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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

460-461

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wöhler, Hans-Ulrich

Titel/Untertitel:

Dialektik in der mittelalterlichen Phi­losophie.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2006. 242 S. gr.8° = Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 13. Geb. EUR 49,80. ISBN 3-05-004208-7.

Rezensent:

Sebastian Lalla

Dass die Dialektik vor und jenseits der Interpretation Hegels be­reits eine lange Geschichte hat, ist keine unbedingt neue Erkenntnis. Dennoch war es bislang schwierig, eine konzise Zusammenstellung dialektischen Denkens über einen Zeitraum von über 1000 Jahren zu finden. Eine solche liegt nun mit Wöhlers Darstellung zur mittelalterlichen Dialektik vor. Ausgehend von einer Skizze der antiken und spätantiken Vorgaben folgt W. chronologisch den verschiedenen Spielarten der Dialektik und zeigt dabei beispielhaft, welche Vorzüge eine Präsentation besitzt, die über einzelne Denker oder Schulen hinweg die Vielfalt des Phänomens berücksichtigt, das mit dem Begriff ›Dialektik‹ eher benannt als inhaltlich be­stimmt ist. Gleichzeitig sind angesichts der Materialfülle – und W.s textnahe Rekonstruktionen geben den historischen Positionen viel Raum – und der Komplexität philosophiesystematischer Verweisungen keine erschöpfenden Interpretationen der einzelnen Denker zu erwarten. Darin kommt W.s Ansatz gewissermaßen an seine Grenzen, denn der lobenswerte Umfang fordert seinen Preis in der interpretativen Ausdehnung, die dem jeweiligen Autor oder Problem gewidmet werden kann.
So sind die Ausführungen zu den frühmittelalterlichen Philosophen erfreulich, zumal in ihrer Anbindung an die Spätantike; und auch die weite Perspektive auf die jüdische und arabische Tradition wird dem hohen Anspruch W.s gerecht, die Breite der diskursiven Tradition wie ihrer Rezeption sichtbar zu machen. Allein, ein übergreifender, die historisch divergenten Konzeptionen auf ihre be­griffliche Einheitlichkeit oder ihre bleibende Verschiedenheit un­tersuchender, die Fülle des Gegebenen rahmender Interpretationsansatz kann zu wenig Raum greifen. W. weiß, dass die Spannbreite im Dialektikbegriff, die von einer Methode der argumentativen Darstellung und Untersuchung bis zu einer fast metaphysischen Struktur des Weltganzen reicht, auch eine Spannung erzeugt, die von der reichlichen Fülle historischer Vielfalt der Positionen nicht zusammengehalten werden kann. Der Ausweg, den W. wählt, ist elegant: Anstatt den Dialektikbegriff so weit auszudehnen, dass er semantisch leer wird, oder andererseits ihn so restriktiv zu belegen, dass nur eine bestimmte (etwa methodologische) Sicht der Dialektik als authentisch, alle anderen Erscheinungsformen aber als eigentlich defizient angesehen werden müssen, gestaltet W. den Dialektik-Pluralismus entlang der philosophischen Disziplinen.
Das Ergebnis einer solchen Differenzierung ist gleichsam ein Grundbestandteil dialektischen Vollzuges (und hieran wird deutlich, dass W. eher dazu neigt, Dialektik als eine Form des Denkens und nicht als Modus des Gedachten anzunehmen), der je unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erfährt in Abhängigkeit da­von, wo er zum Tragen kommt. So skizziert W. zum Beispiel eine naturphilosophische Dialektik (Nicole Oresme), eine geschichtsphilosophische (Otto von Freising) und eine transzendentalphilosophische (Duns Scotus).
Diese unterschiedlichen Fassungen haben gleichwohl mindestens zwei gemeinsame Faktoren, die es berechtigt erscheinen lassen, von ›Dialektik‹ zu sprechen. Zum einen sind sie im Gesamt der Wissenschaften immer zurückbezogen auf die spezifisch christliche Konnotation, als philosophische Erkenntnis nicht grundsätzlich gegen die theologische Erkenntnis stehen zu können. W. verweist anhand des Abendmahlstreites oder der latenten Pantheismusvorwürfe gegen eine naturphilosophische Dialektik im Sinne Johannes Scotus Eriugenas auf die Problematik, die sich durch die mittelalterliche Geistesgeschichte hindurchzieht und paradigmatisch in der Lehre vom ›Zusammenfallen der Gegensätze‹ des Nikolaus Cusanus gipfelt: Wie kann eine nur der Wahrheit des Erkannten verpflichtete Wissenschaft mit dem Anspruch der Theologie vereinbart werden, über das Höchste (und damit das Letzte einer autorisierenden Legitimationskette) nicht verfügen zu können?
Eine mögliche Antwort – und W.s Dialektikbegriff legt nahe, dass es die meistgewählte des Mittelalters ist – zeigt sich darin, den Status einer Gegensätzlichkeit nicht zum Hindernis, sondern zur Beförderung einer endlichen (im doppelten Sinne des Wortes) Harmonie zu erklären. So ist die Vermittlung mehrerer miteinander zunächst nicht kompatibler Aussagegehalte (der zweite Faktor) das primäre Anliegen des dialektischen Denkens. Die neuplatonische Tradition fortführend, das Seiende begrifflich einordnen zu können, ist die Auseinandersetzung mit dem Entzogensein einer immanenten Wahrheit und der Verlagerung jener Evidenz in die transzendente Offenbarung Gottes der unmittelbare Ausgangspunkt der Dialektik. W. fokussiert so eine Perspektive, die in der Abgrenzung der Dialektik von den anderen Disziplinen des Triviums oft zu kurz kommt. Er zeigt so die Verbindung der Dialektik mit der Metaphysik, mit der praktischen Philosophie, indem sie der in die Kontroverse verlagerte Ausgleich durch die Methode ist. Das sichert noch keine Erkenntnis der Wahrheit, aber es verbürgt die Möglichkeit einer wahren Erkenntnis – und W.s Darstellung gelingt es hier auch zu belegen, warum mittelalterliches Denken als dialektisches Denken (wieder) modern wirken kann. Die Unabgeschlossenheit des diskursiven Wechselns zwischen den Gegensätzen, welches Kern der Bemühung um die Wahrheit ist, nimmt beide Seiten ernst und beruft sich dabei doch auf eine Einheit, die über jene differenten Momente hinausweist.
Man muss das Mittelalter nicht modern lesen, um seiner Philosophie hohen Wert zuzumessen. W.s Darstellung überzeugt nicht zuletzt darin, selbst keine absolute Interpretation aufzustellen. In diesem Sinne lädt sie zum dialektischen Weiterdenken ein.