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Ausgabe: | April/2007 |
Spalte: | 429-431 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Klein, Hans |
Titel/Untertitel: | Das Lukasevangelium. Übers. u. erklärt v. H. Klein. 1. Aufl. dieser Auslegung. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 745 S. gr.8° = Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, I/3 (10. Aufl.). Lw. EUR 89,00. ISBN 3-525-51500-6. |
Rezensent: | Christfried Böttrich |
Wer heute noch einen Evangelienkommentar in einem Band zu schreiben vermag, beweist außer einem hohen Maß an Disziplin auch den Mut zur Konzentration. Die Kommentierung des Lukasevangeliums im traditionsreichen KEK durch Hans Klein, der damit nach einer langen, 105-jährigen Pause die Nachfolge von B. Weiß antritt, lässt beides erkennen. Dass sie ihren Vorgängerkommentar dennoch an Umfang weit überholt, liegt an der Entwicklung, welche die Lukasexegese seither durchlaufen hat. Daran ist auch K. seit vielen Jahren beteiligt gewesen, so dass er in seinem Kommentar auf profunde Vorarbeiten aufbauen kann. Dem Profil der Reihe entsprechend setzen die einzelnen Perikopen mit Übersetzung und Auswahlbibliographie ein, gefolgt von Beobachtungen zu Tradition, Sprache, Form und Struktur des jeweiligen Abschnittes, bevor die Vers-um-Vers-Auslegung dann das Spektrum zwischen Sachinformation und theologischer Deutung ausleuchtet. Größere Einheiten werden jeweils durch Einführungen eröffnet. 38 Exkurse sind in die Auslegung eingeschaltet und behandeln charakteristische Themen im Querschnitt. Sehr knapp bleiben das griechische Wortregister (24 Begriffe) und das Sachregister (63 Begriffe).
In der Beantwortung der Einleitungsfragen greift K. weithin auf jene Studien zurück, die dem Kommentar im gleichen Verlag vorausgegangen sind (Lukasstudien, Göttingen 2005). Die Gattung des Lukasevangeliums bestimmt er im Anschluss an 1,4 als »Repetitorium für Katechisierte«, das den Weg Jesu von der Geburt bis zur Aufnahme in den Himmel erzählerisch entfaltet. Im Blick auf die Quellen sieht er Lukas vor allem von Q geprägt; Mk liefert ihm den historischen Rahmen (wobei K. von einer leicht überarbeiteten DtMk-Fassung ausgeht); das Sondergut betrachtet er als Einheit; der Passions- und Ostergeschichte gesteht er eine von Mk unabhängige Tradition zu; die Kindheitsgeschichte beurteilt er als »eine Überlieferung sui generis«; mündliche Traditionen und Bezüge auf ›die Schriften‹ kommen hinzu. Der alten These eines Protolukas schließt sich K. nicht an. Stilistisch ist Lukas vor allem an der LXX orientiert. Hinsichtlich der Gliederung entscheidet sich K. für ein Modell, das den sachlichen Zusammenhang der verschiedenen Ursprungsgeschichten sowie den der Vollendung von Lehre und Leben in Jerusalem besonders betont (s. unten). Die Botschaft des Lukas betrachtet K. unter dem Stichwort einer ›narrativen Theologie‹, die er in 14 Themenfeldern skizziert. Grundlegende Bedeutung hat dabei die Konzeption vom »Weg des Heils«, wie sie Apg 16,17 expressis verbis benennt und wie sie in dem großen zweibändigen Erzählwerk dann konsequent umgesetzt wird. Die Relation von Zeit und Geschichte erklärt sich für K. nicht im Sinne des Conzelmannschen Epochenschemas, sondern im Sinne einer Erfüllung der Schrift in der Zeit, »wodurch Dinge zum Durchbruch kamen, die bis zum ›Heute‹ bestimmend sind. Das Charakteristische dieser Epoche war nicht die besondere Zeit, sondern der besondere Mensch Jesus …« (54). Vieles, was in dieser Kurzfassung lukanischer Theologie noch fehlt, wird später in Exkursen aufgenommen. Eine eigenständige Position bezieht K. hinsichtlich der Person des Verfassers: Lukas war Städter, als Sklave geboren und mit solider Schulbildung ausgestattet; seine Bildung ist nicht die der Elite, sondern die eines begabten Aufsteigers; vermutlich war er unverheiratet. Für die Perspektive des Lukas ist das Mittelmeer bestimmend; wahrscheinlich hat er die Sammlung seiner Texte an der Ostküste, die Niederschrift aber in Philippi vorgenommen. Der Kommentar folgt durchgehend dem Text von Nestle/Aland und weicht nur in 6,1 und 10,41 davon ab.
Wichtige Grundentscheidungen für die Auslegung fallen hinsichtlich der Strukturierung, die schon die eigenen Wege andeutet. K. gliedert den Makrotext in vier große Teile und rückt dabei die geographischen gegenüber den sachlich-theologischen Signalen in den Hintergrund.
Im ersten Teil (Anfänge, 1,5–4,44) fasst er die Kindheitsgeschichte mit der Wirksamkeit des Täufers und dem ersten Auftreten Jesu zusammen. Die entscheidende Zäsur setzt er damit erst nach der Antrittspredigt und dem Kafarnaumtag, weil Jesus bis dahin allein wirke. Der Beginn des zweiten Teils (Jesu missionarisches Wirken, 5,1–9,50) wird somit vor allem durch die Berufung der Jünger markiert. Darunter fallen drei Einheiten: das Wort (5,1–6,19), Glaube und Rettung (7,1–8,56) und Jüngerschaft (9,1–50). Der dritte Teil (Jesu Lehre auf dem Weg, 9,51–19,10) behält gegen alle Auflösungstendenzen in der neueren Exegese den Charakter einer ›central section‹ bei, wofür (was Konsens ist) 9,51 als das entscheidende Anfangssignal gilt. Für die schwierige Feingliederung dieser großen Einheit, in der der Weg nach Jerusalem »zum Urbild des Weges des Christen und der Christenheit« (360) wird, geben thematische Zusammenhänge in relativ loser Abfolge den Ausschlag. Einen Abschluss sieht K. insofern bei 19,10 (nach der Zachäusgeschichte), als hier der Weg nach Jerusalem und die ihm zugeordnete Lehre enden; mit 19,11 beginnt geographisch (im Einzugsbereich der Stadt) und sachlich (Jesus wird als König proklamiert) ein neuer Abschnitt. Der vierte Teil (Die Vollendung der Welt und die Verherrlichung Jesu, 19,11–24,53) fasst die letzte Phase der Wirksamkeit Jesu in Jerusalem mit den Ereignissen von Passion und Auferstehung zusammen. Für den zweiten Abschnitt dieses vierten Teiles (ab 22,1) wird dabei der Begriff der ›analempsis‹ (9,51) in Anspruch genommen; die beiden Unterabschnitte heißen dann ›exodos‹ und ›anastasis‹. Insgesamt ist in dieser Gliederung die Spannung zwischen Ursprung und Ziel sowie die Dynamik der Bewegung aufgenommen, was insgesamt der Eigenart des Lukas, anhand der Jesusgeschichte eben den »Weg des Heils« darzulegen, adäquat entspricht.
Einige ausgewählte Beispiele können verdeutlichen, wo K. mit seiner Auslegung Akzente setzt. Hinsichtlich der Frage, ob in den hymnischen Passagen der Geburtsgeschichte liturgische Stücke oder literarische, auf den gegenwärtigen Kontext hin konzipierte Texte vorliegen, entscheidet sich K. für Ersteres – das Magnifikat führt auf ein Frauengebet zur Reinigung nach einer Erstgeburt zurück, das Benedictus verbindet einen makkabäischen Psalm mit Traditionen aus dem Täuferkreis, das Nunc dimittis reflektiert ein Sterbegebet aus anderem Zusammenhang, allein die Eigenart des Gloria bleibt unentschieden. Unbestritten ist die Programmatik der Antrittspredigt in Nazaret (4,16–30) für die gesamte Erzählung, wenngleich sie auf zweifache Weise relativiert wird: Zum einen rückt sie in der Gliederung von der Position einer Auftaktgeschichte zurück ins Glied jener Erzählungen von den Anfängen, zum anderen werden die großen lukanischen Motivlinien, die hier noch einmal gebündelt vorliegen (Schriftbezug, Geistbegabung, Evangelium, Gottesherrschaft, Abweisung und Zuwendung, Todesbedrohung usw.), nur angedeutet.
Eine sehr viel stärkere Programmatik erhält die Episode von der Jüngerberufung (5,1–11) als Eröffnung des zweiten Teiles, wobei jedoch die Rolle des Petrus, auf den sich hier alles Interesse konzentriert und der fortan als Erstapostel und Wegbereiter eine dominierende Rolle spielt, eine stärkere Beachtung verdiente – bis hin zu seiner auffälligen Entlastung im Scheitern der Passionsereignisse; hinsichtlich des Fischfangwunders plädiert K. mit Blick auf Joh 21 für eine ursprüngliche Ostererzählung, die schon vor Lk zum Epiphaniebericht umgestaltet worden sei. Für die Feldrede (6,20–49), »eine Zusammenfassung christlicher Verhaltenslehre für Gemeindeglieder«, denkt K. als Adressatenkreis sowohl an Nachfolgerinnen und Nachfolger als auch an Sympathisanten und Außenstehende; Wort und Tat gehören zusammen. In der Salbungs- geschichte 7,36–50 werden die Bezüge zu Mk und Joh nur gestreift, dafür aber die Leer- und Schnittstellen der Erzählung deutlich herausgearbeitet. Die Rolle von Frauen behandelt ein eigenständiger Exkurs im Anschluss an 8,1–3, wo Frauen dezidiert als ›Nachfolgerinnen‹ bezeichnet werden; in dieser umstrittenen Frage bedürfte es freilich noch weiterer Argumente, um den Status der Frauen über den von sozial höher gestellten Wohltäterinnen der Jesusbewegung hinaus als Anhängerinnen in der Nachfolge begründen zu können. Die doppelte Gestalt der Aussendungsüberlieferung bei Lk (9,1–6/10,1–20) wird nicht eigens thematisiert; inwiefern hier eine Korrespondenz zum reduzierten Speisungswunder besteht oder ein Vorhinweis auf die Völkermission gesetzt wird, bleibt offen; für die ›Ausrüstungsregel‹ wäre es spannend, gerade bei Lk auch die Bezüge zum Typos des wandernden Kynikers zu bedenken. Differenzierter als viele andere Kommentatoren behandelt K. die Samaritanergeschichten des Lk; in 10,25–27 betont er vor allem die Trennung im Kult; allein in 17,11–19 bleibt die Problematik des Begriffes ›allogenes‹ offen. Im Anschluss an Lohmeyer betrachtet K. 11,1–13 als eine »Gebetsdidache«. In den Gleichnissen vom Verlorenen (15,1–32) sieht er den Akzent auf der Mitfreude liegen. Die Schlüsselfrage in der Parabel vom ungerechten Verwalter (16,1–13) nach der Identität des ›kyrios‹ von 16,8 entscheidet K. zu Gunsten des ›reichen Mannes‹; die sekundär angefügten Kommentarworte werden erst ab 8b gerechnet. In der Passionsgeschichte arbeitet K. die lukanischen Besonderheiten in der konkreten Auslegung heraus. Für den Mahlbericht (22,14–20) setzt er die Langfassung als ursprünglich voraus. Die Mahlgespräche (22,24–38) sind als Vermächtnis gedacht, das zur Bewährung motivieren soll. Für das Prozessgeschehen selbst wäre das Modell eines römischen Akkusationsverfahrens stärker zu vergleichen, an dem Lk seine Veränderungen gegenüber der Mk-Vorlage offensichtlich orientiert. In den Erscheinungsberichten trägt das Moment der Erinnerung bzw. des Rückbezuges auf Erfahrung und Schrift gleichermaßen den Ton. Die Himmelfahrtserzählung (24,50–53) beurteilt K. als freie Gestaltung einer älteren Entrückungserzählung, die von Lk zum wirkungsvollen, offenen Abschluss gemacht worden ist: »Die Perspektive ist offen auch für das christliche Leben, das Leser und Leserinnen in den christlichen Alltag und den Gemeindegottesdienst weist.« (743)
Bei dem durchgängig engen Anschluss des Kommentares an den Textverlauf erweisen sich die zahlreichen Exkurse als besonders hilfreich, um die großen Motiv- und Sinnlinien des Makrotextes sichtbar zu machen. Dass hier auch noch weitere Felder denkbar und wünschenswert sind, versteht sich von selbst. Dadurch aber wird das Verdienst dieses profilierten, übersichtlich und informativ angelegten Bandes nicht geschmälert.
Im Vorwort hatte K. auf den geschichtlichen Kontext seiner exegetischen Arbeit verwiesen: Die Beschäftigung mit den Texten der Bibel in Konfrontation zu einer »dem Leben fremden Ideologie« in Osteuropa vor den Umbrüchen des Jahres 1989 hat ihn vor allem die Offenheit und das auf Veränderung drängende Potential des lukanischen Textes wahrnehmen lassen. Eine solche Wahrnehmung schlägt sich in vielen Details der Auslegung spürbar nieder. K. hat einen Kommentar geschrieben, der sich dank seiner Frische ein weites Publikum in Wissenschaft und praktischer Arbeit erwerben wird.