkmale gibt es hier ein Netz von Ähnlichkeiten" (18). Schließlich wählt er sich aus diesem "Netz der Ähnlichkeiten" ein signifikantes Merkmal als Gegenstand seiner Reflexionen aus: den "Glaube(n) an das Transzendente", den er in den "meisten Formen von Religion" gegeben sieht (20 f.). (Insofern ist überigens der Untertitel der englischen Originalausgabe "Human Responses to the Transcendent" weitaus treffender als der vage Untertitel der deutschen Ausgabe).

In diesem Rahmen nun entfaltet H. im wesentlichen drei Gedankengänge.

1. In Teil 1 "Phänomenologisches" (33 ff.) spezifiziert er das Merkmal des Glaubens an das Transzendente im Hinblick auf die "nachaxialen Religionen". Ihnen geht es im Unterschied zu den "voraxialen Religionen" (dazu und zum Begriff der "Achsenzeit": 35 ff. 43 ff.), für die "die Erhaltung der kosmischen und gesellschaftlichen Ordnung" vorrangig ist, "um das Streben nach Erlösung bzw. Befreiung" (35). Man kann demzufolge vom "soteriologischen Charakter der nachaxialen Religionen" sprechen, den H. wie folgt prägnant zusammenfaßt: "Der allgemeine Gedanke der Erlösung/Befreiung, der in den einzelnen großen Traditionen eine jeweils unterschiedliche Form annimmt, besteht ... in der Transformation des menschlichen Daseins aus der Selbstzentriertheit zur Wirklichkeitszentriertheit" (49 f.). Die hiermit angezeigte soteriologische Struktur der großen nachaxialen religiösen Traditionen verifiziert H. in der hinduistischen, buddhistischen, christlichen, jüdischen und muslimischen Tradition (49 ff.). Des weiteren gehört zu dieser Struktur ein "kosmischer Optimismus", d. h. "eine Vision des letztlich wohlwollenden Charakters der auf uns Menschen einwirkenden Welt und eine gläubige Erwartung, daß die grenzenlos guten Möglichkeiten des Daseins letztlich Wirklichkeit werden" (71). Dabei bedeutet diese "eschatologische Dimension" des kosmischen Optimismus nicht nur einen künftigen Zustand nach dem Tode, sondern "auch ein grenzenlos besseres Dasein, das man jetzt, mitten im gegenwärtigen Leben, erreichen kann und sollte" (80).

2. In den Teilen 2 und 3 "Die religiöse Mehrdeutigkeit der Welt" (85 ff.) und "Epistemologisches" (143 ff.) rechtfertigt H. seine religiöse Interpretation der Religion. Allerdings bleibt für ihn die Welt durchaus insofern mehrdeutig, als neben der möglichen religiösen gleichermaßen eine "naturalistische" Interpretation vertretbar bleibt, eine Interpretation also, die ohne die Annahme einer transzendenten, höchsten, göttlichen Wirklichkeit (H. bevorzugt den Ausdruck "the Real", in der Übersetzung mit "das Wirkliche" wiedergegeben, vgl. 26) auskommt. Argumentiert H. in Teil 2 vor allem dahingehend, daß weder mit den herkömmlichen ontologischen, kosmologischen und teleologischen Argumenten noch unter Berufung auf Moral religiöse Erfahrung oder eine "Gesamtwahrscheinlichkeit" (R. Swinburne) ein Übergewicht für die religiöse, speziell theistische Position zu begründen ist, so liegt ihm in Teil 3 um so mehr daran, die "Rationalität des religiösen Glaubens" unter Beweis zu stellen. In diesem Zusammenhang finden sich differenzierte Reflexionen zu den verschiedenen Bedeutungsebenen der Erfahrung (physische, ethische, religiöse Ebene) sowie zur Auseinandersetzung zwischen "religiösem Realismus" und "Nicht-Realismus". H. befürwortet einen religiösen Realismus, der zwar analog zum epistemologischen "kritischen Realismus" "den subjektiven Anteil in aller Wahrnehmung" anerkennt, aber gleichwohl eine außersubjektive Realität (des Transzendenten) in der religiösen Sprache nicht nur intendiert sieht, sondern auch als berechtigt betrachtet (193 ff., 195 ff., zusammenfassend zur Auseinandersetzung: 221 ff.). Die schwerwiegende Entscheidung für den religiösen Glauben kann jedenfalls als rational gerechtfertigt gelten, wobei die Rationalität des Glaubens, für die H. im Blick auf eine theistische Position argumentiert, ebenso gut "für eine nicht-theistische Erfahrung und Überzeugung" begründet werden kann (vgl. 249, 251).

3. Wird indes die Rationalität des religiösen Glaubens nicht unterminiert durch die Vielzahl einander widersprechender Überzeugungen aus den verschiedenen religiösen Traditionen? Mit dieser Frage ist H. bei den Problemen des religiösen Pluralismus, denen er sich in den Teilen 4 und 5 seines Buches "Religiöser Pluralismus" (253 ff.) und "Kriteriologisches" (321 ff.) widmet. Seines Erachtens legt es sich nahe, die "pluralistische Hypothese" zu erkunden (vgl. 256 ff.), wonach "die großen nachaxialen Religionen verschiedene Möglichkeiten darstellen, eine höchste göttliche Wirklichkeit zu erfahren, in Begriffe zu bringen und in einer Beziehung zu ihr zu leben, wobei diese Wirklichkeit alle unsere unterschiedlichen Auffassungen von ihr transzendiert" (257).

Zu diesem Zweck werden Kants erkenntniskritische Unterscheidungen religionsphilosophisch gewendet (262 ff.), wird demgemäß das "Wirkliche an sich" vom "Wirklichen in der menschlichen Erfahrung" strikt unterschieden (257 ff.). Ist mithin das Wirkliche an sich jenseits unserer Begriffe und Vorstellungen, so läßt es sich gleichwohl als deren "Urgrund oder Quell" verstehen, insoweit "authentische phänomenale Manifestationen des Wirklichen" gegeben sind (269 f.). Authentisch aber ist eine Manifestation dann, wenn sie den soteriologischen Transformationsprozeß von der Selbst- zur Wirklichkeitszentriertheit zum Ausdruck bringt bzw. ­ wie H. etwas vager formuliert ­ "in einem soteriologischen Zusammenhang mit dem Wirklichen steht" (271). Und insofern sowohl personale wie impersonale Vorstellungen im Zusammenhang mit demselben soteriologischen Prozeß stehen, kann man sagen, "daß die Götter und Absoluta, die ihn bewirken, verschiedene Gegenwärtigkeitsmodi derselben höchsten transzendenten Wirklichkeit sind" (302, vgl. 301). ­ Bleiben noch die Fragen, ob aus der pluralistischen Hypothese uferloser Relativismus folgt und wie die "widersprüchlichen Wahrheitsansprüche" der religiösen Traditionen aus pluralistischer Sicht zu beurteilen sind. Ersteres ist nach H. keineswegs der Fall. Zunächst gilt das soteriologische Kriterium als grundlegend für die Beurteilung der nachaxialen Religionen. "Der Wert religiöser Traditionen und ihrer verschiedenen Elemente ... bemißt sich daran, ob sie die erlösende Transformation fördern oder behindern" (323). Und zum anderen gilt als ethisches Kriterium die Goldene Regel bzw. Agapé/Karuna, die ja den großen religiösen Traditionen ohnehin gemeinsam sind (333 ff., 340 ff., 348 ff.). Freilich, weder das soteriologische noch das ethische Kriterium ermöglichen eine Rangordnung der großen religiösen Traditionen im ganzen (331 ff., 350). Wohl aber erlauben sie eine Beurteilung einzelner Überzeugungen und Praktiken (323 ff., 355 ff).

Was schließlich die "widersprüchlichen Wahrheitsansprüche" betrifft, so erweisen sie sich zum einen insoweit als Scheinwidersprüche, als der "mythologische Charakter religiösen Denkens" verkannt wird (379 ff.); zum anderen lassen sich Widersprüche in historischen Fragen zwar prinzipiell faktisch, jedoch des öfteren nicht historisch klären und sind darüber hinaus soteriologisch kaum relevant (389 ff.), wie auch Widersprüche hinsichtlich transhistorischer Fragen kaum zu lösen und letztlich ebensowenig soteriologisch relevant sind (392 ff.). Insgesamt ist daher festzustellen, daß die pluralistische Hypothese auch das Problem der widersprüchlichen Wahrheitsansprüche der verschiedenen religiösen Traditionen zu bewältigen vermag (402-404).

H.s Buch ist ein großartiger religionsphilosophischer Entwurf. Auf der Basis immenser natur-, human- und vor allem religionswissenschaftlicher, selbstredend auch philosophischer und theologischer Kenntnisse werden auf der einen Seite die herkömmlichen religionsphilosophischen Hauptfragen nach "Wesen und Wahrheit der Religion" in origineller, kreativer Weise erörtert. Sind schon hier die großen nachaxialen religiösen Traditionen beständig gegenwärtig, so treten sie hinsichtlich der Probleme des religiösen Pluralismus um so mehr in den Vordergrund. Denn auf der anderen Seite zeichnet es H.s Position aus, daß er die Pluralität der religiösen Traditionen vor allem darin ernst nimmt, daß er sie nicht christlich präjudiziert. Insoweit ist seine pluralistische Hypothese meines Erachtens auf jeden Fall überzeugend.

Freilich werfen H.s Reflexionen, die im übrigen flüssig, ohne nebulöse (vermeintliche) Tiefe, dabei streng argumentativ und ohne unnötigen gelehrten Ballast vorgetragen werden, auch eine ganze Reihe von Fragen auf. Ich kann hier nur zwei ansprechen. 1. Es ist sicher akzeptabel, daß H. seine Überlegungen, besonders in den Teilen 1, 4 und 5, auf die großen nachaxialen religiösen Traditionen einschränkt und überdies die chinesischen Religionen, vornehmlich die konfuzianische Tradition, weitgehend vernachlässigt (vgl. 11). Fraglich ist aber nicht nur, ob er angesichts der konfuzianischen Tradition seine soteriologische Charakteristik der nachaxialen Religionen hätte unangefochten durchhalten können. Fraglich ist noch mehr, ob H. gut beraten ist, einerseits auf einen scharfen Religionsbegriff zu verzichten, um andererseits die ungeheuer differenzierten großen religiösen Traditionen auf einen gemeinsamen (soteriologischen) Nenner zu bringen. 2. Die strikte Unterscheidung zwischen dem "Wirklichen an sich und in der menschlichen Erfahrung" ist gewiß in ihrer erkenntniskritischen Intention berechtigt: Keine der religiösen Traditionen kann begründet endgültige Wahrheit für sich beanspruchen; ihre Pluralität darf von keiner einzelnen Tradition her präjudiziert werden. Fraglich jedoch ist, ob das Wirkliche an sich zu einem Bestandteil des soteriologischen Kriteriums gemacht werden darf. Woher also will H. wissen, daß es sich um eine Transformation von der Selbst- zur Wirklichkeitszentriertheit handelt, wenn doch das Wirkliche an sich nicht erkennbar ist? Wenn es sich aber um eine Transformation zum Wirklichen in der menschlichen Erfahrung handelt, woher soll dann erkennbar werden, ob diese verschiedenen göttlichen Wirklichkeiten in der Tat authentische Manifestationen des Wirklichen sind?

Diese kritischen Fragen, die vornehmlich das Defizit des soteriologischen Kriteriums und darüber hinaus den Diskussionsbedarf hinsichtlich der Kriterienfrage überhaupt erhellen sollten, schmälern nicht die Bedeutung dieses Entwurfs. Wünschenswert wäre eine Übersetzung der 1993 unter dem Titel "The Metaphor of God Incarnate" erschienenen bedeutsamen christologischen Reflexionen H.s.