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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

422-425

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Watson, Rebecca S.

Titel/Untertitel:

Chaos Uncreated. A Reassessment of the Theme of »Chaos« in the Hebrew Bible.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. XIX, 504 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 341. Lw. EUR 118,00. ISBN 978-3-11-017993-4.

Rezensent:

Beat Weber

In dieser Studie »kämpft« Rebecca S. Watson gleichsam einen »Kampf« mit den »Chaos-Kämpfern« – an deren Spitze Hermann Gunkel und John Day! Dies geschieht mit Intensität und auf hohem Niveau. Der Monographie liegt eine unter Paul M. Joyce an der Universität Oxford verfasste Doktoraldissertation zu Grunde, die für die Drucklegung revidiert und um ein längeres Kapitel (XI.) erweitert wurde. Darin werden auch die außerpsalmischen Belege einer Beurteilung unterzogen, womit ein alttestamentlicher Gesamtbefund angestrebt wird. Die materialreiche und sorgfältig gearbeitete Studie umfasst elf Hauptkapitel und Schlussfolgerungen. Sie wird durch eine umfangreiche Bibliographie abgerundet und durch mehrere Indizes gut erschlossen.
Gemäß W. liegt, ausgehend von Gunkel (»Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit«, 1895), ein wissenschaftlicher Konsens in der gegenwärtigen Forschung insofern vor, als ausgehend von altorientalischen Stoffen (vor allem Enuma elish) auch für biblische Texte mit dem Motiv des »Chaoskampfes« gerechnet wird. Die Arbeit hat darin Aufgabe und Ziel, diese Annahme einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und – so kann das Ergebnis vorweggenommen werden – zu falsifizieren (entsprechend wird der Be­griff »Chaos« stets in Anführungszeichen gesetzt). Methodisch werden die relevanten biblischen (Psalmen-)Belege einer eingehenden Analyse unterzogen. Dabei kommt nach W. der zeitlichen Einordnung und Gruppierung der Psalmen ein e wichtige Rolle zu. Zunächst wird die Forschungsdebatte zum Thema »Chaos im Psalter« aufgerollt, beginnend mit Referat und Kritik von Hermann Gunkels einflussreicher Studie (s. o.). Problematisiert werden namentlich die Verbindung mit der Schöpfungsmotivik und die Überdehnung der komparativ-religionsgeschichtlichen Methodik.
Die Textanalyse setzt ein mit »archaic Hebrew Poetry«, worunter W. die Psalmen 29; 68 und 114 rechnet. Zunächst werden eingehend die zeitlichen Ansetzungen dieser Psalmen diskutiert und evaluiert. Eine vorexilische Datierung wird begründet. Anschließend wird die sog. »Chaos«-Thematik innerhalb dieser Psalmen untersucht. Gemeinsam ist ihnen die frühe Herkunft anzeigende Theophanie, als deren Elemente Donnersturm und Wasservorsorge zu verstehen sind. Darin erweist sich JHWH als mächtig und oft auch rettend. In dieser frühen Psalmenpoesie findet W. aber weder eine Anspielung auf eine Kontrolle über die See als Kennzeichen von Schöpfung noch auf einen Kampf mit »Chaos« (in einem Exkurs wird die Wendung םיבר םימ als Ausdruck von JHWHs Suprematie verstanden, der von Seiten der »Wasser« her keine Herausforderung bzw. kein Widerstand entgegenkomme).
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit individuellen und königlichen Klagepsalmen und Dankliedern wie Ps 18; 32; 42 f.; 69; 88; 124; 144. In ihnen erweisen sich die »Wasser des Scheol« als Schlüsselmotiv, wobei in nationalen Krisen die Rolle der »Feinde« stärker im Vordergrund steht. Im Königspsalm 18 finden sich beide Sinnlinien (die Feinde erscheinen als Gegenpart und Verbündete der Unterwelt). JHWH wird in den Funktionen als Verfolger wie auch als Befreier gezeichnet.
Die Palmen 24; 93; 46 und 65 werden im nächsten Kapitel unter dem Aspekt der »protection of Zion« behandelt. Die entsprechenden Passagen der hier erörterten Psalmen bringen die Festigkeit einer von Gott geschaffenen und erhaltenen kosmischen Ordnung zum Ausdruck, ohne von einem Konflikt zu reden.
Ein weiterer Abschnitt wendet sich den nationalen Klagepsalmen 77; 74; 89 (mit 87) und 44 zu, wieder in der gewohnten Zweiteiligkeit, dass bei jedem Psalm zunächst die Datierung bestimmt und dann die »Chaos«-Thematik erörtert wird. Nach W. stehen diese Psalmen in einem Kontinuum zu den im vorhergehenden Kapitel behandelten Zionspsalmen, insofern als die Sorge um Israels politische Geschicke im Exilsdesaster, das als Zeithintergrund für diese Psalmen angenommen wird, ihren Höhepunkt erreicht. JHWHs Heilshandeln in alter Zeit wird stark betont. Die Konfliktkonstellationen zwischen Israel und den Nationen bzw. zwischen Gott und dem Feind bilden den Hintergrund der Gebetsbitten des verzweifelten Volkes um Eingreifen. Das Hauptgewicht im Blick auf Feind-Konflikte liegt nach W. – was die Zeitgeschichte wie den Rückgriff auf das Exodus-Geschehen betrifft – deutlich auf der historischen Ebene, wenngleich hier durch die Verwendung der »Drachen«-Metaphorik bzw. -Symbolik eine »mythologische« Re­deweise hinzutritt.
An dieser Stelle sei anhand von Ps 77, an dem der Rezensent eingehend gearbeitet hat (»Psalm 77 und sein Umfeld«, BBB 103, Weinheim 1995; »Es sahen dich die Wasser – sie bebten …«, OTE 19/1, 2006, 261–280), exemplarisch ein Beleg detaillierter betrachtet. Mit gewissem Recht zählt W. diesen Psalm zu den Nationalklagen, und für die exilische Ansetzung der Asaph-Psalmen 74 und 77 kann sie sich auf eine Mehrheitsmeinung berufen, wenngleich diese Datierungen m. E. anders vorzunehmen sind. Für die Diskussion einer möglichen »Chaos«-Thematik ist die Passage Ps 77,17–21 relevant und dort insbesondere V. 17. Nach W. fehlt das Chaoskampf-Motiv, und der Abschnitt lasse sich hinreichend auf dem Hintergrund von Heilsgeschichte (Exodus) und Sturm-Theophanie erklären. Letzterer ordnet sie auch V. 17 zu, der mit V. 19 zu parallelisieren sei (mit Verweis auf Ps 114,3 f.; Hab 3,10). Ps 77 biete keinen Hinweis auf einen »Chaoskampf«, auch nicht in entmythologisierter Form.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob V. 17 als lediglich die Theophanie – üblicherweise wird die Gewittertheophanie als V. 18 f. umfassend angesehen – eröffnendes Motiv recht verstanden ist. Die Parallelität der Auswirkungen mit V. 19 (זגר »erbeben« und Synonyme) ist zwar gegeben, von der spiegelsymmetrischen Struktur von V. 16–21 her (ABCC’B’A’) ist aber V. 17 nicht auf V. 19, sondern auf V. 20 (Exodus-Geschehen) bezogen. Zudem erscheinen die »Wasser« in V. 17 (anders als die »Erde« in V. 19) personifiziert. Sie bekommen damit den Anstrich »feindlicher Mächte« und werden im Kontext der vorangegangenen V. 15 f. (mit Schilfmeerlied-Hintergrund) diesbezüglich in die Nähe der »Völker« gerückt. Historische (V. 15 f., vgl. 20 f.) und mythologische (V. 17) »Feind-Mächte« werden damit gleichsam verschliffen, um grundlegendes, Geschichte und Mythos verbindendes Heilsgeschehen auszusagen. Dass dabei mit V. 17 adaptierend auf das Chaoskampf-Mythologem zurückgegriffen wird, ist wahrscheinlich. Allerdings ist W. darin zuzustimmen, dass hier von keinem Kampf (und schon gar nicht von »Schöpfung«) die Rede ist, vielmehr führt allein die Wahrnehmung der Präsenz JHWHs zum Erschrecken (und Zurück­weichen). Die Aussage dient dazu, den Triumph und die Souveränität des Königsgottes über Geschichte wie Kosmos zu explizieren und so in notvoller Zeit Gottvertrauen und Zuversicht zu stiften.
Die Untersuchung der hymnischen, als spät- oder nachexilisch an­gesehenen Stücke Ps 96; 98; 148; 135 führt zum gleichen Negativergebnis: Es liegen keine Anspielungen auf ein »Chaos«-Motiv vor.
Im nächsten Abschnitt geht es um die Schöpfungsmotivik und ihre allfällige Verbindung zum »Chaoskampf«. Dazu werden die Psalmen 24; 95; 146; 148; 136; 33 und – am ausführlichsten – Ps 104 einer Analyse unterzogen. W. hält fest, dass die Schöpfungsthematik erst ab der spätvorexilischen Zeit erscheint, also nicht – wie bei einer Verbindung mit der »Chaos«-Motivik zu erwarten wäre – in frühen Belegen. Eine Verbindung von »Schöpfung« und »Chaos« kann nach ihr in den genannten Texten nicht validiert werden.
Zuletzt werden die drei »Geschichtspsalmen« 78 (spätvorexilisch) sowie 106 und 136 (beide nachexilisch) und ihr Reden von der Durchquerung des Schilfmeers betrachtet. Auch in diesen Psalmen ist das Ergebnis hinsichtlich »Chaoskampf« nach W. negativ.
Der den Psalmen gewidmete Hauptteil des Buches wird mit einer Zusammenstellung der Resultate abgeschlossen. Hinsichtlich des »Chaoskampf«-Themas heißt das, dass »there is no un­equivocal internal evidence pointing to its existence in any of the texts considered« (259). Ebenso sei keine klare kausale Beziehung zwischen »Schöpfung« und »Chaos« auszumachen; wo solche Verbindungen sich andeuteten, seien diese als relativ spät und als sekundäre Entwicklung von JHWHs Kontrolle über die kosmischen Wasser einzustufen. Entsprechend ist die Redeweise vom »Chaoskampf«-Motiv in der Bibel als Eintragung zu beurteilen, die me­thodisch auf eine Überbewertung der Ähnlichkeiten bei religionsgeschichtlichen Vergleichen zurückzuführen sei. W. zeichnet eine Entwicklungsgeschichte der untersuchten Motivik, die vom Reden über Gottes Kommen (Theophanie) bis hin zu nachexi­lischen Hymnen mit ihrem Schöpferlob reicht.
Angefügt ist ein längeres, über 100 Seiten umfassendes Kapitel, das die Fragestellung über die Psalmen hinaus ins übrige Alte Tes­tament ausweitet. Wesentliche sog. »Chaos«-Belege, die einer eingehenden Erörterung unterzogen werden, sind Passagen aus den Büchern Hiob (Hi 3,3 ff.; 7,12; 9,8.13; 26,9.12 f.; 38,8–11; 40 f.) und Jesaja (Jes 27,1; 30,7; 51,9–11). Der Befund (die Rede vom »Leviathan« eingeschlossen) ist wie bei den Psalmen negativ.
In den Schlussfolgerungen werden die drei essentiellen Elemente »Chaos«, »Schöpfung« und »Kampf« einer Überprüfung unterzogen. Die Ergebnisse lauten: Von einem wirklichen »Kampf« zwischen JHWH und (mythologischen) Feindmächten ist im eigentlichen Sinne nicht die Rede (die Feinde leisten keinen Widerstand; sie werden nur als Befehlsempfänger, Fliehende u. a. dargestellt). Eine Verbindung von einem angenommenen »Chaoskampf« mit »Schöpfung« ist weder original noch zentral für die Bibel. Die Rede von den »Wasser«-Mächten ist weithin metaphorisch zu verstehen; sie können weitgehend – wenige Anspielungen an einen (kana­anäisch beeinflussten) Kampf mit »Jam« werden konzediert – nicht als Verkörperungen des »Chaos« verstanden werden (Belege von Rahab und Leviathan eingeschlossen). Fazit: Die Redeweise vom »Chaos« sollte im Blick auf das Alte Testament aufgegeben werden.
Die von W. geführte Auseinandersetzung geschieht materialreich und profund. Die sich in dieser Studie zeigende Vorsicht und Umsicht, die Eigenständigkeit jahwistisch-israelitischer Theologiebildung stärker zu gewichten und nicht vorschnell altorientalische Mythologeme einzutragen, ist zu begrüßen. W. ist Recht zu geben: Wenn überhaupt von einem »Kampf« gesprochen werden kann, ist der Sieg jeweils klar und die Macht und Größe JHWHs deutlich herausgestellt. Allerdings scheint in dieser Monographie tendenziell nun der Bogen auf der anderen Seite überspannt. Dass im Alten Testament wirklich keine mythologischen Momente aufgenommen und transformiert werden, die (auch) das Motiv des »Chaoskampfs« umfassen, scheint mir auch nach der Studie von W. nicht ausgemacht. Diskussionsbedarf gibt es auch bei grundlegenden terminologischen und definitorischen Bestimmungen, welche der Arbeit zu Grunde liegen. Das betrifft etwa Einschätzungen, was »literal« und »metaphorisch« meint bzw. welche Passagen ihnen zuzuordnen sind, aber auch die Bereiche »Historie« und »Mythos«. Wie auch immer: Die Studie von W. bildet eine Vorgabe, um die bei der Behandlung der einschlägigen Stellen künftige Exegese und Theologie des Alten Testaments nicht herumkommen werden.