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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

451-454

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brose, Thomas

Titel/Untertitel:

Johann Georg Hamann und David Hume. Metaphysikkritik und Glaube im Spannungsfeld der Aufklärung. 2 Bde.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2006. Bd. 1: 330 S.; Bd. 2: XIV, S. 331–795 m. 5Abb. 8° = Europäische Studien zur Ideen- und Wissenschaftsgeschichte. European Studies in the History of Science and Ideas, 13. Kart. EUR 115,00. ISBN 3-631-54517-7.

Rezensent:

Martin Seils

Die begrenzt-positive Rezeption des Humeschen Empirismus und Skeptizismus durch den offenbarungsgläubigen Hamann sowie die Bedeutung der Hamann-Hume-Beziehung für das Entstehen der Kantschen Transzendentalphilosophie haben seit langem Beachtung gefunden, neuerdings aber gesteigerte Aufmerksamkeit erregt. Beachtung fanden sie, seit Philipp Merlan (From Hume to Hamann, 1951) und Charles W. Swain (Hamann and the Philosophy of David Hume, 1967) auf die Eigenartigkeit und Wirkmächtigkeit dieser Beziehung hingewiesen hatten. Gesteigerte Aufmerksamkeit riefen sie hervor, seitdem einerseits Isaiah Berlin Hamanns Hume-Rezeption als ein auf Ignoranz beruhendes, aber folgenschweres Missverständnis bezeichnet hatte (Hume und die Quellen des deutschen Irrationalismus, 1977) und andererseits Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl meinten nachweisen zu können, dass eine Hamannsche Hume-Übersetzung der Auslöser für Kants »kopernikanische Wende« vom Wolffianismus zur »Kritik der reinen Vernunft« gewesen sei (Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, 1987; Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, 1990). Immer hat bei diesen Bemühungen auch die Frage eine Rolle gespielt, ob Hamanns »Aneignung« des Humeschen »belief«-Begriffes, der bei Hume als naturhafte Auslösung und Vergewisserung empirischer Erkenntnisgewöhnungen vorkommt und von Hamann auch auf offenbarungsentstammende religiöse Gewissheiten bezogen wird, eine groteske Fehldeutung oder eine reflektiert-berechtigte Konsequenz gewesen sei. Die Berliner Freie Universitäts-Dissertation von Thomas Brose unternimmt es, in umfassender Weise die Rätsel der Hamann-Hume-Beziehung aufzulösen und ein differenziertes Gesamtbild von Rezeption, Dis­tanz, Weiterentwicklung und Fortwirkung in dieser Beziehung und durch sie aufzuzeigen.
B. handelt zunächst von »Hamann« bis zur Zeit von dessen Londoner »Bekehrung« (47–190), dann von »Hume« in Aufarbeitung von dessen Gesamtwerk bis hin zur »Natural History of Religion« (191–330) und schließlich über »Hamann und Hume« am Leitfaden wesentlicher Veröffentlichungen Hamanns von den »Sokratischen Denkwürdigkeiten« bis zu den Entwürfen der Auseinandersetzung mit Kants »Kritik der reinen Vernunft« (331–700). Grundthese ist – neben dem Aufweis eines anhaltenden »Umgangs« Hamanns mit Hume –, Hamann habe Hume zwar nicht geradezu »rezipiert«, sich diesen jedoch auf eine Weise »angeeignet« (im Sinne von »Anverwandlung«), die eine spezifisch-legitime »Transformationsleis­tung« darstelle und es Hamann ermöglicht habe, »seiner eigenen Wirklichkeitsinterpretation Geltung« zu verschaffen (332–334).
Der »Hamann« gewidmete Teil der Untersuchung will zunächst zeigen, dass von Hamann bereits in seiner »Vorlondoner« Studien- und Hauslehrerzeit die »Dominanz rationalistischen Denkens vorsichtig« in Frage gestellt worden sei (62) und dass schon hier für ihn »Empfindung … einen höheren Stellenwert als Vernunft« erlangt habe (63). Dabei soll sowohl Hamanns Zuneigung zu einer kritisch urteilenden »Historia literaria« eine Rolle gespielt als auch eine von der »Logik der philosophia perennis« (88) bestimmte Sichtweise eingewirkt haben, nach der es – bereits »praeadamitisch« – eine »himmlisch-geistige‚ ›urbildliche Wirklichkeit‹« gäbe, »an welcher der Mensch vermittels seiner Seele Anteil« habe (100). Bis hin zu Hamanns »Bekehrung« gebe es eine »Identität im Wandel« (102). Dieser »Bekehrung« in London im Jahre 1758 und deren persönlichen und gedanklichen Folgen geht B. anhand von Hamanns zeitgleichen Niederschriften nach. Die von nun an dominierenden Hamannschen Gedanken der »Herunterlassung« Gottes in Natur, Geschichte, Wort und Christusgeschehen sowie des »Austauschs« göttlicher und menschlicher »Eigenschaften« (communicatio idiomatum) nicht nur in Christus und dem von ihm zeugenden »Wort«, sondern in aller Welt- und Lebenswirklichkeit werden herausgestellt, und dabei wird die Korrespondenz des göttlichen Sicherschließens im Sinnlichen und der Präponderanz sinnlicher Erfahrung betont. Auch wird auf die von Paulus und Luther übernommene Unterscheidung von »Gesetz und Evangelium« und deren zeitbezogener Transposition als Unterscheidung von Vernunft und Offenbarung hingewiesen, die als »theologischer Hebel« wirke, um »humesche Skepsis gegen aufklärerischen Vernunftoptimismus zu wenden« (188–190).
Der mit »Hume« befasste Untersuchungsteil analysiert Humes Philosophie von der »Treatise of Human Nature« über die »En­quiry Concerning Human Understanding« bis hin zu den »Dia­logues Concerning Natural Religion« und der »Natural History of Religion«. Die Aufmerksamkeit gilt dabei zunächst dem Schluss von Buch I des »Treatise«, weil Hume in ihm sein vorläufiges Scheitern insbesondere am Kausalitätsproblem bekundet und Hamann dies ohne Hinweis auf die Textherkunft als »Nachtgedanken eines Zweiflers« übersetzte und 1771 veröffentlichte. Danach richtet sich der interpretatorische Focus auf Humes gedankliche Selbstrettung durch die Theorie eines »natural belief«, dessen naturgegebene Inhalte »lebenswichtige, aber unbegründbare Voraussetzungen menschlichen Erkennens und Handelns« (220) sind. Hinsichtlich der »Enquiry« beschäftigt vor allem die Schlusspassage des mit dem Problem der »Wunder« befassten Teil X, in der Hume – ironisch oder selbstwidersprüchlich? – davon spricht, dass man sich nicht »ohne ein Wunderwerk« von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugen könne, dieser jedoch »Beyfall geben« werde, wenn man »durch den Glauben … sich in seiner eigenen Person eines beständig fortgesetzten, ununterbrochenen Wunderwerkes be­wusst« sei. Hamann hat diese Passage zustimmend aufgenommen und Kant brieflich auf sie aufmerksam gemacht (an Kant 27.7.1759). B. zeigt, dass Hamann weder Humes »Glaube«-Begriff noch dessen Aussage vom »Wunderwerk« des Glaubens naiv oder missverstehend aufgegriffen habe. Zu Humes »belief« stelle Hamann fest, es sei unbegründet-dezisionistisch, wenn der Philosoph »Glaube« nur auf alltägliche Lebens- und Erkenntnisvorgänge und nicht auch auf »höhere Dinge als das sinnliche Eßen und Trinken« beziehe (an Kant 27.7.1759), und zum »Wunderwerk« des Glaubens sage er, Hume möge »das mit einer hönischen (!) oder tiefsinnigen Mine gesagt haben: so ist dies allemal … ein Zeugnis der Wahrheit …« (an Lindner 3.7.1759). B.s Ausführungen zu Humes »Dialogues«, die Hamann 1780 mit der Absicht einer Veröffentlichung auszugsweise übersetzte und das Manuskript dem eben mit der Ausarbeitung seiner Kritik beschäftigten Kant zugänglich machte, sind insbesondere mit dem sowohl die Hume-Forschung als auch Hamann bewegenden »offenen« Schluss des 12. Teils befasst, wozu B. anhand einer Interpretation der »Natural History« nachweist, dass Humes Meinung insgesamt auf eine Destruktion theistischer Gottesbezüge hinauslaufe.
In dem sehr ausführlichen dritten Teil seiner Darlegungen geht es B. nunmehr thetisch um »Hamann und Hume«. Er weist nach, dass Hamann seit 1756 mit Humes »Enquiry« in der 1755 erschienenen Sulzerschen Übersetzung bekannt war. Dann geht er wesentlichen Schriften Hamanns von den »Sokratischen Denkwürdigkeiten« über die »Aesthaetica in nuce«, die Auseinandersetzungen mit Herder über den Ursprung der Sprache bis hin zu denjenigen mit Mendelssohn und Kant nach. Humes Einfluss auf Hamanns Denken sieht er zunächst in der Betonung der »Empfindung« und folgenweise des »Glaubens« als »intuitiv-evidentes Gewissheitsgefühl« (408, »Sokratische Denkwürdigkeiten«), sodann jedoch auch in der Anregung zu einer »Theologie der Sinnlichkeit«. In ihr soll Hamann unter Anschluss an Philo und die sog. »Philosophia perennis« die Theorie von einer »adamitischen Ursprache« aufgegriffen (459–477) und eine – allerdings christologisch konzentrierte – Konzeption von der »Weltimmanenz des dreifaltigen Gottes, der sich entäußert habe und im Medium der Sinnlichkeit hörbar werde« (535, »Aesthaetica in nuce«, »Sprachschriften«; Hamann druckte im Titel nicht »Aesth etica« und auch nicht »Golgotha«, sondern »Golgatha«), entwi­ckelt haben. In der Folge werden detailliert die Veranlassungen und Schicksale der Hamannschen Übersetzung von Humes »Dialogues« bis hin zur Auseinandersetzung Hamanns mit Mendelssohn geschildert, wobei Hamann »mit Hume und Luther gegen die natürliche Religion« (560) vorgegangen sei. Ebenso eingehend handelt B. über Hamanns »metakritische« Diskussion mit Kant. Dabei wird die Kreimendahlsche Ansicht, dass Hamanns Teilveröffentlichung aus Humes »Treatise« von 1771 vorweg Einfluss auf Kants »Wende« von 1769 gehabt habe, geteilt und mit zusätzlichen Argumenten versehen (637–645). Hamanns »konstruktive Antwort« auf die Kantsche »Kritik der reinen Vernunft«, es beruhe »das ganze Vermögen zu denken … auf Sprache« (675, »Metakritik«), basiert nach B.s Ansicht auf Hamanns »Theologie der Sinnlichkeit« als »Versprachlichung Humescher Philosophie«, in der »Schöpferisches Reden des Urpoeten und leibhafte menschliche Sinnlichkeit einander korrespondieren« (673).
Hume sei – so B. – für Hamann Bundesgenosse im Streit gegen eine rational-metaphysisch grundgelegte »natürliche Theologie« gewesen, und zwar sowohl als philosophischer Skeptiker als auch als Theoretiker eines in »belief« basierenden Gewissheitsgefühls. Er werde jedoch von Hamann unter Hinweis auf Offenheiten und innere Widersprüche dort abgelehnt, wo Humes Skepsis zur Absage an einen transzendenzbezogenen und christologisch erschlossenen Gottesbezug führt. Darüber hinaus habe Hume als Anreger und Gedankenvermittler Hamanns eine spezifische Weiterent­wick­lung erfahren, aus der sich Brücken zur Existentialphilosophie wie zur gegenwärtigen Sprachphilosophie ergeben konnten (607–700).
B.s Gesamtausführungen sind im Einzelnen vielfältiger, als sich das hier wiedergeben ließ. Sie sind auch aussagekräftiger. Manchmal sind sie jedoch recht hypothesenfreudig oder recht weit ausgreifend. Sie fördern die Forschung durch eine Reihe von neuen Faktennachweisen. Die Hamann-Forschung wird Bedenken ha­ben, B.s Analysen zu Hamanns Ästhetik und Sprachphilosophie dort zu teilen, wo sie nahe an Wilhelm Schmidt-Biggemanns Ansichten zur »Philosophia perennis« herangeführt werden. Insgesamt ist B.s Arbeit eine Leistung, die in der Tat zur Aufhellung des »Rätsels« der Hamannschen Hume-Beziehungen Wesentliches beiträgt und die Hamann- und Hume-Forschung sowie diejenige zur »Aufklärung« erheblich bereichert.