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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

468-471

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Adam, Gottfried, Hanisch, Helmut, Schmidt, Heinz, u. Renate Zitt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens.

Verlag:

Stuttgart: Calwer Verlag 2006. 398 S. m. Abb. gr.8° = Religion – Pädagogik – Ethik. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-7668-3912-8 (Calwer); 3-938356-09-X (Religion – Pädagogik – Ethik).

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Das Bildungsthema erscheint gegenwärtig auch für die Praktische Theologie von großer Bedeutung. Eine Facette davon bildet die Di­daktik »sozialen« bzw. »diakonischen Lernens«, denn die kognitive Aneignung abstrakten Wissens allein konnte noch nie genügen. Vielmehr muss Pädagogik insbesondere in ihrer religiösen bzw. theologischen Ausrichtung auch mit Erfahrung und Begegnung, in ihrer diakonischen Ausrichtung mit Gemeinschaft und Teilhabe arbeiten.
Wie nun genau »soziales Lernen« und »diakonisches Lernen« zu unterscheiden sind, und ob das im Untertitel des Bandes formulierte »diakonisch-soziale Lernen« wieder eine Addition beider oder ein Drittes ist, das muss man sich in dem Band aus verschiedenen Beiträgen zusammensuchen. So findet sich in Helmut Hanischs Grundlagenbeitrag »Diakonisch-soziales Lernen als Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung« (43 ff.) folgende Begriffsklärung: »Un­serem begrifflichen Vorverständnis liegt die These zugrunde, dass diakonisch-soziales Lernen vor allem als Persönlichkeits­ent­wick­lung zu verstehen ist, die dazu führt, junge Menschen zu befähigen, diakonisch-sozial zu handeln.« (43) Es geht nicht um Nachdenken und Wissenserwerb auf der kognitiven Ebene, auch nicht um die Höherentwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit im Sinne von Lawrence Kohlberg, sondern um Folgendes: »Unser Selbstverständnis diakonisch-sozialen Lernens besteht im Anschluss an die Parabel vom barmherzigen Samariter darin, Jugendlichen Wege zu eröffnen, im Sinne Jesu Christi zu erkennen, wie sie Personen, die ihrer Zuwendung und Hilfe bedürfen, zu Nächsten werden und ihnen qualifiziert helfen können« (44). Gottfried Adam qualifiziert in seinem Grundsatzbeitrag die Leitbegriffe des Handbuches so: »Diakonisches Lernen ist eng mit dem sozialen Lernen verwandt. Es schließt jedoch die christlich-ethische Dimension in seiner Begründung und Motivation mit ein.« (84) Er rekurriert auf die Diakonie-Denkschrift der EKD aus dem Jahre 1998, die folgendermaßen differenziert: »Im diakonischen Lernen geht es um soziale Einstellungen und christliche Orientierungen. … Der Diakonie ist beim sozialen Lernen vor allem an der geistlichen Komponente gelegen.« (84) In der Schule wird es etwa in Seminarkursen zur sozialen Ungleichheit, als Grundkurs Diakonie oder als Arbeitsgemeinschaft Soziales Netz implementiert, aber auch Kooperationsprojekte wie Blockpraktika in diakonisch-sozialen Einrichtungen oder das von der katholischen Seite entwickelte Projekt »Compassion« werden angeboten ebenso wie Sozialtage oder Kooperation von Schüler- und Obdachlosenzeitung. Doch die Möglichkeiten, diakonische und soziale Lernprozesse zu initiieren, sind damit noch lange nicht ausgeschöpft, denn sie reichen weit über den Ho­rizont der Schule und des Kinder- und Jugendalters hinaus. Dafür gibt der 400-seitige Band mit seinen drei großen Hauptteilen eine Fülle von brauchbaren theoretischen Reflexionen und praktischen Hinweisen.
Die »grundlegenden bildungstheoretischen Fragen, didaktische Konzepte und curriculare Entwürfe« (so Schmidt in seiner Einführung, 8) werden im ersten, mit »Bildung und Lernen« überschriebenen Hauptteil in acht Beiträgen (15–129) zusammengeführt. Karl Ernst Nipkow befasst sich unter dem Titel »Diakonische Bildung und biblische Mitte« mit der »Tiefengrammatik der Bildungsmetaphorik«. Dabei legt er einen Vortrag zu Grunde, den er 2003 auf dem Bildungskongress des Diakonischen Werkes der EKD in Speyer hielt und der sich in diakonischer Perspektive mit der damals gerade erschienenen Bildungsdenkschrift der EKD auseinandersetzt. Interessant an dem Beitrag sind daneben die vier Grundmuster oder Typen von Bildung, die Nipkow unter der Überschrift »Bildung biblisch neu denken« systematisiert und vergleicht: Bildung als »Formung«, als »Entfaltung« (29), als »Selbstbildung« und als »Ver­änderung durch Widerfahrnisse« (30). Der mittlerweile zu­rück­getretene Diakoniepräsident Jürgen Gohde formuliert in seinem Beitrag die »Profile diakonisch-sozialer Bildung« und skizziert diese überblicksartig für die Bereiche Kindertageseinrichtungen, Schu­len, Jugendhilfe, diakonische Einrichtungen, Ausbildung in so­zialen Berufen, Fort- und Weiterbildung. Seine These ist: »Grundlage aller Bildungsaktivitäten in der Diakonie muss ein christliches Menschenbild sein« (41). Helmut Hanisch fasst in seinem Beitrag »Diakonisches Lernen als Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung« (43 ff.). Der gemeinsame Aufsatz von Christoph Damann, Angela Knapp und Hartmut Rupp mit dem Titel »Diakonisch-soziales Lernen, Service Learning und gesellschaftliche Verantwortung« (56 ff.) lässt Grundsätzlicheres erwarten als die Darstellung des 72 Jahresstunden umfassenden »Themenorientierten Projektes Soziales En­gagement« des baden-württembergischen Realschulcurriculums für die fünfte bis zehnte Klasse. Dafür allerdings ist er sehr informativ. Silke Köser befasst sich mit dem diakonisch-sozialen Lernen »als Beitrag zur Konflikterziehung und Gewaltprävention« (69 ff.). Hier wird ein brisantes Thema unserer Tage aufgegriffen und in­formativ illustriert. Gottfried Adams Beitrag »Didaktische Kriterien und Formate diakonisch-sozialen Lernens« (80 ff.) steigt zwar mit der empirischen Auswertung des württembergischen Modellprojektes »Soziales Lernen« ein, das in den Jahren 1996 bis 1998 durchgeführt wurde, wird dann aber in seinen folgenden Teilen eher theoretisch, wenn er sich in einer Matrix den Ansatzpunkten und Themen zur gezielten Förderung des sozialen Lernens zuwendet, sich von da aus mit dem Profil des diakonisch-sozialen Lernens allgemein und spezifischer in der Schule befasst. Nah an der Praxis stellt Reinhart Gronbach das Curriculum diakonisch-sozialen Lernens für die Klassen 8 bis 13 des Evangelischen Schulzentrums Michelbach/Bilz dar – deshalb »Das Michelbacher Modell« (94 ff.). Mit der Einführung des Unterrichtsfaches »Diakonie« im Schuljahr 1996/97 und einem diakonisch-sozialen Lernbereich als Wahlpflichtbereich in 2003/04 sei »Diakonie zum Profilfach in allen drei Schularten und somit … zur inneren Klammer des Evangelischen Schulzentrums geworden« (95). Beim letzten Aufsatz des ersten Hauptteils handelt es sich wieder um einen echten Grundlagenbeitrag. Der Professor für Praktische Theologie und Caritaswissenschaft an der Fakultät für katholische Theologie der Universität Freiburg i. Br. Heinrich Pompey widmet sich einem unverzichtbar gewordenen Thema: »Solidarität und Helfen in interreligiöser Perspektive entdecken lernen« (115 ff.). Das soziale Lernen wird auf die Möglichkeiten interreligiösen Lernens erweitert und zwar zu­nächst im Blick auf die Konsens- und Lernchancen zwischen den fünf großen Weltreligionen Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus. Er zeigt dabei neben den praktischen Kooperationsmöglichkeiten – komprimiert und hilfreich – auch die kommunikationspsychologischen und pädagogischen Voraussetzungen des interreligiösen sozialen Lernens auf.
Im zweiten Hauptteil werden die »Lebenslagen und Handlungsfelder in didaktischer Perspektive« zusammengebunden. Hei­­ke Vierling-Ihrig schreibt über »Kinder und Jugendliche« (133 ff.), Barbara Städtler-Mach über »Alte Menschen« (145 ff.), Andreas Klett-Kazenwadel über »Migration/Flüchtlinge« (150 ff.), Britta von Schubert über »Menschen mit Behinderungen« (162 ff.), Frank Ziegler und Thomas Poreski über »Obdachlosigkeit und extreme Armut« (175 ff.), Roswitha Kottnik über »Hospizarbeit« (186 ff.), Konrad Maier über »Arbeitslosigkeit« (199 ff.) und Gisela Kubon-Gilke über »Grundwissen zu den sozialen Systemen in Deutschland« (214 ff.). Die Beiträge in diesem Teil sind von recht unterschiedlichem Zuschnitt und Anspruch. Einige machen eher die Lebenslagen der betreffenden Zielgruppe zum Thema, andere mehr die Lernprozesse der Menschen, die mit der betreffenden Zielgruppe umgehen. Manche Aufsätze verfolgen einen stärker politischen Ansatz, andere einen eher historisch-darstellenden. Der letzte Aufsatz dieses Hauptteils von Gisela Kubon-Gilke fällt etwas aus dem Rahmen, denn er beschreibt nicht wie die anderen ein Handlungsfeld oder eine Betroffenengruppe, sondern er führt in die sozialpolitischen Prinzipien und Systeme sozialer Sicherung in Deutschland ein. In gewisser Weise bietet er eine sozialpolitische Einführung zu dem ganzen zweiten Hauptteil, von dem aus sich die Handlungsfeldbeiträge besser lesen und verstehen lassen.
Der dritte Hauptteil umfasst eine breite Palette von »Lernarrangements und Lernorten« (235–377), die mit diakonisch-sozialem Lernen zu tun haben. Martin Sander-Gaiser befasst sich auf der Basis der religionspädagogischen Konvergenztheorie unter dem Titel »Diakonisches Lernen als Tätigkeit und Partizipation« (235 ff.) mit dem Zusammenhang von Glauben, Tun und Denken. Chris­toph Bizers Beitrag über »Wahrnehmen und Gestalten: Religiöses und diakonisches Lernen auf performativer Grundlage« gehört zusammen mit dem vorangehenden und dem letzten von Manfred Riegger mit dem Titel »Lehr- und Lernformen aus diakonisch-sozialer Perspektive« (361 ff.) zu den theoretisch ausgerichteten Beiträgen. Die anderen bemühen sich um Settings und Orte, an denen diakonisch-soziales Lernen vollzogen wird. So nimmt Christel Ruth Kaiser die »Praxis der Schulentwicklung an evangelischen Schulen« (271 ff.) am Beispiel der Melanchthon-Schule Steinatal in den Blick, deren Direktorin sie ist. Markus Wild widmet sich dem Thema »Diakonisches Lernen im Schulunterricht« (289 ff.). Die Op­tionen der Kirchengemeinde thematisiert Lars Schwesinger in seinem Beitrag »Diakonisch-soziales Lernen in der Gemeinde« (300 ff.). Rainer Starck stellt die Möglichkeiten der Konfirmandenarbeit (309 ff.) dar. Die Geschäftsführerin der Agentur mehrwert in Stuttgart Gabriele Bartsch schildert die zivilgesellschaftlichen und institutionellen Hintergründe und die Erfahrungen mit den Konzepten »Lernen in fremden Lebenswelten« und »Lernen mit Herz, Kopf und Hand« als erwachsenenpädagogische »Begegnung mit diakonischer Wirklichkeit: Das Angebot von Weiterbildungsagenturen« (320 ff.). »Soziales und diakonisches Lernen durch Schülermentorenprogramme« (327 ff.) ist der gemeinsame Beitrag von Gerhard Hess und Götz Kanzleiter überschrieben. Renate Zitt hat die Studierenden der Sozialen Arbeit mit Spezialisierung für gemeindepädagogische Felder im Fokus, wenn sie über »Berufliche Bildung und Diakonie – Horizonte und Perspektiven« (339 ff.) schreibt. Um »Diakonie in der Ausbildung von Theologen und Theo­loginnen« (353 ff.) schließlich dreht sich Martina Plieths Aufsatz. Am Ende findet man ein Literatur- und ein Autorenverzeichnis.
Das Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens bietet also zu allen wesentlichen Grundlegungs- und Praxisfragen diakonisch-sozialen Lernens Wesentliches. In ihm ist handlich zusammengebunden, was bislang nur in verstreuten Einzelpublikationen oft schwer zugänglich war. Niemand, der sich für das Thema »diakonisch-soziales Lernen« interessiert, wird an diesem Band vorbeikommen. Mit der Überschrift »Unterwegs zu einer Kultur des Helfens« ist für mein Empfinden der Fokus allerdings zu weit und unspezifisch geraten, denn diakonisches Lernen hat nicht allein und vielleicht nicht zuerst mit Helfen zu tun. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass in dem Handbuch eine explizite Kritik des Helfens fehlt, wie sie etwa bei Wolfgang Schmidbauer, Ivan Illich, Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu oder Micha Brumlik beschrieben ist. Auch eine kompakte Klärung des Begriffs »diakonisch-soziales Lernen« gleich am Anfang des Bandes und ein Stichwortverzeichnis am Ende wären hilfreich gewesen. Trotz dieser drei Einschränkungen kann der Band einem weiten Kreis interessierter Leserinnen und Leser aus Wissenschaft und Praxis nur bestens empfohlen werden.