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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

456-458

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grove, Peter

Titel/Untertitel:

Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion

Verlag:

. Berlin-New York: de Gruyter 2004. XII. 658 S. gr.8°= Theologische Bibliothek Töpelmann, 129. Geb. EUR 58,00. ISBN 3-11-018224-6.

Rezensent:

Alf Christophersen

Mit seiner Århuser theologischen Dissertation aus dem Jahr 2002, die von Svend Andersen, Ulrich Barth und Konrad Cramer begutachtet wurde, hat Peter Grove eine umfassende und innovative Untersuchung zur Subjektivitäts- und Religionstheorie Schleiermachers vorgelegt. Gleich zu Beginn setzt sich G. von der »neueren Philosophie« ab, die, etwa als physikalischer Naturalismus, Seinsdenken oder Differenzphilosophie, bis zum Ende des 20. Jh.s »subjektkritisch« gewesen sei. Aus religionsphilosophischer Sicht stelle sich die Frage, »ob einem menschlichen Gottesverhältnis und Phänomenen wie Glaube und Sünde, Handeln und Moralität von solchen radikal antihumanistischen Positionen her Rechnung ge­tragen werden« könne. Von diesem inszenierten Zerrbild philosophischer Entwicklung hebt G. den deutschen Idealismus ab, um ge­tragen von der Intention, »die lange Zeit verketzerten Themen – Religion, Metaphysik und Subjektivität – wieder aufzunehmen« (1), Schleiermacher als einen Exponenten in diese Hochphase neuzeitlicher Philosophiegeschichte, in der die drei Bereiche zuletzt im Zusammenhang erkennbar gewesen seien, einzuzeichnen.
Als Hauptziel seiner Dissertation gibt G. an, die Religionsbegriffe der zwei wichtigsten Veröffentlichungen Schleiermachers – d. h. die Reden »Über die Religion« und »Der christliche Glaube« – einer systematischen Neuinterpretation unterziehen zu wollen. Ins Zentrum der Analyse tritt dabei die Subjektivitätstheorie, verbunden mit der Annahme, dass sich Subjektivität nicht aus Intersubjektivität herleiten lasse. Aus diesem Grund verzichtet G. darauf, den Religionsbegriff in seiner intersubjektiven Dimension zu erörtern.
Methodisch legt G. großen Wert auf die Verbindung von historischer und systematischer Verfahrensweise. Das späte Werk wird vor dem Hintergrund des frühen gedeutet, doch ohne den An­spruch auf einen lückenlosen Nachvollzug der Genese. Eine zentrale Rolle erhält die von Dieter Henrich am Modell Jena in faszinierender Weise präsentierte Konstellationsforschung, mit deren Hilfe sich die Abhängigkeiten und Verweiszusammenhänge zwischen zeitgleichen Theorieangeboten, handelnden Charakteren, Debatten und Problemstellungen aufzeigen lassen. In der Anwendung dieser Methode sind bei G. allerdings schon darin gewisse Einschränkungen zu erkennen, dass Schleiermachers Geselligkeitstheorie samt der ihr gewidmeten Sekundärliteratur kaum wahrgenommen wird. Trotz einiger Bezugnahmen bleibt sogar die sich mit dem Gegenstandsbereich G.s vielfach überschneidende wichtige Studie von Bernd Oberdorfer, »Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799« (1995), fast ausgeblendet.
Neben den Schleiermacher-Arbeiten Wilhelm Diltheys sind es vor allem die einschlägige Monographie »Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher« von Eilert Herms, Falk Wagners »Schleiermachers Dialektik«, beide 1974, und Beiträge von Andreas Arndt, Konrad Cramer und Ulrich Barth, an denen sich G. kritisch abarbeitet, wobei er insbesondere Herms und Wagner, denen er Fehldeutungen vorhält, überbieten möchte. Wenn sie auch »wichtige Wahrheitsmomente« enthalte, sei Herms’ Interpretation »dennoch in Einzelheiten sowie in größeren Zügen unhaltbar« und Wagner berücksichtige nur un­zureichend die Intention Schleiermachers, dessen Philosophie am Ende lediglich unbefriedigend als »mißlungener Idealismus« (10 f.) erscheine.
G. hat seine Dissertation in zwei, vielfach ausdifferenzierte Hauptteile untergliedert: Voraussetzungen (21–248) und Theoriebildungen (249–612). Eine Schlussbetrachtung (613–618) sowie ein Anhang mit Literaturverzeichnis und Personenregister runden den Band ab; auf ein Sachregister wurde leider verzichtet, obgleich es im Hinblick auf die äußerst dichte Argumentationsführung G.s sehr hilfreich gewesen wäre. Der erste Teil wird von der Kernthese getragen, Schleiermacher habe ab Ende der 1780er Jahre »in Auseinandersetzung mit einigen der wichtigsten Repräsentanten der mit Kant anfangenden Philosophie eine Art der Transzendentalphilosophie entwickelt« (12 f.). Ins Zentrum eines ersten Kapitels stellt G. konsequent den Kantianismus in seiner frühen Rezeption durch Schleiermacher bis 1796, der zu keinem Zeitpunkt »orthodoxer Kantianer« (13) geworden sei, sondern kritische Distanz gewahrt habe; besondere Aufmerksamkeit widmet der Schleiermacher-Interpret zudem Johann August Eberhard, Karl Leonhard Reinhold, August Wilhelm Rehberg und im Kontext der Spinozismusproblematik Friedrich Heinrich Jacobi. Schleiermacher folge, so G., Kant in seiner Verwerfung rationaler Metaphysik, grenze sich aber zugleich von Kants praktisch-philosophisch begründeter Metaphysik ab. Dabei entwickle Schleiermacher »Ansätze einer neuen, bescheidenen, atheistischen Metaphysik« und schreibe der Religion die Funktion zu, als »Bestimmtheit des praktischen Selbstbewußtseins … eine nichtmetaphysische Theologie zu begründen, die als Ausdruck der Selbstdeutung des Subjekts gefaßt wird« (14). Im zweiten Kapitel gerät der Zeitraum 1796 bis 1803 in den Fokus. G. zeichnet mit großer Detailkenntnis eindringlich nach, wie Schlei­ermacher seine »romantische philosophische Konzeption« (14) entwickelt. Friedrich Schlegels Transzendentalphilosophie und Jo­hann Gottlieb Fichtes subjektivitätstheoretische Überlegungen werden eingehend und auf souverän entworfenen Argumentationsbahnen bearbeitet.
Ohne das hohe Reflexionsniveau aufzugeben, wechselt G. in seinem zweiten Teil zur Theorieebene und greift dabei auch die bislang von ihm ausgesparte Religionsphilosophie Schleiermachers auf. In drei großen Hauptabschnitten befasst sich G. mit »Religion und Metaphysik in den Reden«, der »Entfaltung des Subjektivitätsbegriffs« und »Religion und Metaphysik nach dem Spätwerk«. An­hand der philosophischen Ethik, insbesondere aber unter Rekurs auf »Dialektik« und »Glaubenslehre« setzt G. Gefühl und Selbstbewusstsein zueinander in Beziehung, erkennt das Leitmotiv seines Protagonis­ten in der flexiblen Formel »Religion als Deutung des Subjekts« (16). Schleiermacher verfolge eine auf der »Spontaneität des Subjekts beruhende, abstrakte Selbstbeziehung im Sinne von Identitätsbewusstsein« (18). Einen besonderen Akzent legt G. auf den Nachweis der von Schleiermacher behaupteten differenzierten Einheit von Metaphysik und Religion; denn: »Die theoretische Ex­plikation der Religion und ihrer Deutung bedarf der Metaphysik, um dem Gottesgedanken angemessen Rechnung tragen zu können.« Allerdings sei die Metaphysik von sich aus nicht dazu in der Lage, »die Deutung des Lebens auf verbindliche Weise zu tragen« (618).
G. hat mit seiner umfänglichen Studie zum Status des Subjekts in »Schleiermachers Philosophie der Religion« eine beeindruckende Arbeit vorgelegt, die einen wesentlichen, den Forschungsstand voranbringenden Beitrag gerade zur Verhältnisbestimmung von Kantianismus, Idealismus und Schleiermacherscher Theoriebildung leistet.