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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

447-449

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Reitemeier, Arnd

Titel/Untertitel:

Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2005. 722 S. gr.8° = Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 177. Geb. EUR 90,00. ISBN 3-515-08548-3.

Rezensent:

Uwe Schirmer

Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Rechnungsbücher sind faszinierende Quellen, da sie nicht allein die tatsächlichen verfassungsrechtlichen Verhältnisse widerspiegeln, sondern auch Zeugnis über das alltägliche Leben in allen gesellschaftlichen Sphären ablegen. Die Alltagsgeschichte hat seit Jahrzehnten den Wert jener Quellen erkannt und sie erfolgreich ausgewertet. Trotzdem haben vorrangig nur die Rechnungen großer Städte, bedeutender weltlicher und geistlicher Fürsten und Institutionen, aber auch die Rechnungsunterlagen finanzkräftiger Handelshäuser das Interesse der Forschung beansprucht; Rechnungsakten städtischer und ländlicher Pfarrkirchen wurden stiefmütterlich behandelt, was im Übrigen auch für Dorf- und Gemeinderechnungen gilt. Kirchenrechnungen – vor allem von Niederkirchen mit nur lokaler oder re­gionaler Geltung – fanden bestenfalls beiläufiges Interesse. Gleichwohl sind unzählige Beiträge über Kirchenrechnungen verfasst worden, so dass nur wenige Spezialisten die äußerst disparate Literatur überblicken. Hier lag ein Forschungsfeld faktisch brach, welches nunmehr von Arnd Reitemeier gründlich beackert und bestellt wurde: Allein das Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur umfasst knapp 60 Seiten. Indessen analysierte R. nicht allein das sperrige Schrifttum, um eine Geschichte der spätmittelalterlichen städtischen Pfarrkirche zu verfassen. Die Literatur wurde allenfalls zur Ergänzung herangezogen, denn die anzuzeigende Arbeit gründet sich in erster Linie auf ungedruckte Rechnungen. Imposant ist die von R. erstellte Tabelle (697–705) über die archivalischen Nachweise von Rechnungsbüchern von Kirchenfabriken aus dem Mittelalter (bis 1520), die jedoch angesichts des Umfangs der erhaltenen Akten nicht vollständig in die Arbeit einfließen konnten; es war eine Auswahl vorzunehmen.
Vollständig ausgewertet und für eine statistische Analyse aufbereitet wurden die Rechnungen von St. Willibrord in Wesel, die fast lückenlos von 1401 bis 1519 überliefert sind. Zum Vergleich wählte R. die Rechnungsbücher von St. Nikolaus in Wesel, St. Sebald in Nürnberg, St. Moritz in Coburg, St. Martin und Unser Lieben Frauen in Bamberg, St. Jakob in Rothenburg, St. Marien in Bielefeld sowie Unser Lieben Frauen und der Heilig-Kreuz-Kirche in Dresden aus. Diese Quellen sind gleichfalls über längere Zeiträume erhalten geblieben und ergänzen bzw. relativieren manche Beobachtungen zu den beiden Kirchen in Wesel. Natürlich bestimmen die Befunde aus Wesel in gewissem Sinne die Arbeit, aber sie überwuchern das Werk nicht vollends. Zudem erscheint die Stadt an der Mündung der Lippe in den Rhein als nicht atypisch für eine größere Kommune des Alten Reiches: Um 1400 lebten circa 4500 Menschen in der Stadt; 1500 werden es rund 6000 gewesen sein. St. Willibrord war die einzige Pfarrkirche in der Altstadt; St. Nikolaus war 1434 in einer der Vorstädte zur zweiten Pfarrkirche erhoben worden. Außerdem hatten sich Prämonstratenserinnen, Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten niedergelassen.
Einleitend (11–31) sowie späterhin (Kapitel II.1) erläutert R. das Entstehen der Rechnungen: Allen städtischen Pfarrkirchen standen Kirchenmeister vor, die vor dem Rat der Stadt Rechnung legten. Die Kirchenmeister waren zumeist Laien und besaßen die finanzielle und materielle Verantwortung für die Kirche: Ihnen oblag die Verantwortung für das Gebäude samt Inventar und für den Besitz. Diese Institution, der die Kirchenmeister vorstanden, war die fabrica ecclesiae: das »Bauwerk der Kirche«. Jener bereits im Frühmittelalter verwendete Begriff bezeichnet einen Fonds, aus dem die Pfarrkirche gebaut und unterhalten wurde. Im Spätmittelalter dominierten Aus- und Umbau sowie vor allem die Instandhaltung und Pflege der Kirche mit der gesamten Innenausstattung sowie den (vielen) Gebäuden, die sich auf den Kirch- und Friedhöfen sowie teilweise auch in der Stadt befanden. Diese Anmerkungen zeigen, dass spätmittelalterliche Kirchenrechnungen am wenigs­ten Baurechnungen sind; vielmehr dokumentieren sie in herausragender Weise die materielle Kultur in den Kirchen und eröffnen einen Zugang zur Geschichte von Mentalität, Frömmigkeit, Volkskultur und teilweise auch zur sozialen Hierarchie, obwohl es – so man allein die Struktur der Quellen im Blick hat – um Wirtschaft und Verfassung geht. Die nüchtern angelegten Rechnungsbücher der Kirchenfabrik, die allein zum Zwecke der Finanzkontrolle an­gelegt und geführt worden sind, gewähren zudem Auskünfte über die handelnden Personen in Kirche und Gemeinde. Es ist ein geläufig zu hörendes Vorurteil, dass Rechnungen kaum über soziale oder kommunikative Beziehungen informieren: R. kann jedoch an­schaulich im fünften Kapitel seiner Arbeit darlegen, dass solche Kontakte und Verhältnisse sehr wohl mit diesen Quellen untersucht und rekonstruiert werden können.
Das Buch ist in sieben größere Kapitel untergliedert. Eingangs beschreibt R. detailliert seine Quellen, erläutert die spätmittelalterliche Kassen- und Buchführung, diskutiert ihre Zuverlässigkeit und bewertet die Stellung des Kirchenmeisters in Bezug auf Rechnungslegung und Kontrolle. Sodann wendet er sich intensiv der fabrica ecclesiae zu, die eben nicht nur für die materielle Erhaltung des Kirchenbaus zuständig war, sondern auch für die Verwaltung von Benefizien und Stiftungen. R. streicht heraus, dass »die städtischen Kirchenfabriken Ende des Mittelalters ausschließlich dem Rat der Stadt unterstanden, der die Verwaltung kontrollierte und sich für administrative Einzelbelange interessierte« (157). Dies führte nicht selten zu Konflikten mit dem Klerus, die freilich nicht der Kirchenmeister, sondern allein der Rat austrug. Zweifellos besaßen die Stadträte mit den Kirchenfabriken Instrumente, um – zwar nur indirekt, aber nicht erfolglos wie in den Jahren der Reformation – auf die inneren Verhältnisse in »ihrer« Kirche Einfluss zu nehmen. R.: »Die Kirchenfabrik war personell wie politisch ein Element städtischer Herrschaft« (158). Dass es dabei auch um städtische Repräsentation ging, illustriert ein Beispiel aus Wesel: Dort fasste der Rat im Jahr 1470 den Entschluss, den Kirchturm von St. Willibrord soweit zu erhöhen, dass dieser höher in den Himmel ragen sollte als der höchste Kirchturm von Duisburg; allein aus statischen Gründen ließ sich das Vorhaben nicht realisieren.
Jenes Beispiel leitet zu den Kapiteln drei bis fünf über, in denen R. in die Welt der spätmittelalterlichen Stadtkirchen einführt. Alltag in der Kirche, Frömmigkeit und religiöses Leben stehen im Mittelpunkt. Bei der Lektüre glaubt man manches schon gehört oder gelesen zu haben, aber nur wenige Werke beschreiben derartig dicht die materielle Kultur in den spätmittelalterlichen Pfarrkirchen des Reiches. Zuerst widmet sich R. den Kirchen und ihren Gebäuden und trägt wichtige Beobachtungen zur mittelalterlichen Bauforschung bei: Bauarbeiten und Planungen, Materialien und Werkzeuge, Baumeister und Bauarbeiter werden genauso erwähnt wie die Arbeiten an den Gewölben, Dächern, Türmen und Portalen, Sakristeien und Kapellen. Sodann werden die auf den Kirch- und Friedhöfen existierenden Stätten religiöser Verehrung (Kreuzigungsgruppen, Ölberge) bzw. die Beinhäuser historisch und kulturell angemessen gewürdigt.
Bezüglich der Gebäude und Immobilien sind die Abschnitte über die Schulen und Bibliotheken hervorzuheben. Für die Ge­meinde war natürlich die Ausstattung im Kircheninneren von besonderer Bedeutung. Dies betraf Reliquien und Monstranzen, liturgisches Gerät, Altäre, Tafeln, Bilder und Skulpturen, Tabernakel und Taufstein sowie selbstverständlich Paramente, Lesepulte und Kanzeln. Auch hierzu hat R. eine Vielzahl kleiner Beobachtungen und Details zu einem Gesamtbild verschmelzen lassen; Gleiches trifft auf die liturgischen Handschriften sowie die Orgeln, Glocken und Kirchturmuhren zu. Auch die sakralen Handlungen haben sich in den Rechnungen der Kirchenfabrik niedergeschlagen, musste doch der Kirchenmeister mit zur Ausschmückung und Gestaltung der täglichen Messen wie auch bei der Spendung der Sakramente mehr oder weniger beitragen. Kerzen, Lampen, Fackeln, Weihrauch waren zu beschaffen; Gleiches galt für Oblaten und Messwein sowie fürs Salz des Weihwassers. Überdies erläutert R. detailliert das Mitwirken des Kirchenmeisters bei den hohen Feiertagen während des Kirchenjahrs, den Prozessionen und gestifteten Messen. Im sechsten Kapitel werden einer Strukturanalyse gleich die Einnahmen und Ausgaben der Kirchenmeister erläutert, bevor im letzten großen Abschnitt des Buches die Verwaltung und das Personal der Kirchenfabrik vorgestellt und untersucht werden.
Die Stärken dieses gewichtigen Buches liegen zum einen im Bereich der Alltagsgeschichte. Konkret werden die Verhältnisse in den städtischen Pfarrkirchen beschrieben, so dass Rückschlüsse auf Mentalität, Frömmigkeit und Volkskultur möglich sind; zum an­deren werden wichtige Zusammenhänge zwischen dem religiösen Leben in der Kirche und der städtischen Sozialordnung offengelegt. Scharnier zwischen Kirche und Rat waren Kirchenfabrik und Kirchenmeister, der wiederum für die Finanzierung und Or­ganisation des religiösen Lebens mit verantwortlich war. Freilich war er mehr Verwalter der Kirchenfabrik als Gestalter des kirchlichen Lebens in der Gemeinde.
Neben den bereits erwähnten Quellen- und Literaturverzeichnissen sind dem Buch im Anhang Grundrisse von St. Willibrord zu Wesel und zur dortigen Altstadt, eine tabellarische Zusammenfassung über die Einnahmen von St. Willibrord (1401–1519) sowie ein Orts-, Personen- und Sachregister beigegeben.