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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

450-451

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Staubach, Nikolaus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchenreform von unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2004. 434 S. m. Abb. gr.8° = Tradition – Reform – Innovation, 6. Kart. EUR 62,00. ISBN 3-631-39294-X.

Rezensent:

Herbert Lindner

Kirchenreform ist ein Grundthema der Theologie. Alle Disziplinen sind an ihm beteiligt. Auch wenn die augenblickliche Diskussion eher im Bereich der Praktischen Theologie geführt wird, so leistet doch die Kirchengeschichte einen wichtigen Beitrag.
Der Titel der Reihe, in der diese Dokumentation eines Kolloquiums vom Dezember 1998 in Münster erschienen ist, verspricht denn auch Aktualität: Tradition – Reform – Innovation, Studien zur Modernität des Mittelalters. Es geht um die Person des Gerhard Zerbolt von Zutphen und seine Rolle in der Devotio moderna in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s.
Ohne Zweifel ist die Devotio moderna eine der wirkmächtigsten Reformbewegungen des Spätmittelalters. Gruppenbildung zwischen Mönchtum und weltlichem Stand zeichnet sie aus. Die Entwick­lung persönlicher Spiritualität ist ihr Programm. Es geht um viel. »Denn der Rangstreit der geistlichen Lebensformen betraf in letzter Konsequenz fundamentale Strukturprinzipien der mit­telalterlichen Kirche: die Legitimität von Mönchtum und Ordenswesen, die Bedingungen von Verdienst und Heil und die Wege und Stufen christlicher Vollkommenheit.« (377)
Wie stets bei der Analyse historischer Bewegungen ist die Überprüfung an den Quellen unerlässlich. Dazu bietet der Sammelband eine reiche Auswahl von Detailstudien, deren Relevanz sich allerdings wohl am ehesten den Fachkundigen in diesem Spezialgebiet erschließt.
Editorische Fragen werden diskutiert und Quellen erschlossen: die ältesten Satzungen der Devotio moderna, die letzen Briefe Zerbolts, die epistolae fratrum, die Inzigkofener Übersetzung der Zerbolt-Vita des Thomas von Kempen, das Verhältnis des Bibelübersetzers von 1360 zu Zerbolt, der Quellengebrauch in der Argumentation in »De libris teutonicalibus« und die Rezeption eines Zerbolt Traktats durch Gottschalk Hollen.
Doch darin erschöpft sich dieser Band nicht. Er bietet thematisch breiter angelegte Studien wie etwa zum Versuch, die Devotio moderna durch juristische Argumentation zu verteidigen, oder zur Passionsfrömmigkeit Zerbolts und zieht die Linien bis zur Reformation.
Dadurch entsteht vor allem in den Beiträgen von Nikolaus Staubach ein anschauliches Bild der Chancen und Grenzen einer kirchlichen Reformbewegung, die »von unten« begann. Das Aufgreifen von geistlichen Sehnsüchten der Menschen, Ausbildung von Leitlinien für die Lebensgestaltung in unruhiger Zeit, überzeugende Gemeinschaftsbildung, die Exklusivität mit Offenheit zu verbinden wusste, sinnvolle und dauerhafte Strukturierung und eine geschickte Kirchen-Politik zeichnen die Phase der Devotio im Umkreis der bedeutenden, wenn auch kurzen Wirksamkeit des Gerhard Zerbolts aus.
Die Bewegung der Devotio moderna wird in ihrer Reformstrategie beschrieben. Das »von unten« wird nicht radikal. Die Bewegung bleibt innerhalb des Rahmens der Kirche und versucht durch geschickte Argumentation die rechtliche und theologische Legitimität ihrer Praxis nachzuweisen. Das ist ihr gelungen. Der Preis allerdings war hoch. Der Versuch, mönchisch zu leben, ohne Mönch oder Nonne zu sein, war schon zu Lebzeiten Zerbolts aus einer eigenständigen christlichen Lebensform zu einer Vorstufe des Mönchseins geworden. Gegenläufige Versuche zur Ausbildung einer eigenen Identität begleiten diesen Prozess, können ihn aber letztlich nicht stoppen. Die größere Stabilität und »das bessere Bier« (389) der Klöster taten ihre Wirkung.
Wirkung und Veränderung der Bewegung im späten Mittelalter werden von Gerhard Faix anhand der Geschichte der oberdeutschen Fraterherren als Teil landesherrlicher Kirchenreformbemühungen gezeigt. Für Graf Eberhard V. von Württemberg war die Verbindung von spirituellem Gemeinschaftsleben, theologischer Wissenschaft und praxisorientierter Umsetzung ein willkommenes Mittel zur Verbesserung der Seelsorge und zur Reform des Weltklerus. Der Preis war freilich auch für die oberdeutschen Kanoniker das Verlassen des ursprünglichen Ansatzes eines Mittelweges zwischen Mönchtum und Welt in Richtung einer via quasi monastica (338).
Ulrich Hinz diskutiert das nicht ganz einfach zu bestimmende Verhältnis der norddeutschen Brüder zur reformatorischen Bewegung. Er verweist (344) auf den neueren Forschungskonsens, dass von einer direkten Kontinuität der Devotio moderna zur Reformation nicht geredet werden kann. Auch die Betonung der persön­lichen Frömmigkeit und die Berufung auf die Evangelien sind allgemeine Kennzeichen spätmittelalterlicher Reformen. Die geistige Nähe zu den Themen der Reformation bleibt dennoch unübersehbar. Sie erweist sich auch darin, dass die Devoten in der Frühzeit der Reformation ihren Gedanken besonders aufgeschlossen waren. So konnten auch Melanchthon und Luther im Herforder Fraterhaus durchaus ein Vorbild für gemeinschaftliches Leben in evangelischer Freiheit erkennen (354). Aus Sorge um die Einheit der Stadtkirche übernahm jedoch später auch Luther die skeptische Position von Amsdorff und Bugenhagen.
Der Weg der Devotio moderna wird in diesem Sammelband an­schaulich. Er begann als »Kirchenreform von unten«. Durch ihre Entscheidung, der Einheit die oberste Priorität zu geben, vermied die Bewegung den Bruch, den die Reformation in letzter Konsequenz vollzog. Die Beiträge zeigen, dass es nicht an der Brisanz ihrer Themen lag, wohl aber an ihrer innerkirchlichen Verortung.
Ihre Wirkung ist dennoch kaum zu unterschätzen. Sie wollte eine authentische Form der Urkirche sein. Die Erneuerung des Ordenswesens, Ausbildung und Gestaltung einer ernsthaften persönlichen Frömmigkeit der Laien (378) ist ihr bleibendes Verdienst.
Ihr Hauptstrom blieb innerhalb der katholischen Kirche. Diese allerdings wollte im Zeitalter der Gegenreformation das Element der freien spirituellen Vergesellschaftung nicht dulden, setzte ganz auf Zentralisierung und Hierarchisierung und trug so zum »Niedergang der Bewegung … während des weiteren 16. Jahrhunderts« bei (so das Resümee von Ulrich Hinz, vgl. 366).