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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

78–80

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Freudenberg, Matthias

Titel/Untertitel:

Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. X, 310 S. 8° = Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen, 8. Kart. DM 98,­. ISBN 3-7887-1591-X.

Rezensent:

Klauspeter Blaser

Der Haupttitel des anzuzeigenden Buches wäre leicht irreführend und etwas übertrieben, wenn er ohne die präzisierende Angabe des Untertitels gelesen würde. Andererseits bildet er eher ein understatement. Denn bevor der Autor zu der angekündigten "Auseinandersetzung" vorstößt, liefert er uns eine über 80 Seiten lange, äußerst minutiöse und wohl endgültige Untersuchung zur Berufung Karl Barths nach Göttingen, seiner dortigen Position in Kirche und Fakultät, seinem Lehrerfolg bis hin zur Berufung nach Münster. Alles was in brieflichen Äußerungen, bekannten und unbekannten, sowie weiteren Dokumenten irgendwo greifbar ist, fügt sich zu einem ziemlich lückenlosen Mosaik bzw. Geschehensablauf zusammen. Vieles war ja nachgerade bekannt (weshalb manche sich die Frage nach dem Sinn einer derartigen Untersuchung stellen mögen), anderes ist (war jedenfalls dem Rez.) weniger oder kaum geläufig und deshalb für die biographische Barthforschung eine Bereicherung.

Was ist jedoch der Sinn dieser Rekonstruktion im Ganzen des Buches? Der Autor geht von der m. E. richtigen Voraussetzung aus, Theologie und Biographie lasse sich nur kontextuell interpretieren. Deshalb liefert ihm dieser erste Teil die notwendige Grundlage zur inhaltlichen Analyse der Barthschen Arbeit und Vorlesungstätigkeit in jenem Lebensabschnitt. Gleichzeitig kündigt er damit auch an, wie er diese Analyse zu bewerkstelligen gedenke: indem er sie ebenso minutiös nach allen Seiten und mit den vorhandenen Kommentaren Barths aus jener Periode, bes. mit dem veröffentlichten Briefwechsel mit Thurneysen, Briefdokumenten aus dem Archiv, weiteren Arbeiten Barths zum jeweiligen Thema und, wo nötig, mit Sekundärliteratur absichert.

Worin besteht nun die Abhandlung zum Thema, wie es durch den Untertitel präzisiert wird? Sie umfaßt bewußt die drei zur Thematik gehörenden und von 1922-23 gehaltenen Vorlesungen sowie die oftmals daraus entstandenen Vorträge, nicht aber diejenige zum Heidelberger Katechismus von 1921/22, die Theologie Schleiermachers 1923/24 und den Unterricht in der christlichen Religion von 1924/25 (beide bereits veröffentlicht). Sicher wäre die Belehrung für den Leser noch größer, wenn auch das große Calvinkapitel wie dasjenige zu Zwingli und den Bekenntnischriften auf unveröffentlichten Manuskripten beruhen würde. Da Barths Calvin-Vorlesung inzwischen ediert und durch ein spezielles Symposion bereits gewürdigt wurde, ist Freudenbergs im übrigen wertvolle Darstellung in dieser Hinsicht ein wenig des Überraschungseffekts beraubt. Dagegen liefert er als erster eine Analyse von Barths Auseinandersetzung mit Zwingli sowie von seiner Art des Eindringens in die Welt der reformierten Bekenntnisse. Man kann Freudenberg für diese Leistung nur dankbar sein.

Es scheint mir wenig sinnvoll, diese Kapitel zusammenfassen zu wollen oder die vom Vf. gegebenen Ergebnisse zu referieren. Er notiert jeweilen den allgemeinen Charakter und die Methode, die Hermeneutik und geschichtstheologische Reflexion, Stärken und Schwächen der Vorlesung sowie Barths offene oder implizite Stellungnahme zum dargestellten theologischen Projekt. Besonders bei der Darstellung Calvins leitet Barth das Prinzip der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens und ist ihm der historische Calvin der lebendige Calvin. Deshalb ist bei allen drei Versuchen das Historische sehr wichtig, jedoch so, daß die Historie über die irdisch-menschliche Existenz in der Zeit hinaus auf die ewige Gottesgeschichte, welche alle Geschichte bedingt, weist. Zwinglis Theologie wurde von Barth als Ergänzung und Korrektiv zu Luther und als Voraussetzung von Calvin verstanden. Die relative Enttäuschung, die er aus seiner Beschäftigung mit dem Zürcher Reformator feststellen zu müssen meinte und welche darin gipfelte, diesen als Vorläufer Schleiermachers und des Liberalismus zu sehen, trug die Züge eines "produktiven Mißverständnisses": Barth verschaffte sich gerade so Klarheit für den Weg seiner eigenen Dogmatik. Bei der Auseinandersetzung mit den Bekenntnisschriften fällt das positive Bild auf, dem Barth den gegenwärtigen desolaten Zustand der reformierten Kirchen entgegensetzt. Im Unterschied zum lutherischen Bekenntnisbegriff ist ihm am reformierten Bekenntnisbegriff die Bindung an die Schrift wichtig und damit die anerkennende Wertung der Vielzahl der Bekenntnisse. Schließlich haben gerade die Einsichten in die reformierte Lehre eine wichtige hermeneutische Funktion für Barths eigenes Weiterarbeiten.

Damit stehen wir bei der Frage, was denn das Ganze der gelehrten Untersuchung überhaupt soll. Es scheint mir bemerkenswert, daß nicht einfach Barths Verhältnis zur Reformation und speziell zur reformierten Theologie Ziel des Unternehmens ist. Der Vf. will einen weiteren Beitrag leisten zur Genesis nicht des Römerbriefs und der Krisentheologie, sondern der Dogmatik Barths und also der langsamen Überwindung jener ersten Phase. "Um seinem Lehrauftrag zu entsprechen, aber auch als Vorbereitung des geplanten eigenen Dogmatik-Zyklus sucht er sich ein Bild von der reformierten Lehre zu machen... Die Bekenntnisse erscheinen Barth darum als geeignete und authentische Quellen zur Ermittlung reformierter Lehre, weil sie sich als Darstellungen einer durch Gottes Offenbarung eröffneten Einsicht verstehen" (219).

Daneben ergibt sich ihm die Einsicht, hinter Schleiermacher zurückgehend an die reformierten Reformatoren und die Orthodoxie in Freiheit anknüpfen zu sollen sowie die Relevanz und Grenze der Tradition im Gespräch mit dem Zeugnis der Schrift festzuhalten (als Referenzsystem, das die gegenwärtige theologische Arbeit keinesfalls ersetzen kann). So sind die Arbeiten dieser Periode als eine Art Zwischenbilanz anzusehen. Barth stellt sich der Herausforderung über die Predigt als Ereignis des Wortes Gottes und über den Grund theologischer Aussagen nachzudenken. Er ist auf der Suche nach einer Denkform, in der sich theologische Urteilsbildung durchführen und nachvollziehen läßt (Jüngel).

In diesem Prozeß des Lernens hat, wie die vorliegende Untersuchung belegt, die Beschäftigung mit dem reformierten Erbe eine zentrale Rolle gespielt, vielleicht auch, weil dieses mit den neuen Einsichten der Dialektiker strukturell verwandt war. Selbst wenn die spätere Wendung Barths bereits in den frühen Zwanziger Jahren angelegt sein sollte, so dürfte dieses Ergebnis doch in keiner Weise dazu führen, die Wucht der neuen (sogenannten dialektischen) Rede jener Jahre zu relativieren; sie bestimmt die Auseinandersetzung mit der reformierten Tradition und nicht umgekehrt. Nebenbei bemerkt: Neo-orthodoxy hat in Amerika oft einen weniger pejorativen Gehalt als im Deutschen und beschreibt einfach eine theologische Richtung. Im Literaturverzeichnis fehlen das im selben Verlag 1987 erschienene Buch von W. M. Ruschke sowie französische Arbeiten.