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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

414-416

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Huning, Ralf

Titel/Untertitel:

Bibelwissenschaft im Dienste popularer Bi­bellektüre. Bausteine einer Theorie der Bibellektüre aus dem Werk von Carlos Mesters.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2005. XII, 437 S. 8° = Stuttgarter Biblische Beiträge, 54. Kart. EUR 52,00. ISBN 3-460-00541-6.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Diese von H. Frankemölle betreute Dissertation geht einem ganzen Bündel wichtiger Fragen nach: »Was tun wir eigentlich, wenn wir die Bibel lesen? In welcher Weise unterscheidet sich eine wissenschaftliche Lektüre von einer nichtwissenschaftlichen? Worin grün­det der Anspruch, dass Wissenschaftler einfachen Bibellesern bei der Lektüre helfen können und wie sollte sich diese Hilfe konkret vollziehen? Können umgekehrt die einfachen Bibelleser auch die Wissenschaftler etwas lehren?« (2) Es geht also um hermeneu­tische und methodische Fragen, die eine Vermittlung zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Bibellektüre be­treffen. H. beansprucht nicht, diese Fragen abschließend zu be­antworten, sondern will nur »Bausteine« für eine entsprechende Theo­rie bereitstellen. Seine Bescheidenheit ist sympathisch und nachvollziehbar – im­merhin handelt es sich in der Tat um außerordentlich schwierige Fragen, die jeden Exegeten immer wieder in Bedrängnis bringen.
Der erste von drei großen Teilen versucht eine »Klärung des Erkenntnisinteresses« (5–98). Dabei wird deutlich, dass H. die Konzeption einer Bibelwissenschaft anstrebt, »die sich als Dienstleisterin für nichtwissenschaftliche Bibelleser in der katholischen Kirche versteht« (6), also für »populare Bibellektüre«. Die Ergebnisse werden zwar vor allem an lateinamerikanischen Texten und Kontexten gewonnen, sollen aber auch für andere Erdteile relevant sein. Das Adjektiv »popular« übernimmt H. als Fremdwort aus dem Spanischen und Portugiesischen in der Bedeutung von »gewöhnlich, häufig (vorkommend), verbreitet; einfach; normal« (7). Der Vorteil einer solchen Terminologie ist, dass die Fremdheit dieser Art von Lektüre besser zum Ausdruck kommt, als wenn man sie »populär« nennen würde. Nachteilig ist, dass sie in manchen Zusammenhängen doch recht künstlich wirkt (z. B. in der Verbindung »populare Bibelleser«).
»Populare Lektüre« ist auf die Wissenschaft angewiesen, kommt aber in der Regel nicht in direkten Kontakt mit ihr, sondern nur über die pastorale Ebene. Hier spitzt H. sein Anliegen zu: Welchen Beitrag können die pastoralen Vermittler leisten? Dass die Dienstleistungsfunktion der Exegese tatsächlich solche Vermittler (für die exemplarisch Carlos Mesters steht) braucht, ist unbestreitbar. Aber es ist in meinen Augen völlig überzogen, davon zu sprechen, »dass es auf allen drei Ebenen (popular – pastoral – wissenschaftlich) berechtigte Bibelinterpretationen gibt, die aufgrund der Subjektivität der jeweiligen Leser alle begrenzt sind, die aber zugleich einen besonderen Beitrag leisten, den es auf den anderen Ebenen so nicht gibt« (15). Diese ausgewogene Dreiheit existiert in Wirklichkeit nicht. Die pastorale Ebene bringt keine eigenen Interpretationen hervor. Im ganzen Buch führt H. keine einschlägigen Belege an. Über weite Strecken scheint er die pastorale Ebene sogar völlig zu vergessen.
Abgesehen davon enthält der erste Teil wissenschaftstheoretische Überlegungen auf hohem Niveau: zur Perspektivität des Erkennens, zu nichtwissenschaftlichen Formen des Erkennens, zur Bedeutung der Wissenschaftsethik, speziell zur Rollenverantwortung katholischer Bibelwissenschaftler, um nur ein paar Themen zu nennen. Als Ergebnis formuliert H.: »Die Interpretation der Bibel in der Kirche muss als ein umfassender Dialog erfolgen: Ein Dialog mit den Menschen der Entstehungszeit (Autoren, Erstad­ressaten); ein Dialog mit den Interpreten der Geschichte (diachroner Traditionskonsens – der Glaube, der meiner Lektüre vorausgeht) und ein Dialog mit heutigen Interpreten (synchroner Traditionskonsens – die Bereicherung des Glaubens durch die heutigen Lektüren aller Glieder der Kirche)« (97). Vor allem Letzteres hebt er zu Recht hervor: die oft übersehene gleichwertige Rolle aller Glieder der Kirche bei der Auslegung.
Teil II ist eine umfangreiche (99–330!) Vorstellung und Auswertung des Werks von Carlos Mesters. Es gibt sehr vieles, was ein wissenschaftlicher Exeget hier lernen kann. Leider geht manches in der Fülle auch unter – hier wäre eine stärker am Erkenntnisinteresse orientierte Darstellung von Vorteil gewesen. Carlos Mesters, der 1931 in den Niederlanden geboren wurde und seit 1948 in Brasilien lebt, hat in den letzten 30–40 Jahren eine Fülle von Veröffentlichungen vorgelegt, die vor allem auf Bibelkurse und Vorträge für Basisgemeinden zurückgehen (H.s Literaturverzeichnis enthält über 100 solcher Publikationen). Die Bibellektüre vollzieht sich in Mesters’ Theorie im Spannungsfeld eines Dreiecks, nämlich zwischen Text (der eigentliche Bibeltext, dessen Anwalt die Bibelwissenschaft ist), Prä-Text (die Lebenswirklichkeit der Leser und Leserinnen, hier: der Armen und Marginalisierten in brasilianischen Basisgemeinden) und Kon-Text (die kirchliche Glaubensgemeinschaft, repräsentiert besonders durch Theologie und Lehramt). Wenn diese drei Elemente zusammenspielen müssen, dann heißt das, dass eben auch die einfachen Bibelleser und -leserinnen eine unverzichtbare Rolle haben. Über Mesters hinausgehend skizziert H. auch neuere Versuche, spezifische Hermeneutiken verschiedener Gruppen von Bibellesenden zu entwickeln: feministische, afrolateinamerikanische und indigene Perspektiven.
Der dritte und letzte Teil (331–396) soll »Perspektiven für die Weiterentwicklung der Methodik und Hermeneutik einer Bibelwissenschaft im Dienste popularer Bibellektüre« aufzeigen. Überraschenderweise finden sich hier aber kaum eigene Vorschläge H.s. Im Wesentlichen werden drei europäische und US-amerikanische Projekte und Ansätze vorgestellt: die interkulturelle Exegese von Fritzleo Lentzen-Deis, das Projekt »Through the eyes of another« von Hans de Wit und der Entwurf einer Ethik der Bibelwissenschaft von Daniel Patte. Alle drei werden kritisch gewürdigt, wobei die »pragmalinguistische« Methode von Lentzen-Deis als »Basismethode einer Bibelwissenschaft im Dienste popularer Bibellektüre« (349) sogar der Methode von Mesters vorgezogen wird.
Der Band endet nicht mit einer systematischen Auswertung, sondern mit einer kurzen »Schlussbetrachtung«. Die drei gerade genannten Entwürfe werden hier als Beispiele dafür qualifiziert, »in welche Richtung … die Methodik und Hermeneutik einer Bibelwissenschaft im Dienste popularer Bibellektüre weiterentwickelt werden müsste (sic!)« (395).
Manches vermisse ich in H.s Buch, vor allem konkrete Textarbeit. Das ganze Buch ist weitgehend ein (allerdings durchaus interessantes) Referat vorliegender Arbeiten zu nichtwissenschaftlicher Exegese. Warum H. fast völlig darauf verzichtet, seine theoretischen Überlegungen exemplarisch auf neutestamentliche Texte anzuwenden oder vorhandene Auslegungen zu analysieren, ist mir ein Rätsel. Schade ist auch, dass manche wichtigen Fragen nur angedeutet, nicht behandelt werden, weil sie, wie H. meint, den Rahmen sprengen würden (z. B. auf S. 374 die Frage nach den kulturellen Bedingungen der Bibellektüre von Mesters). Wäre die Besprechung von Mesters’ Theorie um die Hälfte kürzer ausgefallen, dann hätte davon einerseits die Besprechung selbst profitiert und es wäre andererseits noch Raum für jetzt leider fehlende Un­tersuchungen geblieben.
Manches ist m. E. deutlich zu kritisieren, so das seltsame Schwanken bei der Rollenzuschreibung an die pastorale Ebene (ist sie nun eine dritte, selbständige Ebene oder vermittelt sie nur zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Ebene?) oder der schwach begründete Vorrang, der einer synchronen ge­genüber einer diachronen Exegese eingeräumt wird (bes. 324–329).
Trotz solcher Bedenken ist festzuhalten, dass die Arbeit ihr Ziel erreicht hat: Sie trägt wirklich »Bausteine einer Theorie der Bibellektüre« zusammen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie ist ein wichtiger Beitrag zu dem unendlichen Gespräch über hermeneutische Fragen, das durch das interkulturelle Anliegen zugleich aufgewertet und kompliziert wird.