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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

542-546

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Schnabel, Eckhard J.

Titel/Untertitel:

Urchristliche Mission.

Verlag:

Wuppertal: Brock­haus 2002. XXXII, 1806 S. m. 42 Abb. Ktn. 8°. Geb. EUR 59,00. ISBN 3-417-29475-4.

Rezensent:

Hans Kvalbein

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schnabel, Eckhard J.: Early Christian Mission. 2 Vols. Downers Grove-Leicester: InterVarsity Press (Apollos) 2004. Vol. 1: Jesus and the Twelve. XXII, 913 S. Vol. 2: Paul and the Early Church. S. 914–1928 m. Abb. gr.8°. Lw. £ 59,99. ISBN 1-84474-990-8.


Im Vorwort zur deutschen Ausgabe 2002 erklärt Eckhard J. Schnabel, dass die letzte Gesamtdarstellung der urchristlichen Mission vor genau 100 Jahren erschien, nämlich Adolf von Harnacks Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (1902). Dieser Vergleich mit Harnack schafft große Erwartungen, die noch gesteigert werden in der englischen Ausgabe, die auch genau 100 Jahre nach der englischen Übersetzung von Harnacks Werk (1904) erschienen ist. Sieben von den zehn Theologen, die hier auf den Umschlagseiten Sch.s Werk empfehlen, stellen ihn als Gegenstück zu Harnack dar. Am weitesten geht Scot McKnight, der die klassische Arbeit von Harnack neben dem leichter zugänglichen Buch von Michael Green erwähnt mit der Aufforderung: »Put them away. You now have what those books wanted to be when they grew up and became mature. This work by Schnabel will face me in my study for the rest of my life.«
Nachdem ich das Buch durchgelesen habe, kann ich bestätigen, dass Sch. ein sehr bedeutungsvolles und imposantes Werk geschrieben hat. Imposant ist schon der Umfang. Die deutsche Ausgabe, in einem Band auf Bibel-Dünndruck-Papier, umfasst insgesamt über 1800 Seiten: 1527 Seiten Text, fast 40 Seiten Karten und Abbildungen, 111 Seiten sind einer umfangreichen Bibliographie gewidmet, und dazu kommen die Register über Quellentexte, geographische Namen samt Personen und Sachen, die den Wert des Buches als Nachschlagewerk sehr erhöhen. Die englische Ausgabe in zwei Bänden hat denselben Inhalt, aber mit dickerem Papier und mit noch mehr Seiten, wobei das größere Druckbild die Lesbarkeit verbessert hat. Das Werk hat Gewicht, in doppeltem Sinne!
In einer relativ kurzen Einleitung gibt Sch. Begriffserklärungen und Überlegungen zu Methode und Hermeneutik. »Mission« wird im Anschluss an neuere Arbeiten als »die Aktivität einer Glaubensgemeinschaft [bestimmt] … die darauf hinarbeitet, andere Menschen für die Glaubensinhalte und die Lebenspraxis, von deren Wahrheit und Notwendigkeit man überzeugt ist, zu gewinnen« (11). Methodisch und hermeneutisch stellt sich Sch. als »Evangelikaler« vor, in kritischer Distanz zu »traditionellen historisch-kritischen Konsenspositionen« (20). Er bekennt sich zu einer konservativen Wertung der Quellen, indem er die Abfassung der Mehrzahl der neutestamentlichen Schriften vor dem Jahr 70 n. Chr. ansetzt, die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte betont und alle 13 Paulusbriefe und die beiden Petrusbriefe als authentisch ansieht (22, vgl 33 f.).
Im ersten von den sieben Hauptteilen des Werkes werden die endzeitlichen Erwartungen Israels und die frühjüdische Expansion unter der Überschrift »Verheißung« behandelt. Im Alten Testament findet Sch. einen Durchbruch des Missionsgedankens nur im Buch Jesaja in den Aussagen über den Gottesknecht. Eine Verkündigung für die Heiden durch Boten ist nur Jes 66,19 er­wähnt. Die Tradition von der Völkerwanderung zum Zionsberg in der Endzeit enthält keine Vorstellung von einer Sendung von Israel aus und hat darum keinen Missionsgedanken im eigentlichen Sinn. Die Erwartung, dass auch Heiden oder Nichtjuden Anteil am Heil bekommen, ist weder im Alten Testament noch im Frühjudentum zentral, und eine weitere Reflexion über die Segensverheißung für die Völker in der Berufung Abrahams (Gen 12,3) ist in den Texten nicht zu finden. Mit vielen neueren Forschern bestätigt Sch., dass sich eine aktive Mission im vorchristlichen Judentum nicht nachweisen lässt. Seine breite und abgewogene Darstellung der frühjüdischen Quellen einschließlich Qumran ist sehr wertvoll.
Im zweiten Hauptteil wird »Die Mission Jesu« unter der Überschrift »Erfüllung« breit dargestellt, mit Abschnitten über gesellschaftliche Realitäten in Palästina, die Sendung Jesu an Israel, die Mission der Zwölf und die Mission der Zweiundsiebzig, Jesu Verhältnis zu den Nichtjuden und zum Schluss über den nachösterlichen Missionsbefehl des Auferstandenen. Sch. spricht von dem Missionsbefehl in Einzahl, ohne das synoptische Problem der drei Versionen in Mt 28,18–20; Lk 24,47 (mit Apg 1,8) und Joh 20,21 zu erörtern. Kann man wirklich so buchstäblich-historisch »Matt 28,16–20 an den Anfang der urchristlichen Mission« stellen (347) mit seinem Ausgangspunkt auf dem Berg in Galiläa und ganz problemlos mit der Sicht des Lukas vereinen, wo doch die Jünger in Jerusalem sind und ausdrücklich in Jerusalem bleiben und von Jerusalem aus anfangen sollen?
Im Hauptteil 3 und 4 werden die Mission der Apostel in Jerusalem und die Mission der Zwölf von Jerusalem bis an das Ende der Erde dargestellt. »Anfänge« und »Aufbruch« sind die korrespondierenden Haupttitel dieser Teile, die das Leben der Apostel und der Jerusalemer Gemeinde im Wesentlichen, wie es in Apg 1–7 und in Apg 1–11 geschildert wird, umfassen. Darüber hinaus werden auch frühchristliche Quellen und besonders die apokryphen Apostelakten im Hinblick auf die Mission der Apostel verwertet.
Der fünfte Hauptteil ist bei weitem der größte, und stellt die Mission des Apostels Paulus unter dem Stichwort »Pioniermission« dar. Nach der breiten Darstellung der Mission der anderen Apostel und nach der Betonung, dass Petrus in der Darstellung des Lukas der erste Heidenmissionar ist, wirkt dieses Stichwort nicht ganz überzeugend. Bekehrung, Berufung und Selbstverständnis des Apostels werden anhand der Berichte der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe gründlich entfaltet, und seine Mission in den verschiedenen Gebieten wird in chronologischer Ordnung dargestellt. Sch. betont die Bedeutung der Mission des Paulus vor und nach den sogenannten »drei Missionsreisen« – ein Begriff, den er übrigens mit Recht problematisiert (1384). Ein Kapitel von fast 40 Seiten ist der frühen Wirksamkeit des Apostels in Arabien, Syrien und Kilikien gewidmet, die in den Quellen nur kurz angedeutet ist. Sch. beurteilt positiv die Traditionen über eine Spanien-Reise des Paulus nach der Gefangenschaft in Rom und über seine Besuche auf Kreta und Nikopolis, bevor er den Märtyrertod in Rom unter Nero erlitt. In eigenen Kapiteln lesen wir über Paulus’ Absprachen und Konflikte mit den Jerusalemer Aposteln und seine Auseinandersetzungen mit Opponenten in Galatien und Korinth, über sein Auftreten als Missionar und über Formen und Inhalte seiner Missionspredigt, über die Organisation der Gemeinden und über die Frage, ob die paulinischen Gemeinden selbst missionarisch aktiv waren.
Der sechste Hauptteil heißt »Wachstum: Konsolidierung und Herausforderungen der Gemeinden«. Hier werden sehr kurz die Missionstheologien von Matthäus, Markus, Lukas, Johannes und Petrus dargestellt sowie Überlegungen zur Expansion und zur Verfolgung der Gemeinden gegeben.
Im siebten und letzten Hauptteil werden unter dem Stichwort »Ertrag« das Selbstverständnis der urchristlichen Missionare, die Praxis der urchristlichen Mission und die Botschaft der Mission behandelt. Die Darstellung schließt mit einem Ausblick auf unsere Zeit, mit kurzgefassten Hinweisen und kritischen Kommentaren zu bedeutenden Vertretern heutiger Missionstheologie.
Sch.s Werk ist imposant mit seiner Fülle von Beobachtungen aus den Quellen und mit seinen wesentlichen Überlegungen in Auseinandersetzung mit neueren exegetischen und bibeltheologischen Beiträgen. Vor allem ist die Information über die Geographie des Urchristentums ganz überwältigend. Das geographische Register umfasst mehr als 1000 Namen von Städten, Dörfern und Gebieten, die Paulus und die Apostel neben ihm hätten erreichen können. Das Buch ist eine wahre Schatzkammer für Archäologie und Geschichte der einzelnen Orte. Zur Vorbereitung einer Studienreise in den Fußspuren des Paulus oder der Apostel ist »Urchristliche Mission« eine unübertroffene Stoffsammlung.
Diese Stärke des Buches mag aber auch als eine Schwäche gesehen werden. Mission ist Aktivität und Bewegung, und für einen Leser, der ein genuines Interesse an Mission in diesem Sinne hat, kann die Wanderung durch die unzähligen Trümmerhaufen antiker Städte und Dörfer in Wahrheit eine Wüstenwanderung werden. Weiß ich eigentlich mehr über urchristliche Mission, wenn ich Namen und mög­liche literarische Überlieferungen und archäologische Reste von etwa 150 Ortschaften in Galiläa, 60 in Judäa und fast 100 in Samarien kenne, wo christliche Gemeinden während der Wirksamkeit der Apostel hätten entstehen können, die aber meistens in den urchristlichen Quellen keine Rolle spielen (302–307.720–724.745–749)?
Dieses Übermaß an geographischen Angaben kann m. E. eine lü­ckenhafte Behandlung zentraler missiologischer Problemstellungen nicht kompensieren. Hier kann ein Vergleich mit Harnack eine Perspektive geben. Harnack gibt einen wohlgeordneten Überblick über Faktoren, die zum Erfolg der urchristlichen Mission beigetragen haben. Er behandelt breit »Das Evangelium der Liebe und Hilfeleistung« und zeigt, wie die Hilfsbereitschaft der Christen untereinander und unter den Außenstehenden zum Wachstum der Gemeinden beigetragen hat. Dieses Thema wird bei Sch. nur nebenbei berührt, aber nie richtig behandelt. Bei der heutigen Diskussion über die Rolle der Diakonie und der sozialen Arbeit im Verhältnis zur Evangelisation ist ein solcher Mangel recht auffällig.
Harnack bietet auch wichtige Kapitel über die Rolle der Heilungen und der Exorzismen in der Mission und über »Die Religion des Geistes und der Kraft«. Sch. scheint diese Themen zu vermeiden oder nur mit großem Vorbehalt behandeln zu wollen. Die Auslegung von Mt 10,8 (294) ist auffällig kurz, obwohl Krankenheilungen usw. im Text ausdrücklich zum Missionsauftrag der Zwölf gehörten und im Auftrag der Zweiundsiebzig wiederholt werden. Zeichen und Wunder spielen in der Apostelgeschichte eine große Rolle, die bei Sch. kaum beachtet wird. Symptomatisch ist seine zurückhaltende Ausdrucksweise über die Zeichen Jesu in der Missionstheologie des Johannes: »Wunder sind in der Jüngergemeinde nicht ausgeschlossen« (1447). Bei Johannes offenbart doch Jesus gerade in den Zeichen seine Herrlichkeit, und die Wunder Jesu sind geschrieben, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist«. In der Auslegung von Apg 1,8 wird die Verheißung des Heiligen Geistes mit sieben Zeilen abgetan, während der Ausdruck »bis an das Ende der Erde« fast vier volle Seiten bekommt (366–369). Hat das geographische Interesse den Heiligen Geist verdrängt? Ich vermisse eine missiologische Wertung der Charismen, besonders der Zungenrede und der Prophetie, weil wir ja gerade zu diesen Gaben ein explizites Zeugnis (1Kor 14,24 f.) über die Anziehungskraft auf Außenstehende haben. Dem Heiligen Geist oder dem Parakleten bei Johannes wird nur eine knappe Seite in der Auslegung von Mt 10 gewidmet (299), der Geist wird im Durchgang des Missionsbefehls Joh 20,21 sehr stiefmütterlich be­handelt und im Abschnitt über die Missionstheologie des Johannes gar nicht (373.1440–1450). (Für Sch. und für die Leser wäre es wahrscheinlich viel besser gewesen, wenn die Missionsbefehle – in Mehrzahl – in Verbindung mit der Missionstheologie der einzelnen Evangelien behandelt worden wären!)
Bei Harnack ist der Sieg des Christentums als »Religion der Bürger des Weltstaates« in der konstantinischen Wende die Krönung der Entwicklung der Kirche als sittlicher Bewegung und als Vollendung des orientalisch-griechischen Synkretismus. Bei Sch.s Werk überlegt man sich, ob die konstantinische Wende umgekehrt als der große Verfall der Kirche gesehen wird. In diese Richtung deutet seine energische Abweisung der Säuglingstaufe, die in Auseinandersetzung mit Otfried Hofius gegeben wird (353 f.). Taufpraxis und Tauftheologie sind natürlich in Mission und Missiologie sehr wichtig, und ich vermisse bei Sch. eine positive Darstellung der Taufe als eines urchristlichen Initiationsritus. Seine negative Aussage, »die Taufe ist nicht das Mittel, durch das Menschen zu Jüngern gemacht werden« (353), und seine Behauptung, »dass die Taufe für Paulus offensichtlich keine Heilsbedeutung und auch keine missionsstrategische Bedeutung hatte« (1381), stehen m. E. im eklatanten Konflikt mit den behandelten Texten und überhaupt mit dem neutestamentlichen Zeugnis.
Auffällig oft wird der Auftrag der Apostel mit der Metapher »Men­schen fischen« beschrieben, die wir im Neuen Testament nur in den synoptischen Berichten über die Erstberufung der Jünger finden. Vielleicht könnte man hier eine Überlegung anstellen, warum diese Metapher in den Quellen nicht weitergeführt wird und kaum als zentral angesehen werden darf. Wenn ich als Nichtchrist im Ge­spräch mit einem Missionar das Gefühl bekomme, ein Fisch zu sein, den er in sein Netz oder an seine Angel locken will, wird mir der Weg zum Glauben nicht leicht gemacht. Im Neuen Testament sind doch die Metaphern vom Säen und Ernten wichtiger und tragfähiger als Beschreibung der Mission und hätten bei Sch. breiter entfaltet werden müssen. Ich vermisse auch eine tiefere Behandlung des Hauptbegriffes im matthäischen Missionsbefehl, »zu Jüngern machen«. »Jünger« ist doch ein ekklesiologischer Hauptbegriff in allen Evangelien und in der Apostelgeschichte. War die Kirche ursprünglich die Schule Jesu, bet-Jeschua, die für die neue Halacha (z. B. die Bergpredigt) werben sollte? Hat Paulus Aspekte dieser Auffassung im Hinblick auf Lehre und Leben (1Kor 4,17; Röm 6,17) realiter weitergeführt, ohne den Jüngerbegriff zu verwenden? Es ist doch auffällig, dass die Be­zeichnung der Kirchenglieder als »Jünger« kirchengeschichtlich verschwunden ist zu Gunsten des neuen Namens »Christen« (Apg 11,26), um erst in den letzten Jahrzehnten wieder als positive Selbstbezeichnung in den Erneuerungsbewegungen aufzutauchen, vielleicht be­sonders im englischsprachlichen Raum (make disciples, discipleship).
Schließlich vermisse ich auch eine gründlichere Behandlung des Hauptbegriffes der synoptischen Aussendungsberichte, der basileia tou theou. Wie allzu viele deutsche Theologen wechselt Sch. willkürlich zwischen der Wiedergabe »Herrschaft« und »Reich«, als ob diese Wörter synonym sind. Aber Jesus verkündigt konkret das »Reich Gottes« als den eschatologischen Heilsort, in den man hineinkommen kann oder außerhalb stehen muss, und als Gabe, die der Mensch empfangen oder erben kann. In solchen Wendungen passt die Bedeutung »Herrschaft« nicht. Gottes »Königsherrschaft« bleibt bei Gott selbst, und das Königtum Gottes ist kein Hauptthema in den Evangelien, wo es doch weit wichtiger ist, Jesus als König darzustellen (Mt 2,2; 21,5; 25,31; 27,11.37; Joh 18,37). Völlig abwegig ist in meinen Augen Sch.s temporale Deutung der basileia auf das Jahr 70 in Verbindung mit der Auslegung von Mt 10,23: »Mit der Zerstörung des Tempels ist die Zeit des Königreiches Gottes voll und ganz gekommen: die Heilswege des alten Bundes gibt es nicht mehr, der Menschensohn kommt« (302). Die Kirche hat doch auch nach 70 die urchristlichen Gebete »Komm, Herr Jesus« und »dein Reich komme« gebetet!
Mit diesen kritischen Bemerkungen möchte ich nicht den Wert der großen Arbeit von Sch. verringern. Als Übersicht über chronologische Entwicklung und geographische Verbreitung des Urchristentums wird kein Forscher in der Zukunft an seinem Werk vorbeikommen. Missionstheologisch ist es sehr inhaltsreich, weist aber Mängel auf. Urchristliche Mission ist ein großes Thema, das stets zu historischer, exegetischer und bibeltheologischer Arbeit ruft.