Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2007

Spalte:

433-435

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stettberger, Herbert

Titel/Untertitel:

Nichts haben – alles geben? Eine kognitiv-linguistisch orientierte Studie zur Besitzethik im lukanischen Doppelwerk.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2005. 568 S. m. Abb. gr.8° = Herders Biblische Studien, 45. Geb. EUR 55,00. ISBN 3-451-28532-0.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

So häufig wie kein anderer Evangelist thematisiert Lukas den materiellen Besitz des Menschen und wirft unablässig die Frage nach den rechten Umgang mit demselben auf. Die bizarre Formulierung des Titels wirft die Doppelfrage auf: Ist Lukas der »Evangelist der Ar­men« (W. Schmithals) oder der »Evangelist der Reichen« (H. J. Held)? Die vorliegende Publikation ist die fast um die Hälfte re­duzierte Version der in München unter Franz Laub erarbeiteten Dissertation. Das phänomenologische Erscheinungsbild der Be­sitz­tums­the­matik im lukanischen Doppelwerk an der Textoberfläche (15-49) ist ambivalent. Bisherige Lösungsansätze bzw. Erklärungsmodelle (51-74) versuchen entweder, die Heterogenität be­tonend, dieses Problem traditionsgeschichtlich (F. W. Horn, Th. Schmeller) bzw. adressatenorientiert (H.-J. Degenhardt, L. Schottroff/W. Stegemann) zu lösen, oder, die Homogenität betonend, die reale Armut wegzuinterpretieren (L. T. Johnson, D. P. Secombe), als situativ von außen her durch Verfolgung erzwungen anzusehen (W. Schmithals) bzw. einseitig befreiungstheologisch auszulegen (R. Krüger, H. J. Held). Rückblickend auf solche Ansätze urteilt der Vf.: »Weder differenzierende (traditionsgeschichtlich, adressatenorientiert oder sozialgeschichtlich) noch ganzheitliche (symbolisch, zeitgeschichtlich angelegte oder interessenorientierte) Un­tersuchungsansätze konnten die inhärenten Ambivalenzen bezüglich der Aussagen zum Besitztum innerhalb des Lukasevangeliums sowie der Apostelgeschichte hinlänglich und überzeugend erklären« (72).
Erst auf der Basis eines Blicks hinter die Kulissen in die Tiefenstruktur der Texte, also auf der Basis kognitiv-linguistischer Analyseverfahren wird die integrative Funktion von Besitztumsaussagen evident (75–95). »Denn auf diese Weise können kognitive, d. h. wissensgesteuerte und damit gezielt initiierte und schließlich verbalisierte Schemata transparent gemacht werden« (94; vgl ThLZ 131[2006], 520–521). Dazu wird zunächst propädeutisch für jedes Segment die konzeptionelle Struktur des Besitzbegriffs selbst offengelegt (»Identifikationsanalyse«, 77–80.486), wobei die semantische Grundstruktur des Besitzbegiffs deutlicher wird, da man sich auf Lexikoneinträge für Besitz nicht verlassen kann. Das gesamte Textkorpus des lukanischen Doppelwerks wird auf die Verbalisierung der kognitiven Grundschemata HABEN (97–215), GEBEN (215–378) und NEHMEN (378–481) hin untersucht. Denn »sämtliche Untersuchungen zur lukanischen Besitzethik setzen bis in jüngste Zeit hinein (Held 1997, Krüger 1997, Petracca 2003) einen fixen Besitzbegriff voraus. In den Blick kommt dabei (unbewusst, da offenkundig nicht reflektiert) primär der HABEN- und sekundär der GEBEN-Aspekt nach dem Motto: Die Armen haben nichts, die Reichen haben viel; deshalb sollen die Reichen ihren Besitz teilweise oder ganz den Armen geben. Völlig ausgeklammert wird dabei die NEHMEN-Komponente! Um der lukanischen Konzeption des Besitz-Begriffes gerecht werden zu können, muss also gerade auch die Nehmen-Komponente untersucht werden« (80). Indem die »Klassifikationsanalyse« (80–81.486) dies an sämtlichen Lexemen (Verben, possessive pronominale bzw. attributive Konstruktionen, Nomina sowie nominalisierte Wendungen) vornimmt, wird das Aussagenkontingent ganz erheblich gegenüber den gängigen punktuellen Untersuchungsansätzen erweitert. Weiter wird auch eine Differenzierung der Referentialität sinnvoll: Abstrakta (z. B. Hab und Gut) sind folglich von Konkreta (Geld) zu unterscheiden, wobei abstrakte Lexeme alle potentiellen Leser an­sprechen, aber vage bleiben, konkrete Referenzen aber tendenziell eine Zielgruppe verstärkt und verbindlicher erreichen. Die »Tiefensyntaxanalyse« (81–86.486–487) benutzt die sechs »Tiefenkasus« Fillmore’s, um die Kasuskonfigurationen in Sätzen gegenüber einer rein formal-syntaktischen zu präzisieren: Das HABEN-Muster hat die Tiefenkasus »Dative« und »Objektive«, das GEBEN- und NEHMEN-Muster dazu zusätzlich noch den »Agentive«. Schließlich werden in der »pragmalinguistischen Prototypen- sowie Stereotypenanalyse« (86–92.487) auf der Ba­sis illoku­tionärer Indikatoren (konkrete Anweisungen, Bewertungen, das vorbildhafte Verhalten Jesu bzw. seiner Protagonisten) drei Sko­pusebenen benannt: vor allem metaskopische Aus­sagen (die die Rezipientenschaft zu einem dynamischen Besitz­verständnis animieren), daneben direktskopische (direkt referentielle Besitztumsaussagen, ohne weitere metakommunikative In­tentionen hinsichtlich des Besitzes wie Lk 12,6.59), und indirekt­skopische (Wörter aus dem Wortfeld Besitz, die weder besitztumsrelevante Informationen noch metakommunikative Bezugnahmen intendieren wie Lk 5,2.6 f.). Aus den metaskopischen Besitztumsaussagen lässt sich das Prototypenkonzept des Lukas ableiten, aus den beiden restlichen sein Stereotypenkonzept. Abschließend werden die analysierten Daten einer »qualitativen Evaluation« in einem dreidimensionalen Bewertungsschema (positive, negative, neutrale Beurteilung von dargestellten Personen, Gegenständen, Handlungen und Situationen) unterworfen und synoptisch verglichen (92–93.487), um eine Basis für die abschließende makrostatistische Erhebung der lukanischen Gesamttendenz (488–528) zu haben.
Schon die Auswertung des Haben-, Geben-, Nehmen-Schemas (488–496) summiert die Relationen: Gut drei Viertel der ermittelten metaskopischen Besitztumsaussagen sind dem dynamischen GE­BEN- und NEHMEN-Schema zuzuordnen (199-mal + 158-mal), le­diglich ein knappes Viertel hingegen den statischen HABEN-Aussagen (104-mal). »Damit steht fest: Das lukanische Doppelwerk ist handlungsorientiert konzipiert. Gefordert werden Aktivität und Praxis … Darüber hinaus passt es ins Bild des dynamisch konzipierten Besitztumsbegriffs, dass die Erörterung mentaler und emotionaler Dispositionen gegenüber dem Besitz eine untergeordnete Rolle spielen« (525–528). »Damit hebt sich das Doppelwerk dezidiert von der hellenistischen Philosophie ab, die genau in diesem Bereich ihren Schwerpunkt setzt« (488 f.). Doch Lukas ist »darauf bedacht, das Haben von Besitz nicht kategorisch in Abrede zu stellen, sondern – stattdessen – in den meisten Fällen sogar zu bejahen und zu honorieren. Um geben zu können, ist schließlich ein Haben erforderlich. Interessant ist nun, dass alle drei Besitzdispositionen (HABEN, GEBEN und NEHMEN) positiv, negativ oder neutral enkodiert sein können und nicht nur etwa HABEN sowie NEHMEN einseitig negativ und andererseits GEBEN positiv. Das dem dritten Evangelium oft zu Unrecht zugeschriebene Motto ›Gib alles, habe nichts und nehme auch nichts!‹ wird also durch die kognitiv-linguistische makrospektrale Untersuchung eindeutig wi­derlegt … Sowohl die GEBEN- (169-mal) und NEHMEN- (100-mal) sowie die HABEN-Aussagen (62-mal) liegen sogar überwiegend im grünen, d. h. positiven Bereich« (negativ 21 + 49 + 28, neutral 8 + 10 + 14; vgl. 489 f.). Ob also »ein Mensch gut oder böse ist, entscheidet nicht allein der Umfang seines Besitzstandes. … Die exponiert platzierten Heilszusagen an die Armen und die Mahn- und Weheworte an die Reichen sind in erster Linie als Handlungsimpulse zu verstehen, Besitz im Sinne eines sozialen Mediums zu funktionalisieren« (492). Angesichts der erbrachten Einsichten stellt sich die Frage nach einer analogen Präzision bei der als Vergleich herangezogenen angeblich »dauerhaften absoluten Besitzlosigkeit« von Qum­ran (493, vgl. 27 f.102 im Anschluss an Degenhardt und R. Pesch), die H. Stegemann (1993: 245–264) kritisiert und zurechtgerückt hat: »Tatsächlich aber beschränkte sich die Gütergemeinschaft der Essener ausdrücklich auf die Eigentumsrechte der Mitglieder als beanspruchbare Grundlage der religiösen Pflichtabgabe. Mit ih­rem Besitz konnten die Essener sogar Handel treiben, bei spielsweise Überschüsse aus der Getreideernte anderen Juden verkaufen, Werkstatterzeugnisse sogar an Heiden. Ihr Eigentum hingegen war grundsätzlich unveräußerlich« (ebd., 259). – Literaturverzeichnis und Register (Begriffe, Bibelstellen, Autoren) be­schlie­ßen den gehaltvollen und anregenden Band.