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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

478-480

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kobler-von Komorowski, Susanne, u. Heinz Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Seelsorge im Alter. Herausforderung für den Pflegealltag.

Verlag:

Hei­delberg: Universitätsverlag Winter 2005. 307 S. m. Abb. 8° = Ver­öffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg, 24. Kart. EUR 18,00. ISBN 3-8253-5017-7.

Rezensent:

Martina Blasberg-Kuhnke

Der Sammelband dokumentiert den Ersten Internationalen Kongress für Altenheimseelsorge und Sterbebegleitung, der im Frühjahr 2003 in Heidelberg unter dem Titel »Menschenwürde und Seelsorge« stattgefunden hat. Als Hauptveranstalter waren das Diakonische Werk Baden und das Diakoniewissenschaftliche Institut der Theologischen Fakultät Heidelberg verantwortlich; die Resonanz von 340 Teilnehmenden zeugt von der Bedeutung des Themas. Über die im Band versammelten Beiträge zur Tagung hinaus, die größtenteils für die Veröffentlichung überarbeitet wurden, sind weitere Aufsätze zum Themenfeld der Altenseelsorge und der Pflege alter Menschen im Heim berücksichtigt worden, die die Auseinandersetzung bereichern.
Der Band gliedert sich in fünf Schwerpunkte: Ein erster Hauptteil »Das Alter – existentielle und spirituelle Dimensionen« diskutiert die theologischen und philosophischen sowie diakoniewissenschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen der Seelsorge mit alten Menschen, bevor ein zweiter Hauptteil besondere Situationen der Seelsorge im Alter thematisiert, darunter besonders das Thema der Demenz und der Depressionen alter Menschen. Der stationären Altenhilfe und Sterbebegleitung ist der dritte Hauptteil gewidmet, wobei die Tätigkeit in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in der Hospizarbeit und auf Palliativstationen Berücksichtigung findet. Der vierte Teil sammelt Berichte aus sieben europäischen Ländern, die den Blick auf Situationen und Bedingungen der Altenseelsorge weiten. Ein kurzer fünfter Teil beinhaltet Grußworte, die anlässlich des Kongresses gehalten wurden.
Angesichts der Vielfalt der zusammengeführten Beiträge ist besonders auf das zu Grunde liegende diakonisch-theologische Grundverständnis der Altenseelsorge aufmerksam zu machen, das die Herausgeber als gemeinsamen Nenner des Sammelbands formulieren: Es geht nicht nur um die Vielfalt und eindrucksvolle Vielzahl diakonischer Einrichtungen der stationären und ambulanten Altenhilfe mit über 100000 Mitarbeiterinnen und Mitar­beitern im Feld der Altenhilfe des Diakonischen Werks der EKD; vielmehr geht es um die Qualität der als diakonisch auftretenden Praxis, die im interdisziplinären Diskurs mit den Alternswissenschaften, die sich um das vierte Lebensalter mühen, vor allem aber in der Auseinandersetzung mit der eigenen christlichen Tradition praktisch-theologisch erarbeitet werden. Diese Qualität ist in der unbedingten Orientierung an der Menschenwürde als christlicher Leitkategorie des Bildes vom Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes fundiert, ebenso in der bedingungslosen Annahme, die dem Menschen in Jesus Christus zugesagt ist, und in seiner Wahrnehmung als Einheit von Leib, Seele und Geist durch die christliche Anthropologie (vgl. 12).
Kritisch wird auf das Desiderat verwiesen, dass angesichts dieser diakonischen Grundorientierung und des nachweislich großen Engagements der evangelischen Kirche im Feld der Altenseelsorge bisher die Einrichtung von Funktionsstellen für Altenheimseelsorge in diakonischen Einrichtungen die Ausnahme geblieben ist; ebenso wie spezifische und kontinuierliche Fortbildungen für die in diesem Bereich haupt- und ehrenamtlich Tätigen derzeit noch nicht als selbstverständlich betrachtet werden können. An dieser Stelle wäre ein Blick auf die katholische Seite hilfreich gewesen, sind doch im Feld der katholischen Kirche über das TPI Mainz über viele Jahre hinweg kontinuierlich Fort- und Weiterbildungen für Seelsorger und Seelsorgerinnen in Altenpflegeeinrichtungen angeboten worden, an denen auch evangelische Seelsorger und Seelsorgerinnen teilgenommen haben.
An dieser Stelle muss insgesamt darauf verwiesen werden, dass der Band tatsächlich über Seelsorge im Alter im Kontext der Evangelischen Kirche in Deutschland spricht. Der wissenschaftliche Dis­kurs wird intern im Kontext der evangelischen Praktischen Theo­logie und in Auseinandersetzung mit den einschlägigen humanwissenschaftlichen gerontologischen Disziplinen geführt, während die Perspektive der katholischen Praktischen Theologie, die in Theorie und Praxis ebenbürtig im Feld der Altenheimseelsorge und der Seelsorge im Alter engagiert ist, im Sammelband kaum gespiegelt wird. So enthält der gesamte Band nur einen einzigen Beitrag eines katholischen Seelsorgers, den Beitrag von Erhard Weiher zur Spiritualität in der Begleitung alter und sterbender Menschen. – Das ist bedauer lich, sollten doch die Aktivitäten der Praktischen Theologie der christlichen Kirchen in Deutschland gebündelt werden, um für das Anliegen des Sammelbands, Altenseelsorge zu intensivieren und ins Bewusstsein gesellschaftlicher und kirchlicher Dringlichkeit zu rücken, alle Kräfte in Theorie und Praxis zu bündeln. Aber auch mit dieser Einschränkung bietet der Sammelband eine Fülle an Anregungen für die Arbeit mit Menschen im vierten Lebensalter.
Aus Sammelbänden einzelne Beiträge hervorzuheben, tut in der Regel den nicht genannten Beiträgen Unrecht. Hier mag es vertretbar erscheinen, die großen Hauptvorträge des Kongresses be­son­ders herauszustellen, so den faszinierenden Grundlagen­beitrag von Michael Schibilsky: »Was macht die Würde des ›alten‹ Menschen aus? Wie sprechen wir von und mit alten Menschen?« Mi­chael Schibilsky, dem der Sammelband u. a. deshalb gewidmet ist, weil er kurz vor dessen Drucklegung verstorben ist, formuliert in faszinierender Weise die Würde des alten Menschen im Horizont christlicher Anthropologie, wenn er herausstellt, Altenpflege sei der Ernstfall der Pflege, werde dabei doch nicht mit Erträgen durch mögliche Rehabilitation argumentiert, vielmehr gehe es hier um nicht mehr und nicht weniger als die Würde des Menschen, unabhängig von der persönlichen Leistung, um das Leben allein aus Gnade, um die Rechtfertigungslehre in den Kategorien evangelischer Altenpflege (28). Sein »Ethos in der Altenseelsorge« übersetzt in sieben Aspekten, was Würde im Alter konkret heißt: das Recht auf lebenslanges Lernen, die Eigenständigkeit der Lebensziele im Alter, selbstbestimmtes Lernen, die Bedeutung des Erinnerungs wissens als Ori­entierungswissen, Pflege als gesellschaftliches Ethos, die Korrekturfähigkeit gesellschaftlicher Entwicklung und die Bedeutung der Religion im Alter.
Diesem praktisch-theologischen Hauptbeitrag korrespondiert der Beitrag des Heidelberger Gerontologen Andreas Kruse »Neue Seelsorge mit alten Menschen«, der seine umfassenden gerontologischen Wissensbestände und eine Analyse gesellschaftlicher Al­ternsbilder als Voraussetzungen und Bedingungen einer »neuen Seelsorge mit alten Menschen« versteht, wobei allerdings auch Thesen zum Altern in der Gegenwartsgesellschaft aufgenommen werden, die eher die Potentiale und Ressourcen des dritten Lebensalters herausstellen, bevor Seelsorge für das vierte Lebensalter entfaltet wird. Kruses Beitrag betont vor allem die Bedeutung von Spiritualität im Alter und differenziert sie von Religion, so dass auch jene in den Blick rücken, die zunehmend skeptisch und reserviert gegenüber christlich-kirchlicher Religion eingestellt sind. Dimensionen, die bei der Erfassung von Spiritualität und Religiosität zu berücksichtigen wären, beziehen sich auf Religiosität als Intensität des Glaubens, auf spirituelle und religiöse Formen der Bewältigung von Situationen, auf spirituelles Wohlbefinden und spirituelle Bedürfnisse (vgl. 43). Die zeitgleich publizierte Bonner Studie »… selbst die Senioren sind nicht mehr die alten«, die direkt sein Thema erweitert, lag Kruse offenkundig bei der Abfassung seines Beitrags noch nicht vor; so liest sich sein Text als interessante Er­gänzung dieser großen empirischen Studie. Der dritte Hauptvortrag des Kongresses von Erhard Weiher befasst sich mit der Rolle der Spiritualität im Leben alter und sterbender Menschen und mit Formen der Auseinandersetzung in der Begegnung mit ihnen und spiegelt eindrücklich die Erfahrung mit den Innenwelten alter und sterbender Menschen, die ihr Leben, Leiden und Sterben deuten und verarbeiten. Auf diesem Hintergrund wird ein Konzept eines Lernprozesses in der Krisenverarbeitung entfaltet, das die Dimensionen Denken, Tun und Fühlen umfasst und Räume der Begegnung eröffnet im Begleiten, in der symbolischen Kommunikation und im Begehen von Lebenswirklichkeiten und -übergängen. So entsteht ein eindrückliches Profil der Seelsorge bei alten Menschen.
Die Hauptbeiträge des Kongresses hier besonders skizziert zu haben, bedeutet nicht, dass nicht gerade viele der kleinen weiteren Aufsätze faszinieren durch ein sehr genaues Hinsehen auf besondere Situationen der Seelsorge im Alter. Durchweg spiegeln die theoriefundierten Aufsätze eine intensive, oft auch bewegende und anrührende Praxiserfahrung in der pflegenden oder seelsorgerlichen Begleitung alter Menschen.
So entsteht ein Kompendium der Vielfalt und Differenziertheit, der Verschiedenheit und Pluralität von Lebenssituationen und Herausforderungen im vierten Lebensalter und ebenso der Formen und Konzeptionen des Umgangs mit ihnen. Zu dieser Vielfalt gehört auch der Blick in die europäischen Nachbarländer, wobei die Beiträge in Umfang und Gestalt und im Blick auf die behandelten Aspekte stark divergieren.
Die Herausgeber legen einen Sammelband vor, der dazu angetan ist, Seelsorge im Alter stärker in das gesellschaftliche und kirch­liche Bewusstsein zu rücken und ihm mittelfristig den Rang zu geben, der ihm aus demographischen und vor allem aus theologisch-diakonischen Gründen schon längst zukommt.