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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

88–90

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Drewermann, Eugen

Titel/Untertitel:

Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik. 1: Dogma, Angst und Symbolismus. 2: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden.

Verlag:

Solothurn-Düsseldorf: Walter 1993/96. 720 u. 819 S. Lw. je DM 89,­. ISBN 3-530-16896-3 u- 3-530-16897-1.

Rezensent:

Roman Heiligenthal

Auf über 1500 Seiten liegt jetzt in zwei Bänden der Versuch Eugen Drewermanns einer zusammenfassenden Darstellung seiner Glaubensanschauungen vor. Da der Autor beabsichtigt, sein theologisches Denken zu systematisieren, verwundert es nicht, daß er seine bisherigen Arbeiten reproduziert: Die Thesen seiner Dissertation ("Strukturen der Angst") finden sich in II, 110 ff. ("Die Urgeschichte des Menschen und der biblische Mythos vom Sündenfall") wieder. Seine ethischen Untersuchungen zur Umwelt- und Frieden/Kriegsproblematik ("Spirale der Angst"; "Der tödliche Fortschritt") wurden ebenso eingearbeitet wie die insgesamt fünf Bände, die sich mit dem Verhältnis von Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse zur Theologie bzw. Exegese beschäftigen. Band I.B ("Die Bilder des Unbewußten oder Voraussetzungen, ’Gott zu schauen’) beschreibt so nochmals D.s Versuch, die Tiefenpsychologie in die Theologie grundlegend zu integrieren (s. u.). Die bisherigen Untersuchungen fließen in Band II ein, der zum großen Teil aus Betrachtungen und Auslegungen synoptischer Texte besteht und trotz seines Titels nicht den Anspruch hat, systematisch auf Leben und Wirken Jesu von Nazareth einzugehen.

Ziel der Bemühung ist es, dem "Reden von Gott mit Berufung auf die Botschaft des Mannes von Nazareth seine ursprüngliche Glaubwürdigkeit und humane Evidenz zurückzugeben" (I, 35). Der Weg, den der Autor damit beschreitet, ist nur auf dem Hintergrund seiner radikalen Kritik der Katholischen Kirche, ihrer Lehre und ihrer Praxis zu verstehen: "Nicht das religiöse Bewußtsein ist im Schwinden begriffen. Wohl aber die Bindung an den Kirchen- und Kinderglauben. Und das aus guten Gründen. Ihnen nachzugehen ist der Sinn dieses Buches: Wohl ist es, wenn nötig, auch Klage und Anklage über und gegen die bestehende Kirche, doch weit eher ist es ein Freispruch der Menschen, in jedem Fall aber der Versuch einer Bestandsaufnahme und einer Formulierung längst überfälliger Konsequenzen" (I, 9).

Durch die beiden Bände ziehen sich die schon klassischen Anwürfe linkskatholischer Kirchenkritik wie ein roter Faden: Die Kirche repräsentiere eine Verbindung aus "Macht und Aberglaube", mit ihren Dogmen halte sie die Menschen in Unmündigkeit und Abhängigkeit und vergifte die Seelen mit "absurden Schuldgefühlen". "Kein Wort der Kirchensprache erreicht mehr die Herzen der Menschen" (I, 12). Die Kirche verkünde machtbewußt scheinbare objektive Wahrheiten von "oben nach unten"; der Klerus sei eine Zunft von "geistlichen Hofbeamten". Neben den Vorwurf der Klerikalisierung tritt der der Konfessionalisierung der religiösen Wahrheit und der Hinweis auf die Kirchengeschichte als Geschichte von Schuld und Versagen der Amtskirche. Im Stile der liberalen Jesusforschung wird Jesus der Kirche als ein Kritiker und Befreier von den Dogmen der Amtskirche gegenüber gestellt. Eine Brücke zwischen Jesus und den "Verformungen und Bizarrerien des kirchlichen Dogmas" gibt es nicht mehr. In ihm personalisiert sich das Prinzip radikaler Subjektivität, mit dem D. die Bedürfnisse des einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt all seiner Überlegungen macht:

"Die Diastase von Kirchendoktrin und persönlichem Leben macht ... die Tatsache deutlicher, daß der etablierte Kirchenglaube sich keinesfalls auf die Kräfte des Ichs: auf Freiheit und Erfahrung, Sensibilität und Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Realitätssinn, Traum und Phantasie, mithin auf Lieben und Hoffen, Nachdenken und Zweifeln, Entwerfen und Argumentieren zu gründen versucht, sondern im Gegenteil auf eine Reihe stabilisierender Faktoren der Außenlenkung und der Überichzensur: Strafangst und Autoritätshörigkeit, Meinungskonformität und Gruppenzwang, Triebunterdrückung und Entwicklungsfixierung" (I,23).

Für D. ist das Subjekt die wesentliche Erkenntnisquelle, D. wehrt sich, deutlich von Schleiermacher inspiriert (vgl. II, 35f.), gegen jede Verobjektiverung und Rationalisierung von Religion. Von daher sieht es D. ­ analog zu gewissen positivistischen Tendenzen innerhalb der Exegese ­ als den Grundirrtum der Dogmatik, "die Symbolsprache ... nicht länger mehr als Ausdruck menschlicher religiöser Erfahrung zu interpretieren ­ sie hat als ’objektive’ Wiedergabe der tatsächlichen in Christus ergangenen Offenbarung Gottes, vorgelegt durch das unfehlbare, vom heiligen Geist selbst geleitete Lehramt der Kirche zu gelten" (I, 200). Von daher sind auch die christologischen Aussagen des Neuen Testaments auf ihren Symbolgehalt und ihre Erfahrungsevidenz für den jetzt lebenden Menschen hin zu befragen: "Man braucht die Projektion der Himmelfahrt-Chiffre in eine jenseitige, überirdische Welt nur zurückzuholen in die irdische Wirklichkeit, und man gewinnt ... einen Einblick in die Art, wie Jesus auf Menschen gewirkt hat, indem er ihre tödlichen Abhängigkeiten und tödlichen Ängste überwand. ’Auffahrt zum Himmel’, ­ das bezeichnet als erstes die erfahrbare Herrschaft Jesu über den Tod im Leben der Menschen, denen er begegnete" (II, 198). Die Hölle interpretiert der Autor als die vielen "privaten Höllen" der Menschen; Trinitätsdogma ­ verhöhnt als "Travestie des Jesus von Nazareth" (I, 32) und Opfertheologie (II, 532 ff.) werden konsequent abgelehnt.

D. beabsichtigt in seinen zwei Bänden, die anthropologische Wende innerhalb der Theologie radikal fortzuführen. Religion macht dann "Sinn", wenn sie auf das von D. mit Hinweis auf Sigmund Freud postulierte menschliche Grundgefühl der Angst mit Geborgenheit und Befreiung zu antworten vermag (I, 269ff.). Wie bereits aus D.s Märchendeutungen ersichtlich wurde, kommt diese Befreiung des Menschen von außen. So kritisiert der Autor die altchristliche Gnosis nicht deshalb, weil sie Religion als Selbstfindung und Selbsterkenntnis interpretiere, sondern weil sie Göttliches und Menschliches im Menschen vermische (I, 242-244) und damit die Illusion menschlicher Selbstrettungsversuche aus dem Getto der Angst nähre. In diesem Zusammenhang wird Jesus als Modell für D. wichtig. Da für den Autor Glaube ein persönliches Vertrauen zu Gott ist, ist Jesus als derjenige von Bedeutung, der dieses Vertrauen exemplarisch lebte. Deswegen findet D. im Neuen Testament Bilder des Heils für den heutigen Menschen, deswegen ist Jesus so zentral, da er durch seine eigene Angst von Gethsemane die menschliche Angst auf Gott hin öffnet: "... doch was der Mensch braucht in den Stunden der Angst, ist ein Gegenüber, das ihm als Person antwortet; und in diese absolute Person jenseits des Todes und der Todesangst warf Jesus all seine Hoffnung" (II, 559). Den garstigen Graben zwischen Damals und Heute überwindet D. mit der Annahme anthropologischer Grundkonstanten, die er in den in allen Religionen enthaltenen Archetypen im Sinne C. G. Jungs zu finden vermeint und die ihm den Schlüssel zum Verständnis biblischer Texte gibt. Hieraus leitet D. konsequent einen Universalismus des Religiösen ab, der den Anspruch absoluter Wahrheit des christlichen Glaubens ausschließt und ihn unter Hinweis auf den Dalai Lama letztlich nur als eine kulturelle Ausprägung von Religion gelten läßt:

"Selbst um das Wesen des ’Christlichen’ zu beschreiben, werden wir daher nach Formen und Wendungen suchen müssen, die alle (kursiv im Text) Menschen verstehen und mitvollziehen können, gleichgültig, ob ihre geistige Heimat der Buddhismus, der Islam, der Hinduismus, das Judentum, der Taoismus oder was auch immer ist" (I, 40).

Die Sprache dieser Bände ist äußerst assoziativ und mag auf viele Leser einfühlsam wirken. Aber es besteht damit auch ein erheblicher Mangel an Diskursivität, die für eine eindeutige Begriffsbestimmung unabdingbar ist. Auch die an manchen Stellen berechtigte Kritik an den vielfältigen Verobjektivierungen der Dogmatik sollten nicht dazu verleiten, zu einer generellen Ablehnung wissenschaftlich analytischer Reflexion über das Glaubensgut einer religiösen Gemeinschaft zu kommen. Bei aller Notwendigkeit der Rückübersetzung dogmatischer Aussagen in den Lebenskontext des Menschen bedarf es auch des Wächteramtes der wissenschaftlichen Theologie. Gerade die Thesen D.s sind ein Beispiel für diese Notwendigkeit. Wissenschaftliche Theologie/Dogmatik vermag nämlich Verkrustungen und Verengungen innerhalb der religiösen Praxis aufzubrechen, nach deren Herkunft zu fragen, sie in Korrelation zur biblischen und theologiegeschichtlichen Tradition zu setzen und dadurch eine Hermetik der Lebenswelt aufzubrechen.

Bei der Beurteilung von über 1500 Seiten "Drewermann" steht der erschöpfte Rez. vor einem Dilemma. Er muß feststellen, daß es sich hier im Kern um eine Repristination liberaler Evangelischer Theologie der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in katholischen Gewande handelt. Die Ablehnung der Eschatologie, die massive Dogmenkritik im Namen Jesu, die Sehnsucht nach Universalität des Religiösen, die Abwertung des Judentums als negativer Folie und der subjektive Wirklichkeitsbegriff deuten hierauf ebenso hin wie die massive Kirchenkritik. Die Betonung der natürlichen Gotteserkenntnis hat auch in dem Pathos der Formulierung D.s tiefe katholische Wurzeln:

"Was Gott uns zu sagen hat, sagt er durch Menschen, durch Tiere, durch Bäume, durch alles, was schön ist, aber gewiß nicht durch Barette und Birette, Talare und Beffchen, Chormäntel und Uniformen; sie sind in seinen Augen nur eitel, überflüssig und lästig".

Auch die Bestimmung von religiösem Glauben als eine Funktion von Mystik (I, 25) ist eine durchgängige katholische Nebenlinie. D. hebt sich von den Gedanken der Theologie des 19. Jh.s dort ab, wo er deren Historismus durch eine Psychologie des frühen 20. Jh.s ersetzt und mit existentialer Philosophie und Exegese anreichert. Damit verweigert sich D. auch der heutigen theologischen Forschung. Ich habe kein nach 1970 geschriebenes wissenschaftliches Buch entdecken können, das D. rezipiert. Doch mein Dilemma besteht darin, daß ich mir eingestehen muß, daß D. offensichtlich die Herzen vieler Menschen erreicht, die sich schon lange von den Kirchen abgewandt haben. Ihm gelingt dies dadurch, daß er Grundbefindlichkeiten heutigen Zeitgeistes wie eine allgemeine Institutionenkritik, ein bis ins Narzißtische gehender Individualismus, der häufig bis in eine allgemeine Weltangst gehen kann, suggestiv aufnimmt. Dies verbindet er mit einem in gut katholischer Tradition stehenden Moralismus, der dort den Zeigefinger hebt, wo man es erwartet: bei der Umwelt- und Friedensthematik, in Fragen der Sexualethik und besonders bei allen Fragen, die mit angeblicher Machtausübung über das selbstbestimmte Individuum zu haben. Doch wäre es zu billig, D.s Bücher mit den Mitteln der Schultheologie zu zerreißen. Sein Erfolg bei vielen Menschen ist eine Anfrage an Theologie und Kirche.