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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

444-445

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Flasch, Kurt

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen My­stik« aus dem Geist der arabischen Philosophie.

Verlag:

München: Beck 2006. 192 S. m. 1 Abb.8°. Geb. EUR 22,90. ISBN 978-3-406-54182-7.

Rezensent:

Christiane Fischer

Dieses Buch des emeritierten Professors für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum ist nicht nur eines über Eckhart und die ara­bische Philosophie, sondern eines über diejenige Richtung des Dominikanerordens, die letztendlich dem Thomismus unterliegen musst­e. Wie Widmung und Danksagung (161) und weitere Er­wäh­nungen (67) deutlich machen, fußt F.s »Forschungsskizze« (139) auf den Vorarbeiten von Imbach (Paris), de Libera (Genf/Paris), Mojsisch (Bochum) und Sturlese (Leece), die zu einem neuen Al­bert-, Dietrich- und Eckhartbild beigetragen haben.
F. beabsichtigt, die Gegenwart von Averroes im lateinischen Werk des Eckhart zu erweisen (14.150). Historische Eckhartforschung wird wiederholt skizziert und bewertet (16 ff.86 ff.).
Die These des Buches, die im Buchtitel anklingt, lautet: »Eckhart brauchte Averroes. … Er brauchte ihn, um sein Programm durchzuführen, die Wahrheit der christlichen Lehre mit rationes naturales philosophorum zu beweisen. Unter diesen philosophi nahm Averroes eine hervorragende Rolle ein. Die Averroeszitate sind kein beiläufiger Dekor; sie betreffen nicht abgelegene Subtilitäten, sondern Eckharts Hauptlehre. Sie häufen sich vor allem im Johanneskommentar« (121). F. zieht eine Traditionslinie »Platon, Aristoteles, das Johannesevangelium, Augustins Metaphysik der mens, Averroes, Albert, Dietrich« (ebd.; vgl. daneben 91), eine Linie, die auch in weiteren Verästelungen, nämlich von Avicenna zu Albert, Dietrich und Eckhart (122–138) sowie von Moses Maimonides (139–149) zu Eck­hart, nachgezogen wird.
Zunächst werden die Lebenswelten Eckharts und Averroes’ be­leuchtet, bestehend aus biographischen Notizen sowie einer Einzeichnung derselben in allgemein-historische und wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge (22–45). Zweitens wird das Denken des Aristoteles-Kommentators Averroes vorgestellt (46–66). – Drittens rückt Eckharts (und Dietrichs) Lehrer Albert ins Blickfeld. Gegen das »Konstrukt der alberto-thomistischen Einheitsphilosphie« (67) werden Unterschiede seines Denkens im Vergleich zu Thomas hervorgehoben (z. B. Methodenverschiedenheit von Philosophie und Theologie, was eine Selbständigkeit der Philosophie bedeutet; Offenheit gegenüber griechisch-arabischen Traditionen in Verbindung mit einer Kritik an westlicher Lehrentwicklung; 67–85). – Der vierte Gedankengang handelt von dem Bindeglied zwischen Albert und Eckhart: von Dietrich von Freiberg, genauer von dessen Averroes-Rezeption sowie charakteristischen Unterschieden zu Thomas (86–111). »Dietrich bewies, daß es in der Führungsschicht des Dominikanerordens gegen 1300 neben dem siegenden Thomismus auch eine klare, gut ausgearbeitete antithomistische Position gab« (89).
Das fünfte Kapitel (112–121) behandelt Eckhart und Averroes mit der bereits oben zitierten Hauptthese (121). Damit ist die Traditionslinie ausgezogen. Ergänzt wird diese – sechstens – durch die Betrachtung des Verhältnisses zu Avicenna (122–138) sowie – siebentens – zu Mose Maimonides (139–149). Avicenna sei neben Averroes bei Eckhart der am meisten zitierte arabische Philosoph (129). Die Ontologie, näherhin das »esse« als Gottesname, habe er mit Avicenna gemein (ebd.). Mit Maimonides habe Eckhart u. a. die philosophische Bibelerklärung (141 f.), eine »streng gefaßte Einheit Gottes« (143 f.) sowie eine negative Theologie gemeinsam: die Skepsis, Gott einen angemessenen Namen beilegen zu können, die Hochachtung des Schweigens sowie das esse als »bestimmungsloser« Gottesname (144 f.). Diese Gedankengänge münden – achtens – in das Schlusskapitel, wo das Ergebnis des Beweisganges zusammengefasst wird: Erwiesen wurde die Präsenz der Averroes-Gedanken bei Eckhart, wobei es F. weniger auf die Quantität solcher Zitate als vielmehr auf deren Funktion ankommt (150 f.). Als Bindeglieder zwischen dem arabischen Philosophen und Eckhart wurden Albert und Dietrich erwiesen.
Mit diesem Gedankengewebe wurde gleichzeitig eines nachgezeichnet, das auf den Philosophenverurteilungen 1270/77 in Paris der Verdammung sowie im Orden durch restriktive Maßnahmen der Marginalisierung anheimfiel (35–42). So kann F. im Schlusssatz zusammenfassen: »Was mein kleines Buch belegt und was es dem historisch-philosophischen Nachdenken empfiehlt, ist nichts geringeres als der philosophische und spirituelle Aufstand Diet­richs und Eckharts gegen den Breitwandtriumph des heiligen Thomas über Averroes« (160). Eine Besonderheit in diesem Zusam­menhang ist die Bildbetrachtung zum Triumph des Thomas (42–45, mit Abb. auf S. 43 in ansprechender Qualität: Die Figuren, deren Attribute und ggf. Beschriftung sind ausgezeichnet zu erkennen). Aristoteles befindet sich allerdings nicht, wie auf S. 42 behauptet, zur Linken des Thomas (wie für den Betrachter), sondern zu dessen Rechten.
Das Buch ist spannend geschrieben und vermittelt einen lebendigen Eindruck der Diskussionslage um 1300. Fraglich bleibt dem interessierten Leser allerdings, ob der »Eckhart der lateinischen Werke« der »ganze« Eckhart ist und sein kann. Wird, nachdem in früherer Eckhartforschung nur der »deutsche Eckhart« im Blick war, nun das andere Extrem verfolgt?