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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

439–441

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hüffmeier, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Evangelische Texte zur ethischen Urteilsfindung. Protestant Texts on Ethical Decision-Making. Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft hrsg. On behalf of the Executive Committee for the Leuenberg Church Fellowship.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck 1997. 82 S. 8. Kart. DM 9,80. ISBN 3-87476-319-6.

Rezensent:

Lars Thunberg

Die Lehrgespräche innerhalb der Gemeinschaft der lutherischen, reformierten und unierten Kirchen Europas, die sich in der Leuenberger Konkordie (1973) zusammengeschlossen haben, sind gemäß der Empfehlung der ersten Delegiertenkonferenz in Sigtuna (1976), zwei Themenkreisen gewidmet gewesen: Ekklesiologie, im weiten Sinne, und Ethik. Letzterer beinhaltete zwei Gebiete: die lutherische "Zwei-Reiche-Lehre" bzw. die reformierte Lehre von der Königsherrschaft Christi und die Frage des "gerechten Krieges" im Anschluß an die Formulierung des Artikels 16 der Confessio Augustana (mit der Fragestellung nach der Verantwortung der Kirchen für den Weltfrieden heute).

Zwei Lokalgruppen sind für diese Angelegenheiten verantwortlich gewesen: die Gruppe "Amsterdam" und die Gruppe "Berlin" (DDR). Eine aktualisierte Auslegung von CA 16 zur Frage des "gerechten Krieges" vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR vom Februar 1989 kam hinzu und wurde kommentiert. Gemäß dem Vorwort des Herausgebers war die übergeordnete Perspektive beider Gruppen "die Reflexion ethischen Handelns in der Welt" (also der Welt von heute, 5). Es ist wichtig, diese Bemerkung festzuhalten, wenn man die Berichte liest. Sonst würde man sich fragen, ob die ursprüngliche Thematisierung nicht zu zurückblickend gewesen sei und ob die reformatorischen Kirchen heutzutage nicht länger die adäquaten theologischen Instrumente zur Verfügung haben, um das ethische Problemfeld in einer zeitgemäßen Weise zu bewältigen.

In Bezug auf das Problem des "gerechten Krieges" wird eine solche Infragestellung natürlicherweise besonders aktuell. Dazu kehren wir an späterer Stelle zurück. Aber auch im Verhältnis zur ersten Fragestellung - "Zwei-Reiche-Lehre" contra "Königsherrschaft Christi"-Theologie - ist eine gewisse ,Altmodischkeit’ der Begriffe und Fragestellungen kritisch festzustellen. Jedoch muß unmittelbar hinzugefügt werden, daß die Texte selbst diese Probleme kritisch ansprechen. Man sagt also nicht nur, daß die beiden Begriffsgebiete einander nicht ausschließen, sich vielmehr ergänzen und überhaupt in keinerlei Weise kirchen- oder konfessionsscheidend sind oder sein mögen, sondern man sagt auch, daß die Konzepte einander behilflich sein können, eigene Fehlentwicklungen zu vermeiden: auf der einen Seite Passivität in Fragen der sozialen Gerechtigkeit (die Gefahr von einer Idee der "Eigengesetzlichkeit"), auf der anderen Seite eine theokratische Tendenz (auch die Gefahr des Besserwissens der Christen). Während das lutherische Konzept auf das zivile Autoritätssystem hinweist - aber dadurch auch, wenn es vom Gewissen handelt, individualistisch wird -, kann das reformierte Konzept zu einer (in der modernen pluralistischen Gesellschaft besonders) unberechtigten Idee der Machtinfluenz der Christen verführen.

Zu diesem Punkt ist ein Satz aus dem Schlußbericht der Gruppe "Berlin" (1980) besonders hilfreich: "Das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Glaube und Vernunft im Bereich des Ethischen ist nicht als statisches Gegenüber, sondern im Sinne einer gegenseitigen Durchdringung und Verschränkung zu beschreiben." (19, aus einem Abschnitt über "die Rolle der Vernunft für das ethische Handeln der Christen"). Die Voraussetzung ist doch, daß das ethische Handeln durch Vernunft (eine "gute Gabe Gottes", wie man sagt) qualifiziert wird, aber auch daß das Wort Gottes der Vernunft kritisch begegnet (19f.). Ihrerseits spricht die Regionalgruppe "Amsterdam" - nachdem sie die Gefahr der "Eigengesetzlichkeit" und der statischen Position des lutherischen Konzepts markiert - von einer durch Christus "befreiten Vernunft", bei der jedoch manche fragen, wie sie "erneuernde Impulse in den politischen Bereich hinein wirksam werden läßt" (13). Die Überlegungen der beiden Gruppen zu diesem Thema sind also teilweise aufschlußreich, aber die eigentliche Diskussion über die kreative Weiterführung der Konzepte einer wachsenden globalen Verantwortlichkeit aller Menschen, mit politischer und ökonomischer Macht oder Ohnmacht, in das kommende Millenium hat noch nicht begonnen.

Hinzuzufügen ist, daß in der Gruppe "Amsterdam" Repräsentanten der Kirchen der Niederlande, Großbritanniens, Irlands, Schottlands, Ungarns sowie aus Hannover, Oldenburg u.a. beteiligt waren und in der Gruppe "Berlin" Repräsentanten der Kirchen Finnlands, Frankreichs, Norwegens, Polens, Schwedens sowie aus Berlin-Brandenburg, Kurhessen- Waldeck, Westfalen, Braunschweig u. a. In der Gruppe "Amsterdam" hat sich auch eine kleinere Gruppe mit der Frage "Christsein in der Welt von heute" beschäftigt, die aus Repräsentanten der Kirchen in Holland, Großbritannien, Hessen- Nassau, Rheinland und Hannover bestand.

Wenn wir uns nun der zweiten Frage über Krieg und Frieden (auf der Basis der Formulierungen in CA 16) zuwenden, können wir beobachten, daß diese Frage hauptsächlich in Deutschland behandelt worden ist. Daß die Initiative aus der DDR stammt, ist auch nicht erstaunlich. Der Grundtext wurde vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR formuliert, danach vom Exekutivausschuß der Leuenberger Lehrgespräche beantwortet und endlich von einer Ad-hoc-Gruppe der EKU bewertet.

Die Formulierungen von CA 16 sind sehr kurz: Christen mögen "rechte Kriege führen" (im deutschen Text) bzw. iure bellare, militare (im lateinischen Text). Diese Möglichkeit/Aufgabe der Christen wird inmitten einer Reihe anderer ziviler Pflichten erwähnt, die von der legalen Obrigkeit (ob fürstlich oder kaiserlich) allen auferlegt werden. Die eigentliche Frage des "gerechten Krieges" wird also hier kaum behandelt. Aber die Formulierung wurde in den Leuenberger Gesprächen zum Anlaß genommen, Überlegungen zur Pflicht des Christen, sich für den Frieden, zumal den Weltfrieden, einzusetzen. Der erste Text sagt, daß es in einem atomare n Zeitalter nicht mehr haltbar ist, einen Krieg zu rechtfertigen und daß es heute vielmehr darum geht, wie ein Krieg verhindert werden kann.

Die Ad-hoc-Gruppe (ihre endgültige Stellungnahme wurde 1990 abgeschlossen) bekräftigte ihre Einigkeit darin, fand es jedoch notwendig, den Text der CA zu erklären (und teilweise auch zu verteidigen), indem sie sagte, daß er "dem Leitgedanken- Wahrung und Durchsetzung von Recht - voll eingeordnet" sei. Man dürfe auch lieber der lateinischen Fassung den Vorzug geben (64). In einer Umformulierung der vorgestellten und kommentierten Thesen stellt man (in einer Übersetzung des Rechtsaspektes für unsere Zeit) folgendes fest: "Nationale und internationale Rechtsordnungen sind ein zu schützendes Gut. Sie bedürfen dafür gegebenenfalls militärischer Gewalt, die Rechts- und Friedensbrechern in den Arm fallen kann." Hinzugefügt wird folgende doppelte Stellungnahme: "Daher sind sowohl der militärische Dienst als auch dessen Verweigerung Möglichkeiten des Verhaltens von Christen, insoweit beide, an der Bewahrung des Friedens orientiert, verantwortet werden" (69).

Damit ist man beinahe bei der heutigen Situation angelangt, aber nicht vollständig. Die faktische Machtfrage in einem westlich konzipierten Europa - nachdem der eiserne Vorhang gefallen ist und nur unsichtbar weiterlebt -, die nur schwer eine Erweiterung zuläßt und nur mit Mühe innerhalb ihrer eigenen Grenzen den Frieden zu bewahren vermag, wird nicht genug angesprochen. Die Kirchen müssen sich wieder, mit "Freiheit in Christus" ausgestattet, die Frage stellen, wie ihr Vermächtnis der Reformationszeit verwaltet werden kann, ohne zu sehr darauf zu achten, wie es einmal war.

Die hier besprochenen Texte sind letzten Endes also eine Aufforderung. Das können sie sein, weil die Leute, die sich damit beschäftigt haben, sich ihrer eigentlichen Aufgabe bewußt waren. Damit wird ein ausgeweitetes Bewußtsein der reformatorischen Kirchen zumindest verheißungsvoll angedeutet.