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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

427-428

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ehrman, Bart D.

Titel/Untertitel:

Studies in the Textual Criticism of the New Testament.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2006. IX, 406 S. gr.8° = New Testament Tools and Studies, 33. Geb. EUR 105,00. ISBN 90-04-15032-3.

Rezensent:

Tobias Nicklas

Bart D. Ehrman gehört zu den Exegeten, die der Disziplin neutestamentlicher Textkritik in den vergangenen Jahren entscheidende Impulse gegeben haben. Dabei versteht E. immer wieder zu provozieren und Diskussionen anzufachen, die dann in manchen Fällen sehr kontrovers verlaufen können. Bereits aus diesen Gründen bildet der nun erschienene Sammelband mit insgesamt 21 Beiträgen E.s eine willkommene Möglichkeit, sich noch einmal entscheidenden Aspekten von E.s textkritischem Arbeiten zuzuwenden.
Nach einem knappen einführenden Artikel zum Stand der Forschung in der neutestamentlichen Textkritik folgt eine Reihe von Artikeln, die sich mit methodologischen Fragen auseinandersetzen: E. beschreibt hier z. B. die Fortschritte bei der Klassifikation neutestamentlicher Handschriften oder setzt sich mit der Einteilung neutestamentlicher Manuskripte in Kurt und Barbara Alands Grundlagenwerk Der Text des Neuen Testaments auseinander. E. kritisiert, dass die Alands weder mit der Methode von Ernest Colwell, noch mit der Claremont Profile Method (F. Wisse/P. McReynolds) gearbeitet hätten. Anders als die genannten Autoren klassifizierten die Alands neutestamentliche Handschriften auf Grund ihrer Nähe zum (hypothetischen) Originaltext. Gerade die Verwendung dieser Kategorie greift E. an. Gemeint ist damit de facto ja natürlich nicht der Text der neutestamentlichen Autographen, sondern der Text der kritischen Editionen (GNT4 und NA26). Damit verweist E. zu Recht auf eine Tautologie, einen argumentativen Zirkel, der sich mit Hilfe anderer Methoden hätte vermeiden lassen. Da das Gewicht der Handschriften sich in erster Linie am Text der kritischen Editionen misst, bietet die Alandsche Kategorisierung keine Möglichkeit, um die Qualität des Textes der Editionen aufs Neue zu überprüfen und sicherzustellen.
Sicherlich zu E.s grundlegendsten Beiträgen gehört die Arbeit »The Text as Window: New Testament Manuscripts and the Social History of Early Christianity«, in der er die Disziplin neutestamentlicher Textkritik (und Textgeschichte) nicht nur mit den immer mehr an Gewicht gewinnenden sozialgeschichtlichen Fragestellungen neutestamentlicher Exegese verbindet, sondern darin auch ein konkretes Arbeitsprogramm ausarbeitet, das er inzwischen zum Teil selbst bewältigt hat. Auch wenn man im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern Verbindungen zwischen Varianten des neutestamentlichen Textes und sozial-, aber auch theologiegeschichtlichen Diskussionen der christlichen Antike hergestellt werden können, eher zur Vorsicht mahnen möchte, sind E.s Beobachtungen zu Tendenzen in neutestamentlichen Handschriften hochinteressant. In jedem Falle helfen sie, deutlich zu machen, dass der Text des Neuen Testaments als dynamische Größe zu be­trachten ist, die in ihren verschiedenen (wie auch immer entstandenen) Differenzierungen rezipiert wurde (und wird). E. bleibt aber nicht einfach bei den Texten der verschiedenen Handschriften stehen, er zeigt auch, dass die konkreten Manuskripte selbst als »Fenster« in die Geschichte des frühen Christentums interpretiert werden können.
Vor diesem Hintergrund sind auch einige der weiteren Beiträge zu verstehen, in denen E. seine theoretischen Erwägungen an konkreten Beispielen ausführt. Ausführlich beschäftigt sich E. mit den Varianten σπλαγχνισθείς – ὀργισθείς in Mk 1,41 (und ihrer Be­deutung im jeweiligen Kontext); er stellt nicht nur souverän die Bezeugung beider Lesarten und die Gründe für und gegen ihre Ursprünglichkeit zusammen, sondern gibt mit Hilfe anderer Passagen aus dem Markusevangelium auch eine exegetische Erklärung für den »Ärger« Jesu: »Jesus is angered when anyone questions his authority or ability to heal – or his desire to heal. … So too in our account, 1:39–45, Jesus is approached by a leper who says, ›If you are willing, you are able to cleanse me.‹ But why would Jesus not be willing to heal him? Of course he is willing, just as he is authorized and able. Jesus is angered – not at the illness, or the world, or the law, or Satan – but at the very idea that anyone would question, even im­plic­itly, his willingness to help one in need« (138).
Vergleichbares bietet E. auch zu bekannten textgeschichtlichen Problemen im Zusammenhang mit Lk 22,19–20; Lk 22,43–44; Joh 7,53–8,11 oder 1Joh 4,3. Immer wieder spielt dabei der von E. geprägte Begriff der »Orthodox Corruption of Scripture« eine Rolle – die Beispiele E.s sind gut gewählt; da er als Textkritiker auch mit den Fundamenten des Fachs vertraut ist, funktionieren sie auch.
Die letzten drei Arbeiten des Bandes sind bisher unpubliziert – sie gehen auf die Shaffer Lectures E.s an der University of Yale (Ok­tober 2004) zurück. Hier entfernt sich E. sicherlich am weitesten von klassisch textkritischen Fragestellungen: Ausgehend von der These, dass Texte nicht zu Interpretationen zwingen, sondern sie er­möglichen, bzw. dass sie verschiedene Leseweisen zulassen, geht E. auf Aspekte der frühen Interpretationsgeschichte des Lukasevangeliums ein. Hoch interessant sind in diesem Zusammenhang z. B. die im ersten Vortrag gebotenen Thesen zu Markions Deutung dieses Textes. E. stellt hier etwa die Frage, ob nur Markion – wie Tertullian ihm unterstellte – den Text des Lukasevangeliums veränderte, um seine Interpretation des Textes darin entdecken zu können. E. arbeitet insgesamt fünf Strategien heraus, die es – beiden Seiten – ermöglichten, ihre Leseweise des Texts durchzusetzen: 1. die Kommentierung, 2. das Verfassen polemischer Traktate ge­genüber Vertretern anderer Interpretationen, 3. Eingriffe in den Text, 4. die Neu-Kontextualisierung in einen Kanon sich gegenseitig interpretierender Schriften sowie 5. den Versuch, alternative Texte mit eindeutiger Tendenz durchzusetzen. Im zweiten Vortrag konzentriert sich E. auf adoptianistische Interpretationen des Lu­kasevangeliums, im dritten erarbeitet er Strategien, die eine anti­jüdische Leseweise dieses Textes forcieren: So bietet er Beispiele textueller Veränderungen zur Verstärkung antijüdischer Tendenzen (z. B. Lk 23,34; weniger sicher wäre ich im Falle von Lk 6,5D) oder erinnert daran, dass der Codex Sinaiticus den Barnabasbrief enthält, im Kontext von dessen Antijudaismus eine projüdische Leseweise des Lk unwahrscheinlicher wird.
Man muss E. sicherlich nicht in allen Punkten folgen – er verdient aber unbedingt gelesen und diskutiert zu werden: Dieser Band ist sicherlich nicht nur ein »Muss« für Wissenschaftler, die sich für neutestamentliche Textkritik interessieren, er bietet eine Vielzahl von Aspekten, die für Exegeten und Philologen verschiedenster Schwerpunkte interessant sind.