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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

551-554

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Illian, Christian

Titel/Untertitel:

Der Evangelische Arbeitsdienst. Krisenprojekt zwischen Weimarer Demokratie und NS-Diktatur. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialen Protestantismus.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. 595 S. gr.8° = Religiöse Kulturen der Moderne, 12. Geb. EUR 49,95. ISBN 3-579-02613-5.

Rezensent:

Siegfried Hermle

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kaiser, Jochen-Christoph [Hrsg.]: Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie 1939–45. Stuttgart: Kohlhammer 2005. 464 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, 32. Kart. EUR 22,00. ISBN 3-17-018347-8.


Als Ende der 1990er Jahre im Zusammenhang der Diskussion um Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter deutlich wurde, dass solche auch in der Kirche und ihrer Diakonie eingesetzt waren, sah sich die kirchliche Zeitgeschichte mit einem Thema konfrontiert, das bis dahin nicht im Blick war. Der Verdacht freilich – so Jochen-Christoph Kaiser in seiner Einleitung –, dieses Thema sei »bewusst verdeckt worden«,könne kaum bestätigt werden, vielmehr seien die »hochproblematische Quellenlage« und auch das »fehlende Bewusstsein der Zeit­genossen« Ursache für dieses Versäumnis (17). Nach einem Pi­lot­projekt für Nordelbien gaben die EKD und das Diakonisches Werk dem Marburger Kirchenhistoriker den Auftrag, in einem Forschungsprojekt »eine möglichst umfassende historische Untersuchung« (21) der Zwangsarbeit im Raum der Kirche anzugehen; große diakonische Einrichtungen und einige Landeskirchen regten eigene Forschungsarbeiten an. Insgesamt wurden in zwei Dritteln der Landeskirchen Untersuchungen durchgeführt und die bisherigen Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass im Raum der evangelischen Kirche wohl unter einem Promille der im Deutschen Reich eingesetzten Zwangsarbeitskräfte (insgesamt ca. 12 Millionen) be­schäftigt waren.
Der Sammelband bietet eingangs einen informativen Grundlagenbeitrag von Hans-Walter Schmuhl, der den historisch-politischen Kontext vor Augen stellt und eine erste Auswertung der nachfolgenden Einzelstudien vornimmt. Von den vier Personengruppen, die in Deutschland zur Arbeit gezwungen waren – ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und deutsche sowie europäische Juden – kamen, so Schmuhl, vor allem Personen aus den ersten beiden Gruppen in kirchlich-diakonischen Einrichtungen zum Einsatz. Ausnahmslos sahen sich diese Menschen mit einem »umfassenden Kontroll- und Repressionsapparat« konfrontiert und wurden in ein »abgestufte(s) System rassischer Diskriminierung« gezwängt (35). Da infolge der Mobilmachung – im Juni 1941 waren 6,6 Millionen Männer eingezogen – auch in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen Arbeitskräfte fehlten, konnte nur das System der Zwangsarbeit die dringend benötigten Kräfte liefern. In der Kirche seien vornehmlich »Westarbeiter« eingesetzt worden und diese fanden als Einzelpersonen oder in kleinen Gruppen vor allem in der Land-, Garten-, Forst- und Hauswirtschaft Verwendung. Offensichtlich hatten die Zwangsarbeiter in kirchlichen Einrichtungen keinen Hunger zu leiden, doch blieben die Versorgung mit Kleidung und Schuhen sowie die medizinische Fürsorge problematisch. Auch die religiöse Betreuung ge­staltete sich schwierig. Die von den Behörden geforderte »soziale Segregation« wurde in den kirchlich-diakonischen Einrichtungen häufig »in der Praxis stillschweigend unterlaufen« (82). Kirche und Diakonie – so Schmuhl in seinem Resümee – waren Teil des nationalsozialistischen Zwangssystems; sie »machten sich mitschuldig daran, dass Menschen in dieser Maschinerie zugrunde gingen« (88).
In den folgenden 20 Beiträgen werden die Vorgänge in einzelnen Landeskirchen und in großen diakonischen Einrichtungen untersucht. Eine Studie widmet sich der »medizinische(n) Versorgung von Zwangsarbeitskräften in den Diakonie-Anstalten Bad Kreuznach« (Ulrike Winkler), wo die Diakonissen immerhin die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verhindern konnten; eine weitere nimmt das Thema »Wandererfürsorge und Fremdarbeitereinsatz« (Jan Cantow) in den Blick. Hans-Walter Schmuhl beleuchtet in drei Aufsätzen den Zwangsarbeitereinsatz in Nordelbien, Mecklenburg und Pommern, Ulrike Winkler untersucht die Verhältnisse in Sachsen, der schlesischen Oberlausitz und in Thüringen. Westfalen wird von Jens Murken bearbeitet, Uwe Kaminsky bietet eine Zusammenfassung seiner glänzenden Studien über das Rheinland, Lorenz Wilkens berichtet über Berlin und Brandenburg und Dirk Richhardt über Hessen. Die süddeutschen Landeskirchen sind von Annette Schäfer (Baden), Claudius Fabian (Pfalz) und Inga Bing-von Häfen (Bayern und Württemberg) bearbeitet. Großen diakonischen Einrichtungen sind vier Studien gewidmet: Matthias Benad stellt eindruckvoll die »Zwangsarbeit in den v .Bo­delschwinghschen Anstalten Bethel« vor, Helmut Bräutigam be­leuchtet die »Fremd- und Zwangsarbeit im Evangelischen Johannesstift« Berlin, Jan Cantow berichtet über »Ausländereinsatz in den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal« und Matthias Honold er­innert an die Situation der »Fremdarbeiter und Kriegsgefangene(n) in der Diakonissenanstalt Neuendettelsau«.
Hatten im Geleitwort der Ratsvorsitzende Bischof Huber und der Präsident des Diakonischen Werkes Pfarrer Gohde drei Ebenen – Nachforschung, Entschädigung, Begegnung – benannt, auf denen die Kirche gefordert sei, so nimmt Klaus-Dieter Kaiser in seinem abschließenden Beitrag den letzten Punkt auf. Neben dem Hinweis auf die Impulse der evangelischen Kirche für eine angemessene Entschädigung der Zwangsarbeiter und den finanziellen Beitrag der Kirche an der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« stellt er den Aspekt »Versöhnung und Begegnung« als Teil des kirchlichen Gesamtkonzepts heraus. Die evangelische Kirche und ihre Diakonie bekenne sich dazu, in die Unrechtsstrukturen eingebunden gewesen zu sein, und wolle daher ihren Teil zur notwendigen Erinnerungsarbeit beitragen. Hierzu gehören materielle Hilfe ebenso wie »die persönliche Begegnung mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern« und die »Bildungsarbeit mit den nachfolgenden Generationen« (453).
Der anzuzeigende Titel bietet einen instruktiven Einblick in ein lange vergessenes Thema kirchlicher Zeitgeschichte; neben solider Grundinformation wird in den Einzelstudien eine Fülle von Informationen gegeben. Der Band bietet den von Kaiser in seiner Einführung avisierten »repräsentativen Querschnitt« und sollte zu weiteren Forschungen anregen.
Auch Christian Illian nimmt in seiner Dissertation ein weitgehend vergessenes Thema auf: Er untersucht – primär anhand von archivarischen Quellen und zeitgenössischen Kleinschriften – den »Evangelischen Arbeitsdienst«. Er zeigt in seiner detailreichen Studie, dass der 1931 durch die Regierung Brüning eingerichtete Freiwillige Arbeitsdienst (FAD) an Vorläufer im evangelischen Bereich anknüpfte – Betheler Umschulungsmaßnahmen, Spandauer und Schlesische Arbeitslager. An seiner gesetzlichen Installation waren Personen beteiligt, die durch das sozialkonservative protestantische Milieu geprägt waren.
Die Freiwilligkeit dieses Dienstes – andere Gruppen setzten auf Grund einer nationalpolischen Zielsetzung auf eine Arbeitspflicht– geht auf das von I. näher beleuchtete Netzwerk des Sozialen Protes­tantismus zurück und hier insbesondere auf die Volkskonservativen. Die Protagonisten aus deren Umfeld sahen im FAD eine Möglichkeit, die schädlichen Folgen der Erwerbslosigkeit zu mindern; wirtschaftspolitische Überlegungen spielten in diesem Kreis eine untergeordnete Rolle. Staatspolitische Erwägungen standen zwar nicht im Vordergrund, doch sah man im FAD durchaus auch ein Mittel gegen die Radikalisierung und Verrohung der Jugend. Im Blick auf die Erwartungen speziell evangelischer Organisationen verweist I. auf die im Sozialen Protestantismus vorgegebene Tradition, soziale Hilfe mit Missionstätigkeit zu verbinden. Schnell entwickelte sich der FAD zu einem »Erfolgsmodell«, im Dezember 1932 gab es bereits 28 6000 Arbeitswillige. Zahlreiche Organisationen – darunter der Jungdeutsche Orden und der Stahlhelm – führten Lager durch, die bei einem geordneten Tagesablauf eine regelmäßige Tätigkeit boten und den Jugendlichen sozialen Halt gewährten; kirchliche Träger legten zudem Wert darauf, dass im Lageralltag in die Prinzipien christlicher Lebensführung eingeführt wurde. Bald nach der gesetzlichen Grundlegung des FAD schlossen sich fast alle im FAD engagierten evangelischen Organisationen zusammen. Diese Plattform diente der Abstimmung in organisatorischen Fragen, der Koordination im Blick auf die mit dem Staat zu verhandelnden Punkte – Finanzen! – und der Verständigung hinsichtlich des anzubietenden Unterrichts.
Als der FAD unter Reichskanzler Papen eine neue gesetzliche Grundlage erhielt, intervenierte der evangelische Dachverband zu Gunsten der Freiwilligkeit des Arbeitsdienstes gegen die von rechten Organisationen propagierte Arbeitspflicht. In einem abschließenden Kapitel untersucht I. die Usurpation des Arbeitsdienstes durch den Nationalsozialismus; binnen kürzester Zeit waren alle im FAD engagierten Organisationen ausgeschaltet. Der Nationalsozialismus habe den Arbeitsdienst erst recht spät in den Blick genommen, allerdings setzte dann Konstantin Hierl entschieden auf die Arbeitspflicht und vermochte diese schließlich 1935 mit der Einrichtung des Reichsarbeitsdienstes (RAD) durchzusetzen. Un­ter nationalsozialistischem Vorzeichen diente der Arbeitsdienst der militärischen Ausbildung der Jugend und der Indoktrination – insbesondere wurde der Rassenideologie der Boden bereitet –; kirchliche Einflussnahmen wurden verboten. Knapp wird im Übrigen auch der weibliche Arbeitsdienst thematisiert. Obgleich die Initiatoren beider Projekte, FAD und RAD, mit dem Ersten Weltkrieg einen gemeinsamen Erfahrungsraum hatten, seien doch ihre »Erwartungshorizonte« gänzlich verschieden gewesen: »Die im FAD anvisierte soldatische Kameradschaft zielte auf die innere Be­friedung der deutschen Gesellschaft ab. Die Formung der ›Soldaten der Arbeit‹ (Konstantin Hierl) im RAD war dagegen als Teil der Mobilmachung der deutschen Gesellschaft für den Krieg angelegt.« (528)
Leider fehlt dem Buch ein Personen- und Sachregister.
Der lesenswerten Studie von I. hätten zwar angesichts einiger Redundanzen weitere Kürzungen gut getan, doch mit ihren auch die politische Situation skizzierenden Passagen bietet sie einen spannenden Einblick in ein bislang kaum beachtetes Aktionsfeld des Sozialen Protestantismus am Ende der Weimarer Republik und die Auflösung der »Netzwerke« infolge der nationalsozialistischen Machtergreifung.