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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

75–78

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ernst, Stephan

Titel/Untertitel:

Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozeß ihrer wechselseitigen Freisetzung in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1996. IX, 422 S. gr.8° = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen, N.F. 46. Kart. DM 118,­. ISBN 3-402-03997-4.

Rezensent:

Stefan Lippert

Stephan Ernst untersucht in seiner von der Kath.-theol. Fakultät der Universität Tübingen angenommenen Habilitationsschrift die Entwicklung moraltheologischer Reflexion in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre. Das Interesse der Arbeit ist historisch und systematisch zugleich. In historischer Sicht geht es um eine Rekonstruktion der moraltheologischen Antwort auf die Herausforderung des theologisch-wissenschaftlichen wie sozio-kulturellen Aufbruchs im 12. Jh. An die Stelle symbolisch-numinoser Naturbetrachtung und ritueller Sittlichkeit treten ein rational-säkulares Weltbild und ein individualisiertes Menschenbild mit subjektiver Sittlichkeitsbindung. In der Begegnung mit weltlicher Wissenschaft präzisiert die Theologie ihren epistemologischen Status, und erstmals ist von theologia moralis die Rede.

In systematischer Sicht geht es darum, "die theologiegeschichtlichen Wurzeln gegenwärtiger Strukturen in der moraltheologischen Methode der Begründung aufzuweisen, hinter die die Moraltheologie auch nicht mehr zurückgehen kann" (4). ­ Die Kernthese der Arbeit lautet, daß im 12. Jh. "gerade von seiten der Theologie mehr und mehr eine wechselseitige Freisetzung von ethischer Vernunft und christlichem Glauben vollzogen wird: Im Rahmen der theologischen Synthese wird die ethische Vernunft zunehmend in ihre Eigenständigkeit entlassen, indem sich die Theologie zugleich auf die eigentümliche Bedeutung des Glaubens für das sittliche Handeln besinnt" (24). Die Argumentation beruht neben gedruckten moraltheologischen Abhandlungen, Quaestionen- und Sentenzensammlungen sowie exegetischen Schriften auf zahlreichen ungedruckten Quellen.

Der historische Ansatz läßt es nach Ansicht des Autors nicht zu, mit einem einheitlichen begrifflich-systematischen Schema an die Texte heranzutreten. Darstellung und Analyse müßten von der geschichtlichen Abfolge der einzelnen Entwürfe ausgehen. Kritik sei primär aus zeitgenössischer, nicht aus heutiger Sicht zu formulieren. Andererseits könne aber es auch nicht bei einer bloßen Bestandsaufnahme einzelner Begriffe und Systeme bleiben; es gelte vielmehr, den jeweiligen systematischen Ort der einzelnen Konzeption innerhalb der Gesamtentwicklung zu bestimmen.

Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Zunächst untersucht E. den Neueinsatz im theologischen Sittlichkeitsverständnis bei Anselm von Canterbury. Hat die Moraltheologie seit dem 6. Jh. Sittlichkeit überwiegend als Übereinstimmung des Handelns mit einem (in Poenitentialen normierten) äußeren Maß bestimmt, so kommt im 11. Jh. ein subjektiviertes Moralverständnis auf, das die Übereinstimmung des Handelns mit einem inneren Maß zum primären Sittlichkeitskriterium erhebt und sich zugleich systematischer Reflexion öffnet. Entsprechend seinem Programm, unter methodischer Ausklammerung der auctoritas scripturae den Inhalt des christlichen Glaubens sola ratione zu rekonstruieren und durch rationes necessariae zu begründen, gelangt Anselm zu einer nicht mehr autoritativ-heteronomen, sondern subjektiv-autonomen Sittlichkeitskonzeption. Inbegriff des Sittlichen ist dabei die Gerechtigkeit, von Anselm als rectitudo voluntatis propter se servata bestimmt. Freiheit wird positiv, als potestas servandi rectitudinem voluntatis,verstanden; die Vernunft gibt dem Willen das Rechte vor. Selbst der göttliche Wille vermag die Lüge nicht zu rechtfertigen. Das theonome Moment der anselmischen Sittlichkeitskonzeption bildet auch den Hauptunterschied zur kantischen Ethik; unbedingtes Sollen ist bei Anselm in vorgängigem Wollen Gottes begründet.

Mit den Problemen der anselmischen Konzeption ­ Abstraktheit, Fehlen einer ausgearbeiteten Handlungstheorie ­ ist der weiteren moraltheologischen Diskussion der Weg bereitet, deren kontroverse Entfaltung in der ersten Hälfte des 12. Jh.s Gegenstand des zweiten Abschnitts ist. Die Diskussion konzentriert sich auf zwei Problemkomplexe: erstens die empirische Handlungsanalyse, insbesondere die Frage nach dem Verhältnis subjektiver und objektiver Faktoren, und zweitens die Begründung der sittlichen Qualität von Handlungen im Rahmen der Tugendlehre. Innerhalb der Diskussion lassen sich zwei Richtungen grob unterscheiden: eine rationale und eine heilsgeschichtliche. Die rationale Richtung, Träger der "Renaissance des 12. Jahrhunderts", zeichnet sich durch ein säkulares Naturverständnis, die Analyse des Fides-ratio-Problems, die Förderung der Artes liberales, insbesondere der Logik und der Naturphilosophie, sowie durch spekulative Theologie aus. Entsprechend tendiert sie zur sittlichen Neutralisierung der Handlung wie der Natur überhaupt, zur Sein-Sollen-Trennung sowie zur Begründung der Sittlichkeit im handelnden Subjekt. Als Hauptvertreter zieht E. die Schule von Chartres (insbesondere Fulbert von Chartres, Bernhard von Chartres, Thierry von Chartres, Wilhelm von Conches und Gilbert Porreta), Peter Abaelard und die Schule des Gilbert Porreta heran.

Die heilsgeschichtliche Richtung ist dagegen durch ein schöpfungstheologisches Naturverständnis, Offenbarungsorientierung, pastorales Bemühen um christliche Lebensweise und durch biblische Theologie charakterisiert. Das Handeln wird wie die Natur überhaupt heilsgeschichtlich interpretiert, die sittliche Neutralität der Handlung abgelehnt. Hinzu kommt eine Tendenz zur Sein-Sollen-Verbindung und zur Begründung der Sittlichkeit durch Schöpfungsvorgaben. Als Hauptvertreter werden die Schule von Laôn (insbesondere Anselm von Laôn, Wilhelm von Champeaux), Petrus Lombardus, die Schule des Petrus Lombardus sowie der nur mit Einschränkungen zu dieser Richtung gehörende Hugo von St. Viktor untersucht. Die Diskussionen beider Richtungen führen zu einer nachhaltigen Ausweitung des moraltheologischen Reflexionshorizonts. Anselm von Laôn vertritt die These, daß die sittliche Qualität des Handelns von der subjektiven intentio, nicht vom objektiven Handlungsverlauf oder -erfolg abhänge. Ausdrücklich läßt er Abwägung zu; als Sittlichkeitskriterium fungiert das Handeln gemäß der lex naturalis, nicht gemäß eigenen Interessen. Wilhelm von Champeaux tritt für die sittliche Neutralität menschlicher Antriebe ein; Sittlichkeit entsteht bei ihm erst durch die regelnde Vernunft.

Peter Abaelard nimmt die bereits in der Schule von Laôn greifbare Tradition moralischer Subjektivierung auf und radikalisiert sie, indem er die sittliche Neutralität der Handlung als solcher zur Kernthese seiner Moraltheologie erhebt; die sittliche Qualität hängt dann ausschließlich von der Intention ab. Auf die Handlungsfolgen kommt es nicht an. Das Maß menschlicher intentio bona ist das Tun des Gottgefälligen, nicht des Nützlichen; das Maß göttlicher intentio bona bleibt dem Menschen verborgen. Auf den Einwand, daß man nicht genau weiß, ob man Gott oder der Sünde gemäß lebt, antwortet Abaelard mit dem Hinweis auf die conscientia, die dem Handelnden die Perspektive Gottes eröffnet. Abaelard konkretisiert die abstrakten Sätze der Moraltheologie durch explizite Anerkennung heidnisch-philosophischer Tugendlehren. Sein Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum öffnet die Moraltheologie für die universale Vernunft und philosophische Tugendethik. Vielen Zeitgenossen geht das zu weit; der Subjektivismusvorwurf kommt auf, Bernhard von Clairvaux geht auf das Autoritätsargument zurück und erreicht schließlich Abaelards Verurteilung.

Eine eigenständige Moraltheologie, die insbesondere auf das bei Abaelard ungeklärt gebliebene Verhältnis von rational begründeter Sittlichkeit und christlichem Glauben eingeht, entwickelt Hugo von St. Viktor. Seine Konzeption der Sittlichkeit im Rahmen des opus conditionis wendet den Dualismus von appetitus commodi und appetitus iusti auf sämtliche Güter an; der appetitus commodi wird als Naturgegebenheit aufgefaßt, der appetitus iusti als Korrekturfaktor. Abwägung ist zulässig. Rational begründete Sittlichkeit wird hier vom christlichen Glauben abgegrenzt. Hugos Konzeption der Sittlichkeit im Rahmen des opus restaurationis trennt zwischen tempus legis und tempus gratiae. Wahre Sittlichkeit wird durch Offenbarung und Glaube ermöglicht; sie nimmt ihre integrale Gestalt in der Liebe an.

Zu den bedeutendsten Vertretern der heilsgeschichtlichen Richtung zählt Petrus Lombardus, der die Tugend theozentrisch als eine ausschließlich ex Deo dem Menschen eingegebene qualitas mentis konzipiert. Tugend wird nicht im Umgang ex homine erworben. Die caritas ist Inbegriff und Grund aller Tugenden. Per se schlechte Handlungen sind weder durch gute Intention noch durch ein gutes Ziel zu rechtfertigen. Damit harmoniert der ethische Rigorismus, der keine Abwägung zuläßt.

Thema des dritten Abschnitts ist die Weiterentwicklung der moraltheologischen Diskussion in der zweiten Hälfte des 12. und zu Beginn des 13. Jh.s. Charakteristisch sind die Versuche der Integration beider Richtungen.

So werden einerseits in der Schule des Gilbert Porreta Anstrengungen unternommen, die Position Abaelards mit der These des Petrus Lombardus von den per se schlechten Handlungen und des gnadenhaften Charakters der Tugenden zu vereinbaren (Alanus von Lille, Simon von Tournai). Im Rahmen zweier Exkurse bietet Ernst zudem eine scharfsinnige Analyse des Intentionsbegriffs bei Robert von Melun und Petrus Cantor. Unter den späten Schülern des Gilbert Porreta ist neben Magister Martinus vor allem Radulphus Ardens zu nennen, der durch die Herausarbeitung der Kollateraltugenden ­ etwa bona incredulitas zur fides ­ zur Rezeption der aristotelischen Ethik beigetragen hat. Andererseits wird in der Schule des Petrus Lombardus versucht, Ansätze der Porretaner zu integrieren (Petrus von Poitiers, Praepositinus von Cremona, später Stephan Langton und Gaufried von Poitiers).

Im vierten Abschnitt untersucht E. die moraltheologische Synthese Wilhelms von Auxerre (gest. 1231). Mit der aufkommenden Rezeption des aristotelischen Wissenschaftsideals stellt sich ihm die Frage nach dem epistemologischen Status von Theologie und Ethik. Wilhelm unterscheidet zwischen Offenbarungs- und Vernunftwissenschaft. In der Theologie fungieren die articuli fidei als principia per se nota. Da deren Evidenz auf Glauben, nicht auf der Vernunft beruht, ist die Theologie eine Offenbarungswissenschaft. Die Ethik dagegen geht von den principia agendi per se nota des intellectus practicus aus; obgleich Vernunftwissenschaft, bleibt sie doch im Zusammenhang der Theologie. Wilhelm reduziert die principia agendi per se nota auf die abstrakte Goldene Regel.

Eine Konkretisierung ergibt sich aus der Trichotomie von species, ordo und modus: Schlechtes Handeln begründet sich darin, daß es der Artgemäßheit, des rechten Maßes und der rechten Ordnung im Gesamtzusammenhang ermangelt. Unter Aufnahme der Tradition beider Richtungen gelangt Wilhelm zu einer vierfachen Einteilung der Handlungen: bonum in se et secundum se, d. h. immer gut; bonum in se, d. h. generell gut, aber unter Umständen schlecht; malum in se et secundum se, d. h. immer schlecht (etwa Unzucht); malum in se, d.h. generell schlecht, aber unter Umständen gut (etwa Tötung). Eine schlechte Intention kann dabei jeweils negativ verstärkend wirken.

Eine abschließende Betrachtung des moraltheologischen Denkwegs der Frühscholastik zeigt den enormen Wandel von Anselms sola ratione bis hin zur weit in die Zukunft weisenden Unterscheidung von Offenbarungs- und Vernunftwissenschaft. Die konzeptionelle Mannigfaltigkeit moraltheologischer Positionen macht deutlich, daß eine notwendige Verbindung einer bestimmten philosophischen Ethik mit der Theologie zumindest nicht ersichtlich ist. Mit dieser Feststellung sind systematisch-universale Richtigkeitsansprüche keineswegs in Frage gestellt ­ im Gegenteil: Zu Recht bemerkt E., daß sich die Theologie "auf die Philosophie in ihrem eigenständigen internen Auseinandersetzungsprozeß einlassen und auf ihrem Feld argumentieren [muß], um die konkrete Gestalt christlichen Handelns kommunikationsfähig und von Immunisierung frei halten zu können. Sie muß daran interessiert sein, gerade um den universalen Anspruch des Glaubens und seiner Bedeutung für das sittliche Handeln zu bewähren, die Frage der Begründung inhaltlich bestimmten sittlichen Handelns auf dem Feld der Philosophie zu beantworten" (400).

Insgesamt hat E. nach eindringlichem Studium gedruckter wie archivalischer Quellen seine These vom Prozeß wechselseitiger Freisetzung ethischer Vernunft und christlichen Glaubens in der Frühscholastik souverän ausgeführt und überzeugend begründet.

Dabei verbleibt die Arbeit allerdings fast durchweg auf dem Argumentationslevel der behandelten Autoren. Für diese vom Autor bewußt gewählte Methode spricht einerseits das historische Kriterium größtmöglicher Quellennähe. Andererseits fragt sich, ob eine stärkere Einbeziehung des analytischen Instrumentariums moderner Logik und Handlungstheorie das systematische Kriterium größtmöglicher Klarheit und Deutlichkeit nicht noch mehr erfüllt hätte. Der gegen eine solche Vorgehensweise in der Einleitung vorgebrachte Einwand, es handele sich um eine Art Überstülpen, verweist freilich auf tiefe Fragen nach dem Verhältnis von Logik, Wahrheit und Geschichte, denen hier nicht nachgegangen werden kann. Festzuhalten bleibt: ein großes Buch mit reichem wissenschaftlichem Ertrag, in dem, abgesehen von Kleinigkeiten (z. B. durchgehende Zitation H. Hattenhauers als "Hattenbach"), ein zentrales Kapitel abendländischer Moraltheologie und Geistesgeschichte gründlich durchforscht wird.