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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

437–439

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Furger, Franz

Titel/Untertitel:

Christliche Sozialethik in pluraler Gesellschaft. Posthum hrsg. von M. Heimbach-Steins, A. Lienkamp u. J. Wiemeyer.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 1997. XVII, 327 S. gr.8 = Schriften des Instituts für christliche Sozialwissenschaften, 38. Kart. DM 39,80. ISBN 3-8258-3527-8.

Rezensent:

Ernst Brüggemann

Franz Furger, Inhaber des ältesten deuschsprachigen katholischen Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre (Münster), ist am 5. Februar 1997 verstorben. Frühere Mitarbeiter, M. Heimbach-Steins, A. Lienkamp und J. Wiemeyer, haben posthum Monographien zur Sozialethik herausgegeben, die F. in einem Aufsatzband veröffentlichen wollte. Die Formulierung des Buchtitels zeigt das Bemühen F.s um eine Überwindung des üblichen neuscholastischen Ansatzes von "Gesellschaftslehre". Er hält in der heutigen pluralen Gesellschaft die Bezeichnung "Sozialethik" für besser. Sie bietet zugleich einen günstigeren Ausgangspunkt für Überlegungen im ökumenischen Geist.

F. plädiert für eine Erneuerung der Moraltheologie im weltanschaulich pluralistischen Umfeld, denn fundamental-/moraltheologische Begründungen werden heute oft mit Zurückhaltung aufgenommen, weil bei auf Deduktion fußenden Erkenntnissen Differenzierungen schwieriger sind. Er will daher von den Befindlichkeiten im gesellschaftlichen Umfeld aus induktiv vorgehen. So wird die "Christliche Sozialethik als Moraltheologie der gesellschaftlichen Belange" möglich, die dank ihrer "dynamischen Offenheit" aktuelle differenzierende Stellungnahmen gestattet. In einem Überblick von zahlreichen Publikationen anderer Autoren zu Spezialfragen heutiger Ethik weist F. auf grundlegende Orientierungen hin, die Fragen von Bioethik, Umwelt, Politik/Recht und Wirtschaftsethik betreffen.

Christliche Sozialethik ist heute am besten ökumenisch zu vermitteln. Dabei gibt es jedoch spezielle Probleme. Während die historischen Wurzeln moderner Gesellschaftsethik katholischerseits bereits bei Ketteler und Leo XIII. zu erkennen sind, fällt das im Protestantismus bei der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre schwerer, weil die Politik zum Bereich des Staates gehört. Die "Liberale Theologie" bietet in Anlehnung an Calvin und Zwingli mehr dazu. Bis heute bleibt eines kennzeichnend: Während die Katholische Kirche durch Enzykliken ihre Lehrtradition fortsetzt, veröffentlicht die Evangelische Kirche Denkschriften und gibt damit Anreize zum Nachdenken und für Diskussionen.

"Ausgangspunkt jeder Ethik ist das ihr zugrunde liegende Menschenbild." Dieses weist Unterschiede zwischen dem lutherischen Ansatz und dem katholischen auf: Die Betonung der Sündigkeit des Menschen und eine bloße Ermöglichung der Einsicht ist etwas anderes als die dem Menschen eigene Fähigkeit zu Werteinsicht und -verständnis, die ihm als nach Gottes Ebenbild geschaffenem Geschöpf gemäß dem Willen Gottes zukommt. Diese Grundmeinungen sind zu berücksichtigen, wenn man die diversen Konsultationsprozesse "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" beurteilen und methodische Vergleiche mit der in der Tradition stehenden Enzyklika "Centesimus annus" ziehen will. Erst bei Würdigung der jeweiligen Ausgangspunkte wird die gute Leistung beider Kirchen in dem "Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage Deutschlands" ersichtlich.

Teil II des Buches befaßt sich in seinen drei Kapiteln mit der heutigen Gesellschaftsgestaltung in Politik, Europa und Bioethik. Das Verhältnis von Kirche und Staat ist seit je eine notwendige und spannungsgeladene Beziehung, weil auch der Christ Bürger und die kirchlichen glaubensbestimmten Gemeinschaften Teil der gesamten Gesellschaft sind. Eine absolute Trennung beider Institutionen ist im Gegensatz zu Lehren der Aufklärung weder wertneutral noch zweckmäßig. Auch hier soll das Subsidiaritätsprinzip gelten; eine klare Regelung der gegenseitigen Zuständigkeiten schließt eine Verfilzung von Machtstrukturen aus. Eine laufende Überprüfung der Formen der Zusammenarbeit ist wegen der großen Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung erforderlich. Im übrigen sollte nicht übersehen werden, daß die "soziale Frage" seit langem behandelt wird; ein systematisches Engagement der katholischen Kirche für die Freiheitsrechte ist erst seit Johannes XXIII. zu verzeichnen. Allerdings ist die UNO-Menschenrechtserklärung seitens des Vatikan von Anfang an unterstützt worden, obwohl er nicht an deren Formulierung beteiligt war. Arabesk sind Untersuchungen F.s über die persönliche Steuermoral im Urteil der Moraltheologen während mehrerer Jahrhunderte. Steuerpflichten sind bis in unser Jahrhundert hinein vor allem bei Überschreitung einer 50-Prozentgrenze nicht anerkannt worden. Heute gilt als Voraussetzung "legitim, gemeinwohlbezogen und proportional".

Fragen des Inhalts und der Sicherung von Grundrechten in Europa im Übergang von Nationalstaaten zu gemeinschaftlichen Gebilden verweisen vor allem auf ein Demokratiedefizit. Das Gemeinwohl soll sich am Wohl der menschlichen Person ausrichten: daß hier "Arbeit vor Kapital" steht und ökologische Forderungen gestellt werden, versteht sich von selbst. Möglichkeiten und eventuelle Auswüch se marktwirtschaftlicher Ordnungen spricht der Autor auch hinsichtlich von Drittländern an. Hinzu treten Erwägungen über friedensstabilisierende Maßnahmen.

Einen relativ breiten Raum nehmen aktuelle Fragen der Bioethik ein, ein bevorzugtes Arbeitsfeld F.s in seinen letzten Jahren. Der "temperantia medici" steht heute eine weitreichende Machbarkeitsmentalität des Publikums gegenüber. Ebenso kann die Gewinnung von Transplantaten zu Versuchungen führen, gleichfalls die Forderung nach "humanem" Tod. Hier plädiert F. für die Erweiterung des Subsidiaritätsprinzips auf ein "personales Subsidiaritätsprinzip". Er macht sich zum Sprecher gegen bedenklich weitgehende Ansprüche allgemeiner gesetzlicher Regelungen und mahnt in der pluralen Gesellschaft an, das christlich personale Menschenbild als Leitkategorie anzuerkennen. Gesetze dürfen nur soziale Strukturrahmen sein.

Prima facie erscheint der zweite Teil im Gegensatz zum ersten in sich schlecht proportioniert. Diese Kritik verliert jedoch an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, daß die Herausgeber nur auf Vorhandenes zurückgreifen konnten. Positiv ist im dritten Teil das Gesamtverzeichnis aller Schriften F.s hervorzuheben, das zur Sicherung des Lebenswerkes dieses verdienten Sozialethikers beiträgt. Im übrigen bietet ein Personenverzeichnis u.a. einen umfassenden Überblick über Autoren aktueller sozialethischer Werke.