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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

101–103

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

P. Biehl, Chr. Bizer, R. Degen, N. Mette, F. Rickers u. F. Schweitzer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jahrbuch der Religionspädagogik. Bd. 12.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1996. 266 S. ISBN 3-7887-1596-0.

Rezensent:

Christian Grethlein

Der 12. Band ist dem Thema " Religionspädagogik seit 1945: Bilanz und Perspektiven" gewidmet. Dies ist angesichts der gegenwärtigen Diskussionslage in der Religionspädagogik, die immer noch durch geringe Reflexion der Disziplingeschichte bestimmt ist, aber zugleich vor erheblichen Veränderungen in konzeptioneller (s. den diesbezüglichen Titelaufsatz in ThLZ 1996, 10, 905-918) und personeller Hinsicht steht, ein wichtiges Vorhaben. Weil ­ wie bereits im letzten Jahrbuch ­ auch hier wieder kürzere Beiträge vorherrschen (insgesamt 14 Artikel), kann nur eine zugegebenermaßen durchaus subjektive Auswahl kurz vorgestellt werden.

Daneben finden sich folgende Beiträge: D. Röller, De eruditione magistro(a)rum (3-7), F. Rickers, Evangelische Religionspädagogik in zeitgeschichtlicher Perspektive (29-53), N. Mette, Kindheit und Jugend (115-130), M. Blasberg-Kuhnke, N. Mette, Erwachsene Frauen und Männer (131-139), F. Schweitzer, Vor neuen Herausforderungen: Bilanz und Perspektiven von Religionspädagogik als Theorie (143-160).

Ch. Bizers "Präludium: Zum Stand religionspädagogischer Theorie" (9-25) umfaßt den ganzen Bereich des angezeigten Zeitraums. In der Metapher des Kartenspiels läßt er sich sein "Blatt" durch M. Rang, E. Feifel und K. E. Nipkow geben. Durchaus eigenwillig interpretiert er Rangs Formel "Religionsunterricht als Verkündigung" als "die fachdidaktische Fassung des geisteswissenschaftlich-pädagogischen Prinzips, an ’bildenden’ Stoffen die Bewegung des schöpferischen Geistes wahrzunehmen" (13).

Bei Feifel als Schriftleiter des "Handbuchs der Religionspädagogik" moniert er ein ­ im allgemeinen Religionsbegriff grundgelegtes ­ Überspringen der konfessionellen Unterschiede, was sich spätestens im unaufgeklärten (bzw. katholischen) Kirchenbegriff zeigt; in anderer Weise meint er dies auch bei Nipkow feststellen zu können, dem er "ein vor-dialektisch-theologisches erweckliches Christentum" (24) als letztlich leitend vorwirft. Hier liegt also mit scheinbar lockerer Hand ausgestreut, tatsächlich aber präzise vom eigenen katechetischen Standpunkt aus konstruiert die durchaus angriffige und dadurch überaus anregende Skizze einer Gesamtschau der Geschichte von Religionspädagogik in den letzten fünfzig Jahren vor.

Interessant, aber im Jahrbuch nicht weiter angemerkt, ist die deutliche Gegenposition von P. Biehl in seinem ­ Bizer zugeeigneten ­ Beitrag "Didaktische Strukturen des Religionsunterrichts" (197-223). Dieser läßt nämlich bei seinem Bemühen zu zeigen, daß eine didaktische Struktur von der Konzeption, in der sie entwickelt wurde, ablösbar ist, die "Evangelische Unterweisung" schlicht weg, weil es sich hier ­ aus didaktischer Perspektive ­ nur noch um " eine rein historisch interessante Position" (201) handle. Bahnt sich hier ­ gleichsam mitten in Göttingen ­ eine Scheidung zwischen einer weithin durch die didaktische Aufgabe des schulischen Religionsunterrichts geprägten und einer sich primär ekklesiologisch bestimmenden Religionspädagogik an, die bereits in der unterschiedlichen Wahrnehmung der Disziplingeschichte begründet ist?

Sehr instruktiv ist der Beitrag von D. Knab zu "Religion im Blickfeld der Schule" (57-71). Aus dem Blickwinkel der lange schultheoretisch und -pädagogisch Tätigen plädiert sie ­ gegen das schnelle Ineinssetzen von "Religion" und "Moral" ­ für ein Ernstnehmen von Religion als eines eigenständigen Bereichs auch in der Schule. Dabei macht Knab darauf aufmerksam, daß solch eine Entscheidung das gesamte Schulkonzept betrifft. Denn "in einer Schule, die auch Erfahrungen praktischen und sozialen Handelns bietet, werden sich Lebensfragen, die sich als religiöse Fragen erweisen, eher melden als im systematischen Fachunterricht". (70 f.)

Neben diesem auf den Lernort Schule bezogenen Beitrag sind die Überlegungen von R. Degen "Religionspädagogik ­ Kirche ­ Familie" (73-89) und von M. Blasberg-Kuhnke "Gruppen, Milieus und Bewegungen" (91-111) plaziert. Hier weitet sich der Reflexionsbereich von Religionspädagogik aus auf "Orte, an denen, wenngleich oft implizit und nichtintentional, religiöses Lernen geschieht und Christsein handelnd erfahren und gelebt wird" (91). Vor allem die Hinweise von Blasberg-Kuhnke auf neue Sozialformen und deren ­ z.T. indirekte­ religionspädagogische Relevanz nehmen wichtige religionspädagogische Einsichten der letzten zehn Jahre auf, die noch keineswegs allgemein hinreichende Berücksichtigung finden und dringend der weiteren empirischen und ekklesiologischen Aufklärung bedürfen. Die Beobachtungen und Anregungen Blasberg-Kuhnkes gehören systematisch ­ auch ­ in den Bereich der neuen religionspädagogischen Unterdisziplin "Gemeindepädagogik".

H. Schröer gibt unter der Überschrift "Gemeindepädagogik wohin? Bilanz einer realen Utopie" (161-177) hierzu einen Überblick, der sich durch geduldige Rekonstruktion der z. T. recht disparaten Einzelbeiträge und zugleich die systematische Kraft des Strukturierens auszeichnet. Er präsentiert Einsichten und Anstöße, an denen künftige gemeindepädagogische Theoriebildung ­ hoffentlich ­ nicht mehr vorbeigehen kann. Chr. Scheilke versucht anschließend, einige Schneisen durch das Dickicht eines konkreten gemeindepädagogischen Handlungsfeldes, die "Evangelische Erwachsenenbildung" (179-196), zu schlagen. Daß hier sowohl theoretisch als auch praktisch für eine spezifisch gemeindepädagogische Reflexion, die sich nicht nur mit der zeitverzögerten Rezeption allgemein andragogischer Erkenntnisse zufrieden gibt, ein breites Forschungsfeld liegt, tritt deutlich hervor. Vorsichtig deutet Scheilke an, daß eine gemeindepädagogische Reflexion evangelischer Erwachsenenbildung diese weiterführen könnte.

Den Abschluß des Jahrbuchs bilden zwei Rezensionen: K. Wegenast bespricht die von H.-G. Ziebertz und W. Simon herausgegebene "Bilanz der Religionspädagogik". Er markiert dabei wichtige Anstöße. Die in manchen Beiträgen implizierte Bedeutung von Kirche für religionspädagogische Theorie und Praxis wird kritisch vermerkt. R. Englert versucht "Religionspädagogik 1995" Revue passieren zu lassen. Wichtige Titel werden genannt und kurz besprochen, wobei ­ bereits in der systematisch wenig einleuchtenden Formulierung der sechs Unterabschnitte ­ die vom Autor selbst eingangs formulierte Problematik solcher Jahresüberblicke zu Tage tritt.

Insgesamt liegt hier ein Band vor, der wieder mehr den Charakter eines Jahrbuchs trägt (vgl. die kritische Anfrage in ThLZ 121, 1996, 984). Er eröffnet wichtige und die weitere Diskussion anregende Perspektiven für die Disziplingeschichte und zugleich die Systematik der Religionspädagogik.

Der Rez. vernahm bei der Lektüre ­ aber vielleicht überinterpretiert er hier, vor allem durch Bizer, Blasberg-Kuhnke und Schröer angeregt­, die ekklesiologische Frage als eine Art Unterton bei der Bestimmung religionspädagogischer Entwicklungen, der eine genauere Thematisierung verdiente. Vielleicht könnte hier die Fortsetzung des von Nipkow in seinem Opus magnum "Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung" angeregten Gesprächs mit der kybernetischen Diskussion in Gestalt ihrer neuesten Veröffentlichungen (Breitenbach, Lindner, Roosen) weiterführen?