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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

83–85

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Esterbauer, Reinhold

Titel/Untertitel:

Verlorene Zeit ­ wider eine Einheitswissenschaft von Natur und Gott.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 296 S. gr.8°. Kart. DM 79,­. ISBN 3-17-014419-7.

Rezensent:

Jürgen Hübner

Die Diskussion über den Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft hat sich in jüngster Zeit auch im europäischen Bereich erneut belebt. Das vorliegende Buch, eine Dissertation an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz, ist ein wichtiger Beitrag dazu.

Beeindruckend ist die Breite der aufgenommenen neueren Literatur ­ Vollständigkeit kann hier freilich wohl kaum noch erreicht werden ­ und die präzise Auseinandersetzung mit ihr. Verschiedene Verhältnisbestimmungen, die ein Stück weit auch die geschichtliche Entwicklung des Dialogs seit dem zweiten Weltkrieg widerspiegeln (vgl. dazu EKL3 III, 648-656, auch meinen bibliographischen Bericht "Der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft" 1987), führt E. systematisch zunächst aus theologischer und dann aus naturwissenschaftlicher Sicht vor. Diese Vorgehensweise charakterisiert bereits seine eigene Sicht der Dinge: Ein Einheitsmodell, das beide Seiten auf einer Ebene zusammenfaßt, ist ohne gravierende Verkürzungen nicht möglich. Auf theologischer Seite wird anhand der Literatur zunächst einem Differenz- ein Identitätsmodell gegenübergestellt. Hier sind Kategorienverwechslungen zu konstatieren. Sodann werden einige "Mediations-" (Analogie-, Komplementaritäts-, Repräsentations-, Symbolmodell) und schließlich Rekapitulations- und Fundierungsmodelle (Anwendung der Sinnkategorie, Prozeßtheologie, Mystik, theologische Fundierung der Naturgesetze) referierend beschrieben und kritisch reflektiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt den in solchen Entwürfen verfolgten Methoden. Thematisiert wird das Verhältnis der verschiedenen Ansätze zur Philosophie, und das kann im ganzen am Verständnis und der begrifflichen Fassung des Phänomens der Zeit festgemacht werden. Die Zeitphilosophie spielt bei den Vermittlungsbemühungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft in der Tat eine zentrale Rolle.

Methodisch einfacher lassen sich von vorneherein die Dialogbemühungen von seiten naturwissenschaftlich orientierter Autoren darstellen. Hier konstatiert E. allgemein einen methodischen Reduktionismus. Dieser ist die Voraussetzung jedweden Versuchs, so etwas wie eine Einheitswissenschaft zu entwickeln, die entweder an die Stelle von Philosophie und Theologie treten oder doch deren Anliegen aufnehmen soll. Ein restriktiver univoker Zeitbegriff verdrängt hier schon im Ansatz dessen faktische Vieldeutigkeit. Diese aber hat, und darauf zielt die Darstellung, ihren Grund in der Zeiterfahrung, "in der der Mensch steht, bevor er fachwissenschaftlich an die Wirklichkeit herangeht" (204).

Das naturwissenschaftliche Denken wird dann explizit methodologisch mit philosophischem und theologischem Denken in Beziehung gesetzt. Anhand weiterer Beispiele aus der Dialogliteratur wird gezeigt, wie das Dilemma zwischen Methodendifferenz auf der einen und Einheit der Welterfahrung auf der anderen Seite zu überbrücken versucht wird. Als Vermittlungsinstanz begegnen Neuansätze einer natürlichen Theologie, Verankerungen der Einheit im praktizierenden Naturwissenschaftler selbst oder in einem Dritten, das als gemeinsame Wirklichkeit in einer anthropologischen Hermeneutik thematisiert werden kann. Schließlich kann von einer Ebene der "Sinnerschließung" gesprochen werden, was E. als "sekundäre Sinnaufladung" kommentiert, die ihrerseits vorgängigem menschlichen Interesse unterliegt. All diesen Ansätzen gegenüber "müßte Naturerfahrung aufgeschlossen werden, die vor naturwissenschaftlicher Gegenstandsfestsetzung erfolgt und dafür offen ist, wie sich Natur selbst zu verstehen gibt" (225). In verschiedenen Erfahrungsweisen von Natur aber wird Wirklichkeit verschieden konstituiert, und hier liegt der eigentliche Grund, weshalb jeder Versuch einer Einheitswissenschaft eine Verkürzung des Wirklichen bedeutet und deshalb unbefriedigend bleiben, ja letztlich scheitern muß. E. lastet das der Tendenz der meisten Dialogangebote an, letztlich auf naturwissenschaftliche und damit reduktive Denkstrukturen zurückzugehen. Von der Philosophie erwartet er größere methodische Offenheit. "Natur wird in der Philosophie nämlich ohne im vorhinein verfügten methodischen Rahmen zum Thema" (239). Ob das freilich so zutrifft, kann bezweifelt werden: Auch Philosophie ist nicht voraussetzungslos. Gemeint ist aber die Abhängigkeit von naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeit. Hier liegt der Skopos des Autors. Um Einseitigkeiten in umgekehrter Richtung zu vermeiden, müßte dann aber auch das philosophische Denken ausdrücklich hermeneutisch thematisiert werden.

E. findet in der Lebenswelt, in der "lebensweltlichen Erfahrung" (231 ff.) begründet, was auf der Ebene wissenschaftlicher Wirklichkeitsauffassung unterschiedliche, nicht einfach zu harmonisierende Methoden und differente Wirklichkeitsbegriffe hervorbringt. Entscheidend ist dann, vor welchem Hintergrund das in der Lebenswelt Erfahrene hinterfragt und reflektiert wird. "Der Blick, mit dem das vorreflexiv Gekannte befragt wird, bestimmt die Art und Weise, wie es Gegenstand der Reflexion wird". Dieser Blick impliziert "vormethodische ... Bedeutsamkeit", einen "vorreflexiven Bedeutungszusammenhang" (234). Hier setzen Philosophie und Theologie gemeinsam an.

Während die Naturwissenschaften von ihrer partiellen Methode und nach E. damit geradezu apriorisch von den damit einhergehenden Gegenstandsentwurf geprägt sind, habe die Philosophie "keinerlei Vorgaben im Auslegungshorizont lebensweltlicher Erfahrung" (243). Die Theologie dagegen läßt sich "einen solchen von Offenbarung vorgeben". Hier gebe es "die im Glauben angenommenen Fundamente" und deren Inhalte, die "je neu in die jeweilige geschichtliche Situation" zu übersetzen und "je neu anzueignen" sind. Ein solcher Deutungshorizont lege nicht im Unterschied zur Naturwissenschaft von vorneherein fest, "was als seiend anzuerkennen ist und was nicht". Vielmehr ist "der für die Glaubenserfahrung fundamentale Glaube nach theologischer Lehre Gnadengabe" (243), Glaubenserfahrung hat "Widerfahrnischarakter" (242). In diesem Sinne kann Natur gedeutet und verstanden werden als "die von Gott geschaffene Wirklichkeit" (240). "Solche Aussagen haben ihren Sinnhorizont nicht in der Einzelwissenschaft, sondern im Lebenskontext, in dem der Naturwissenschaftler als Person, nicht aber als Naturwissenschaftler steht" (246 f.). Die Lebenswelt ist in dieser Weise "die sowohl den Naturwissenschaften als auch der Offenbarungstheologie gemeinsame Erfahrungsgrundlage" (250). Sie allein bietet damit auch die Verbindung von Naturwissenschaften und Theologie mit deren jeweils eigenständiger Methodik und dem dazugehörigen Wirklichkeitsverständnis.

Im letzten Kapitel wird das am Problem der Zeit noch einmal durchgespielt. Auch hier gilt: "Nicht Zeit als physikalischer Parameter, sondern erlebte Zeit ist der Ausgangspunkt für den Zugang zum Problem der Zeit" (256). Von lebensweltlicher Zeiterfahrung her wird dann auch theologisches Zeitverstehen interpretiert: Es bringe als eine neue Dimension die "Nähe der Gottesherrschaft" (275) ein, die sich als "Gegenwärtigkeit der Zukunft selbst" (M. Theunissen) in der Lebensgeschichte des Christen manifestiere.

Der Rekurs auf die Lebenswelt, in der vor aller wissenschaftlichen Rationalisierung, freilich auch in deren Nachgang, Entscheidungen fallen für das Verstehen von Wirklichkeit und deren vernünftige Wahrnehmung und Gestaltung, überzeugt. Nur in der Differenzierung zwischen dem Zusammenhang unmittelbaren Lebens und methodisch kontrolliertem Reflexionszusammenhang kann das Gespräch zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie sinnvoll geführt werden. In meiner Sicht könnte diese Differenzierung noch weiter präzisiert und durchgeführt werden. Es fällt auf, daß E. für die Beschreibung lebensweltlicher Zusammenhänge immer noch oder doch wieder eine objektivierende Begrifflichkeit verwenden kann: Von "heilsgeschichtlicher Zeitstruktur" (275), universalen "Sinnstrukturen" (249), der "Vernünftigkeit" des Glaubens im Horizont auch der lebensweltlichen Erfahrung vorgegebener "geoffenbarter Wahrheit" (242) ist die Rede, ja er spricht selbst vom "Zeitbegriff" auch im Rekurs auf Zeiterfahrung und faßt auch die Lebenswelt als "Begriff", anhand dessen das damit Bezeichnete als "uneingeschränkte Wirklichkeit" vorgestellt werden soll, wobei aber "Wirklichkeit", "Wirklichkeitsverständnis", "-sicht" und "Wirklichkeitsbegriff" nicht genau unterschieden werden (227).

Kritisch zu diskutieren ist hier zugleich das, was E. immer wieder als ontologische Frage anmahnt. Im Blick auf das Leben selbst ist auch der Begriff Lebenswelt zu hinterfragen, Zeiterfahrung ist etwas anderes als wie auch immer gefaßte Zeitbegriffe, und erst recht ist der Glaube als gelebte Gottesbeziehung von Offenbarungsdogmatik zu unterscheiden, so sehr erstere in letzterer sprachliche Gestalt zu gewinnen sucht, worüber die Theologie noch einmal auf einer eigenen Ebene zu reflektieren hat. In Unterscheidung vom Lebenszusammenhang muß auch das begriffliche Denken selbst thematisiert werden: Was ist begrifflich zu fassen und was nicht? Diese Frage richtet sich nicht nur an die Naturwissenschaft, sondern auch an Philosophie und Theologie.

Es zeugt von der Qualität einer Arbeit, wenn derartige Einwände und mögliche Mißverständnisse alsbald aufgenommen, diskutiert und möglichst ausgeräumt werden. Das geschieht durchgängig: Begrifflich fixierenden Aussagen gegenüber werden jeweils erläuternde Unterscheidungen und Differenzierungen eingeführt, die auf die unmittelbare Lebenserfahrung selbst verweisen. Die Auseinandersetzung um die Ontologie ist hier aber noch nicht beendet. Hier ist nicht nur unter Theologen, sondern auch mit den Naturwissenschaftlern das Gespräch aufzunehmen, und zwar nicht das Gespräch um des Gespräches willen und über alles mögliche, sondern das Gespräch, das dem Leben dient, also Weltorientierung ermöglicht und eröffnet, damit Leben gelingt, Erfüllung findet, eine Qualität bekommt, die auch und erst recht jenseits des essentiellen Todes gilt.