Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1999

Spalte:

441–443

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Möhring-Hesse, Matthias

Titel/Untertitel:

Theozentrik, Sittlichkeit und Moralität christlicher Glaubenspraxis. Theologische Rekonstruktionen.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 1997. 532 S. gr.8 = Studien zur theologischen Ethik, 75. Kart. DM 110,-. ISBN 3-7278-1095-5.

Rezensent:

Martin Honecker

Die weitausgreifende, umfassend angelegte, belesene und informierte Dissertation des katholischen Theologen M. Möhring-Hesse an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt will durch eine theologische Grundlegung der christlichen Gesellschaftsethik eine offensichtliche Kluft zwischen rationaler Moralität und Glaubenspraxis überbrücken.

Die katholische Soziallehre beruft sich nämlich traditionellerweise auf ein neuscholastisch, metaphysisch begründetes Naturrechtsdenken, die "autonome Moral" stützt sich gegen lehramtliche Autorität auf rationale Evidenz. Theologische Argumente stehen in der Regel beziehungslos daneben. Das Programm einer "theologischen Rekonstruktion christlicher Glaubenspraxis" will hingegen eine Synthese von Glaube und Ethos konstruktiv aufzeigen.

Die 5 Kapitel behandeln: 1. "Handlungs- und ethostheoretische Vorüberlegungen" (37 ff.). Hier geht es um eine vortheologische Klärung des Handlungs- und Ethosbegriffs. 2. "Theozentrische Selbstbestimmung" (83 ff.). In diesem Kapitel werden Glaube als eschatologische Antizipation, Bekennen, Christologie und Eschatologie im Überblick referierend und kommentierend dargestellt. Das 3. Kapitel "Sittliche Orientierung" handelt gesondert vom Glauben in der Nachfolge Jesu. Denn christliche Glaubenspraxis in der Nachfolge Jesu ist der Inbegriff eines christlichen Ethos. Dieses christliche Ethos wird freilich stets in "kommunitärer Partikularität" gelebt. Das 4. Kapitel "Eine Auslegung des christlichen Ethos im Lebensentwurf der Gottesherrschaft" (327 ff.) ergänzt und vertieft durch die Darstellung der Gottesherrschaft als sittlichem Lebensentwurf und betont die Politische Relevanz der Gottesherrschaft. Das 5. Kapitel "Moralische Legitimation: Glauben als gerechte Praxis" (390 ff.) reflektiert den Gedanken des Gerechten und will Moralität als "innere" Eigenschaft von Glaubenspraxis erweisen. Das Ziel der Arbeit ist eine Integration von Ethik, Moralität und Glaube. Auf dem Weg zu diesem Ziel wird sehr viel Material zusammengetragen und referiert. Dabei werden die philosophische Handlungstheorie, die Diskurstheorie von Apel und Habermas, sozialwissenschaftliche Analysen zu Modernisierung und Pluralisierung der Gesellschaft kombiniert mit exegetischen Auslegungen zu Nachfolge und Reich Gottes (z. B. Schnackenburg, Lohfink, Helmut Merklein, 345) und mit theologischen Entwürfen z. B. K. Rahner, Schillebeeckx’ Christologie, J. B. Metz Politischer Theologie, L. Boffs Befreiungstheologie, I. U. Dalferths Auseinandersetzung mit der analytischen Religionsphilosophie und Theologie u. a. mehr. Der Aufwand an Darstellung und Rückbezügen auf Theorien ist also erheblich, die Belesenheit und der Kenntnisreichtum des Vfs. beachtlich und staunenswert.

Entspricht jedoch der Ertrag dem Aufwand? Kurios wirkt bereits der Wechsel von männlicher und weiblicher Redeform; um die Inklusivität immer wieder in Erinnerung zu rufen, wird gelegentlich in ganzen Absätzen nur von Christinnen, Theologinnen, Akteurinnen geschrieben, in anderen hingegen von Christen, Theologen, Akteuren (vgl. 15 Anm. 1). Ob dieser Wechsel die sprachliche Diskriminierung von Frauen vermeidet? Unscharf ist außerdem der Leitbegriff "Theozentrik": Gemeint ist die Mittelpunktstellung Gottes. Was ist aber der Gegenbegriff zu Theozentrik- Anthropozentrik, Christozentrik, Ekklesiozentrik? Und wie wirkt sich die Mittelpunktstellung Gottes konkret aus? Meint sie Theokratie - eine bestimmte Herrschaftsform (im Gegensatz zur Hierokratie, Priesterherrschaft), oder meint sie Theonomie, Gottesgesetzlichkeit, die Rückbindung allen sittlichen Handelns an den Willen Gottes (im Gegensatz zur Autonomie), oder meint sie vielleicht sogar Theosoterik, eine Gott allein zu verdankende Erlösung und Befreiung? Der programmatische Leitbegriff Theozentrik klärt die Frage nach der Art und Weise des Handelns Gottes, nach dem opus dei, im Unterschied zum menschlichen Handeln, dem opus hominis gerade nicht. Auch sonst klingt manches recht kryptisch: Als Beispiel seien genannt: "Im Bekenntnis ihres Glaubens offenbaren Christen ihre theozentrische Selbstbestimmung, bestimmen sich also ausdrücklich vor sich und anderen als Christen" (115). Was heißt hier "offenbaren", "Selbstbestimmung", "theozentrisch"? Oder: Der christliche Geschichtsentwurf ist "eschatologisch dimensioniert..." (121); Gottes Tat sei "eschatisch". "Die Chiffre ’Gott’ fungiert also als ein rigider Designator" - unter Zitation von Kripke (141). "Im Bekennen spezifizieren sich Christinnen als Personen im Horizont des eschatologischen Geschichtsentwurfs." (207 - was heißt "spezifizieren", und sind Menschen nicht als Geschöpfe schon Person?). "Durch ihr Glaubensbekenntnis offenbaren Christinnen, daß sie sich selbst im Horizont der christlichen Eschatologie bestimmen (theozentrische Selbstbestimmung)" (207). Das erhoffte Heil Gottes folgt "einer sakramentalen Logik und ist somit das Ziel in ihren Zielen" (218). Jesus Christus ist "Grundfigur heilsamen Lebens" (218). Jesus "projektierte" nicht, anders als die Zeloten, den Aufstand Israels gegen die römische Besatzungsmacht (279); deshalb müssen auch Christen an "konfliktiv- und kompromißbezogenen Auseinandersetzungen" teilnehmen (285). "Sofern Christen ihr eigenes Leben unter die Herrschaft Gottes stellen, setzen sie zuvorderst sich selbst unter eschatologischen Druck, sich als diejenigen Personen zu verwirklichen, die an der Herrschaft Gottes inmitten ihrer Geschichte teilnehmen" (384, die Formulierung, "sich unter eschatologischen Druck" setzen, ist aufschlußreich). Christen dürfen "geschichtliche Sachverhalte theologal als Antizipationen des zukommenden Heils Gottes deuten" (391). Genug der Kostproben von Sprachstil und Argumentation.

Am Ende kehrt die Arbeit zum Anfang zurück, nachdem sie christliche Glaubenspraxis "rekonstruiert" hat, z. B. 268 ff.: "Nachfolge als Kurzformel christlicher Sittlichkeit" oder auch eine "Rekonstruktion des Bekennens als ausdrücklichen Vollzug theozentrischer Selbstbestimmung" vorlegte mit dem Ziel eines Aufweises "theologaler Bedeutsamkeit der universalen Moral im Kontext der christlichen Eschatologie 479, vgl. insgesamt die letzten 4 Seiten "Theologale Bedeutsamkeit moralischer Normen" (479-482).

Das Fazit wirkt nach all den begrifflichen Anstrengungen wenig profiliert. Der nicht theologisch spezialisierte Christ wird allenfalls zur Kenntnis nehmen, wie schwierig, komplex und sprachlich anspruchsvoll inzwischen das Verständnis christlichen Glaubens geworden ist und welcher schwierigen "Rekonstruktionen", "Sicherungsarbeiten" es bedarf, um überhaupt Glaubensaussagen zu gewinnen. Zu diesem Eindruck trägt neben dogmatischer Fachterminologie auch ein sozial- und humanwissenschaftlicher Jargon bei. Reformatorisch geprägte Ethik wird inhaltlich nur teilweise diesem Entwurf folgen können. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, von Glaube und Werken, von Person und Werk liegt ihm fern. Im Anschluß auf J. B. Metz wird vielmehr das Handeln der Christen "aus Praxis der Nachfolge" so gekennzeichnet: Christliches Handeln ist "nicht eine Zutat zum Glauben ... oder auch nur eine moralische Konsequenz aus dem Glauben, sondern eben - Glaube" (83). Von der "Mitwirkung am Heil Gottes" (128 ff.) ist unbefangen die Rede. Die reformatorische Unterscheidung von Rechtfertigung "sola gratia", "sola fide" als Werk Gottes (opus Dei) und menschlichem Handeln, sittlicher Praxis und politischer Verantwortung als menschliche Aufgabe (opus hominis) müßte der hier vorgelegten Synthese, der Verschmelzung von Gegensätzen widersprechen und dagegen auf die Notwendigkeit von Fundamentalunterscheidungen aufmerksam machen und bestehen.