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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

90–93

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Essen, Georg

Titel/Untertitel:

Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit.

Verlag:

Mainz: Grünewald 1995. 487 S. 8° = Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, 9. Kart. DM 78,-. ISBN 3-7867-1835-0.

Rezensent:

Otto Merk

Die vorliegende Dissertation aus der Schule von Heinz-Günther Stobbe, Münster, wurde im Wintersemester 1993/94 angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. (Sie war abgeschlossen, bevor G. Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, 1994, erschien; vgl. S. 24 Anm. 30 und die kompetente Besprechung des Vf.s in: ThRv 90, 1994, S. 480-485). Titel wie Untertitel treffen genau das behandelte Thema: "Im Mittelpunkt meines Interesses steht die Debatte um eine angemessene Erfassung des Wirklichkeitsgehaltes und -modus des Ostergeschehens sowie der Streit um die in diesem Zusammenhang zentralen wie umstrittenen Begriffe ’Geschichte’ und ’geschichtliches Ereignis’" (19).

Nach einer einleitenden Standortbestimmung (13-28) geht der Vf. im 1. Kap. "Theologisch-hermeneutische(n) Positionen" nach (29-160); im 2. Kap. dient die "geschichtswissenschaftliche(n) Gegenstandsbestimmung" dazu, "erkenntnistheoretische und methodologische Rückfragen an die historische Wissenschaft" zu erörtern (161-294); das 3. Kap. behandelt "das christliche Auferstehungsbekenntnis" in Synthese und Konfrontation mit dem "Geltungsanspruch der Geschichtswissenschaft" (295-385), hinführend im 4. Kap. "Zur Metakritik der Geschichtswissenschaft" (386-449); zusammenfassende Abschlußbemerkungen spiegeln "das Ergebnis im Rückblick" (450-457). Präzise charakterisiert der Vf. sein Vorgehen: "Die in Kap. 1 begegnende Urteilsenthaltung findet ihre Berechtigung ... in der Argumentationsstruktur der vorliegenden Untersuchung, die sich in einem hermeneutischen Zirkel bewegt. Es sollen zunächst das Themenspektrum der historisch-kritischen Osterdiskussion sondiert und die Schwerpunkte des interdisziplinären Brückenschlags zur Historie ... herausgearbeitet werden. Die in Kap. 2 entfalteten Kategorien zur historischen Urteilsbildung werden dann in Kap. 3 zur Systematisierung der in der Osterdiskussion begegnenden Positionen herangezogen. Zudem eröffnen erst die im zweiten Teil erfolgenden Analysen zur erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlegung der Historie die Möglichkeit, die zunächst nur skizzierten Positionen nun auch begründet zu kritisieren" (26, Anm. 31).

Gemäß methodischer Grundlegung des Vfs. werden im 1. Kap. in einem breiten Durchgang in anspruchsvoller Diktion die Positionen von D. F. Strauß, R. Bultmann, A. Kolping; L. Scheffczyk; J. Moltmann; W. Pannenberg und H. Kessler entfaltet, nicht selten mit prägnanten Zuspitzungen. Da und dort könnten die expliziten und impliziten exegetisch-theologischen Voraussetzungen und Vorentscheidungen bei den vornehmlich systematischen Entwürfen der behandelten Autoren noch etwas profilierter zur Geltung kommen; bei Bultmanns Position (vgl. 35 ff.312 f.) hätte man gerne auch dessen weiterführende Sicht aus späten Lebensjahren einbezogen gesehen (vgl. WPKG 60, 1971, 432 f.). Insgesamt trifft zu, wie der Vf. in einer "Zwischenbilanz" festhält, daß der "interdisziplinäre Brückenschlag zur Historie mit unterschiedlicher Extensität und Intensität erfolgt und überdies zu einer äußerst divergenten Einschätzung der historischen Gegenstandsbestimmung und Methodik führt" (156). Dies ist für den Vf. mit der Anlaß zur "vergewissernden Rückfrage an die Historie" in Form "einer Aufarbeitung der in der geschichtswissenschaftlichen Theoriebildung erreichten Selbstreflexion", nämlich der Klärung der "Begriffe ’Geschichte’ und ’geschichtliches Ereignis’" im Blick auf die Osterdiskussion (157 f.). Diese steht allerdings zunächst überhaupt nicht im Vordergrund (doch vgl. 240 Anm. 119), das 2. Kap. ist ein in sich geschlossener Essay über historische Theoriebildung, wie der Vf. verdeutlicht:

"Es werden ­ erstens ­ geschichtstheoretische Fragen aufzugreifen sein, die in einer erkenntnistheoretischen Analyse auf die Bedingung der Möglichkeit historischer Erkenntnis reflektieren und somit dem vielschichtigen Problem der "Konstitution des historischen Gegenstandes nachgehen" (158). "Zweitens aber sind Themen aufzugreifen, die zum Gegenstand der historischen Methodologie gehören" (ebd.): In der Analyse der "Prinzipien der historischen Forschung" will der Vf. "den operativ-prozessualen Verfahrensablauf des historisch-kritischen Erkenntnisprozesses ... skizzieren", wobei er sich von der "These" leiten läßt, "daß vornehmlich dem Historismus des 19. Jahrhunderts das Verdienst der wissenschaftstheoretischen Grundlegung und Methodisierung der Geschichtswissenschaft zukommt, daß jedoch die spezifisch historistische Ausgestaltung und Formierung des Verwissenschaftlichungsprozesses zugleich die auch von den theologischen Konzepten aufgezeigten Aporien der historischen Wissenschaft hervorgebracht hat" (158 f.).

Wenn er dabei "die großen Debatten zum Thema ’Erklären und Verstehen’" auf die Diskussion in der Geschichtswissenschaft des 19. Jh.s beschränkt (159), wird der Sachverhalt für die theologische Fragestellung (bezüglich seines eigentlichen Themas) allerdings verkürzt, da in der Spätphase der deutschen Aufklärung, der ’Neologie’, diese Sachproblematik bereits erkannt und weithin aufgearbeitet wurde.

Das 2. Kap. in seiner sehr sorgfältigen Nachzeichnung der genannten Fragestellungen und erkenntnistheoretischen Probleme führt den Vf. zu Grundfragen "transzendentale(r) Historik" (205 ff.), wobei er maßgebend Ergebnisse der Forschungen von H. M. Baumgartner und J. Rüsen aufgreift (vgl. auch 226. 278):

"Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, den Status transzendentalphilosophischen Denkens präzise zu bestimmen. Dieses kann, weil es post factum geschieht, für das Geschehen nicht aufkommen, auf dessen Möglichkeitsbedingung es (nur) reflektiert. Insofern ist es auf eine vorgegebene kontingente Wirklichkeit bezogen und bewahrt zudem deren Unableitbarkeit. Transzendentales Denken ist mithin nachträgliche Reflexion, die den Konstitutionsprozeß des historischen Gegenstandes rekonstruiert, keinesfalls aber ­ so offenbar das Vorurteil ­ diesen produziert: Transzendentalphilosophie ist ’total stoffarm. Sie kann begründen, aber nicht irgendetwas. Was sie begründen will, muß ihr die Geschichte liefern’" (279; Zitat im Zitat nach H. Krings, ebd. mit Anm. 259).

Im 3. Kap. werden die im ersten Kap. angeführten Positionen unter dem "Geltungsanspruch der Geschichtswissenschaft" geprüft, wobei Wiederholungen schon dargestellter Sachverhalte der Verdeutlichung dienen und wobei sich die dem Vf. aus dem zweiten Kap. gewonnene Einsicht der "Transzendentalen Historik" implizit zur Leitlinie der Beurteilung herausbildet, um dann im eigenen Lösungsvorschlag explizit hervorzutreten (351f.). Ihm geht es auch im Verstehen der Osterüberlieferungen des Neuen Testaments um den "von transzendentalphilosophischen Geschichtstheorien vollzogenen Schritt von der materialen zur formalen Geschichtsphilosophie", wobei er "’Geschichte’ als einen transzendental konstituierten Gehalt" versteht. "Dieser Ansatz", so der Vf., "überwindet insofern die traditionelle Trennung von ’res gestae’ und ’historia rerum gestarum’, als sich Geschichte im Rahmen eines transzendentalen Wissens von ihr allererst konstituiert. In dieser Konsequenz wird ein ’Ereigniszusammenhang’ in einem reflektorischen Akt des Erkenntnissubjektes allererst hergestellt. Zwar setzt "Historie", wie schon vom Vf. als "Grundthese" der transzendentalen "Historik" aufgedeckt, "reale Ereignisse und auch Kontinuitäten voraus, doch sind diese nicht identisch mit historischen Ereignissen und Kontinuitäten". Gleichwohl sind "diese ... gleich-ursprünglich mit der retrospektiven, narrativen Organisation selbst", denn "historische Kontinuität wird im selben Sinn wie Geschichte konstruierend erzeugt" (352). Im Hinblick auf die Osterüberlieferung ergibt sich:

"Die Auferweckung Jesu selbst hat keinen raum-zeitlichen Terminus", sie entzieht "sich der empirischen Feststellbarkeit". "Historie" aber ist "ausschließlich auf Ereignisse" bezogen, "die einen raum-zeitlichen Terminus haben". "Insofern ... kann auf die Auferweckung Jesu, weil sie keinen raum-zeitlichen Terminus impliziert, die Kategorie ’geschichtliches Ereignis’ nicht angewendet werden" (379 f.). Aber, so präzisiert der Vf., "die Jesus auferweckende Tat Gottes hat, als ein Handeln am Gekreuzigten, in diesem seinen geschichtlichen Terminus" (381). Im Ergebnis: Die Auferweckung

Jesu kann nicht in "Raum-Zeit-Kategorien erfaßt werden", sie fällt aus dem "Kompetenzbereich der Geschichtswissenschaft" heraus (ebd.).

Bleibt nach dem Vf. der Zugang zur Osterwirklichkeit über ein Auffinden des leeren Grabes versagt, so kann doch auf das Osterzeugnis, "auf die geschichtliche Selbstbekundung des Auferstandenen in die Erfahrungswirklichkeit der Jünger hinein" verwiesen werden. "Weil das neutestamentliche Auferweckungsbekenntnis sich selbst eindeutig von dem es ermöglichenden Grund unterscheidet, folgt es in formaler Hinsicht ... dem Konstitutions- und Begründungszusammenhang von Zeugnis und bezeugtem Geschehen" (384). Problematisch ist die weitergehende Begründung:

"Weil das neutestamentliche Osterzeugnis eine Tatsachenbehauptung impliziert, muß diese auf ihre ’empirische Triftigkeit’ hin überprüft und also auf dem Wege der historischen Urteilsbildung die Faktizität des behaupteten Geschehens erschlossen werden" (384 f.).

Das Verlassen allein auf den "Osterglauben" ist dem Vf. ein fragliches Unterfangen (384; 385, Anm. 127; vgl. auch 157), damit aber offenbar auch das dem Ostergeschehen inhärente, uns aufgetragene Wagnis des Glaubens. Als Anfrage und Vermutung legt sich nahe, daß ein Entschärfen dieses Wagnisses ein implizites Movens, ein Mit-Anliegen für seinen geschichtstheoretischen Diskurs sein könnte. (Im übrigen wird das ’am dritten Tag’ als ’Datum’ der Geschichte des Heils in der Erörterung zu stark vernachlässigt; vgl. dazu K. Lehmann, Auferweckt am dritten Tag ..., 1968).

Im vierten Kap. wird dieser Vermutung nochmals Raum gewährt, indem die "formal-hermeneutische Analyse der ’Ostererscheinungen’" (426 ff.) zwar erhebt, "daß erst im Akt des Glaubens die begegnende Wirklichkeit als die Selbstbekundung des Auferstandenen überhaupt wahrgenommen werden kann", daß aber einem "Projektionsverdacht" "m. E. [sc. Vf.] auch hier nur durch eine Argumentation begegnet werden" kann, "die die Redeweise von der ’gläubig-existentiellen Wahrnehmung’ geschichtstheoretisch vermittelt" (446). ­ Im einzelnen bietet dieses Kap. mit wichtigen Analysen zum "Analogieprinzip" Ernst Troeltsch’s eine bedenkenswerte "Metakritik der Geschichtswissenschaft" im interdisziplinären Gespräch, um dann abschließend die "transzendentale philosophische Reflexion" im Hinblick auf die Freiheit des Menschen aufzuzeigen. Denn es ist nach dem Vf. "erlaubt, die den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozeß motivierende und leitende historische Frage als die bestimmte Form des Umgangs mit Geschichte zu verstehen, die sie daraufhin befragt, ob sich in ihr ein Ereignis realisiert hat", das eschatologische Hoffnung einschließt (449):

"Die Ansprechbarkeit des Menschen für eine solche Hoffnung darf die historische Erkenntnis motivieren und leiten. Sie begründet deren freien Entschluß, die Geschichte in ihrer symbolischen Dignität als die Stätte wahrzunehmen, an der dem Menschen die endgültige Bestimmung seines Menschseins widerfährt" (ebd.), anders gesagt, die dem Menschen ermöglicht, "die neutestamentliche ’Tatsachenbehauptung’ als Antwort zu verstehen und ihr frei und verantwortet zuzustimmen" (457).

Das Werk stellt ­ zumal als Dissertation ­ eine herausragende Leistung dar und ist in seinem Sachanliegen ein bedenkenswerter systematisch-theologischer, kritisch zu prüfender Beitrag in der immer wieder offenen Osterdiskussion. Soweit der Vf. exegetische Ergebnisse aufgreift, befindet er sich auf dem Stand der Forschung (unter bes. Berücksichtigung der Untersuchungen von A. Vögtle u. L. Oberlinner), wenngleich eine eigene stärkere exegetisch-theologische Einbindung vielleicht seine Überlegungen nicht ganz so theoretisch-abstrakt hätte werden lassen. Diese anspruchsvolle Monographie vermag interdisziplinär anzuregen und im ökumenischen Gespräch zu notwendigen ­ in einer kurzen Rezension nicht möglichen ­ Rückfragen Anlaß zu geben, denn ’Glauben und Verstehen’ übergreifen auch geschichtstheoretische Dimensionen.