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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

726–729

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bogner, Artur, Holtwick, Bernd, u. Hartmann Tyrell [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Weltmission und religiöse Organisationen. Protestantische Missionsgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag:

Würzburg: Ergon 2004. 760 S. 8° = Religion in der Gesellschaft, 16. Kart. EUR 54,00. ISBN 3-89913-321-8.

Rezensent:

Theodor Ahrens

Der Sammelband geht auf eine im Dezember 2000 vom Institut für Weltgesellschaft an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld von den Herausgebern durchgeführte Tagung zurück und steht im Zusammenhang eines von der DFG geförderten Projektes‚Christliche Weltmission: Protestantische Missionsgesellschaften als globale Organisation, 1790–1960.
Der einleitende Text von Hartmann Tyrell, Weltgesellschaft, Weltmission und religiöse Organisationen (13–134), stellt das Forschungsprojekt in den Zusammenhang des Diskurses über die Funktion von Religionen im Prozess der ersten Globalisierung (R. Robertson). Anknüpfend an die Luhmannsche Systemtheorie und das World Society Concept von John W. Meyer, Stanford, werden protestantische Missionsvereine als überindividuelle und kollektive Akteure ins Auge gefasst, denen es angesichts eines vereinheitlichten Welthorizontes und der sich abzeichnenden Weltgesellschaft gelang, sich den damaligen territorial-staatskirchlichen Begrenzungen zu entziehen und Organisations- sowie Kommunikationsformen zu entwickeln, die ausschlaggebend dazu beitrugen, dass das Christentum nicht nur seinem Anspruch nach als Universalreligion auftrat, sondern auch faktisch zu einer Weltreligion geworden ist. Die Vereinsform bot jenseits der Obrigkeitskirche Möglichkeiten, kirchliche, denominationelle Differenzen für geringfügig zu erklären, ein loses, internationales Netz der Verbundenheit mit ähnlich agierenden Vereinen zu bilden und mit der Option einer Beteiligung am Missionsgeschehen eine höherwertige christliche Identität anzubieten (108). Die zeitgenössische und aktuelle missionstheologische Literatur wird in Tyrells einleitendem Essay umsichtig einbezogen.
Die Herausgeber interessiert vor allem die sich entwickelnde Komplexität und Flexibilität der Missionsvereine in Verbindung mit deren Selbstverständnis und Institutionenpolitik. Im Zuge der Konsolidierung der Missionsvereine erfolgt eine Differenzierung der Aufgabenfelder und Funktionen nach innen und nach außen. Vereinsaktivitäten, die räumlich weit auseinander lagen und einen nicht unerheblichen Kommunikations-, Geldbewegungs- und Kontrollaufwand erforderten, waren »kumulativ und synchron unter dem Dach derselben Organisation beieinander zu halten« (117). Es galt, Personal auszubilden, zu entsenden und kirchlich zu legitimieren, Spender zu motivieren, Öffentlichkeitsarbeit und Berichterstattung einzurichten, Immobilien zu beschaffen und schließlich die Missionstätigkeit selbst zu organisieren. Vor dem Hintergrund der engen Staatskirchenverhältnisse in Westeuropa entstand eine innovative Form der Organisation christlicher Mission (110). Hierarchisierung und Zentralisierung wurden zum Normalfall. Eine kirchliche Autorisierung der Vereinsleitungen fehlte weitgehend. Ein Mitspracherecht wurde weder den Missionsfreunden in der Heimat noch den in der Ferne durch Taufe kooptierten neuen Christen zugestanden (Tyrell, 80 ff.). Im Zuge des expandierenden Weltverkehrs nutzten die Gesellschaften Möglichkeiten, die Missionare nicht nur durch ein rigides Berichtswesen zu kontrollieren, sondern auch durch Besuchs-, Inspektions-und Visitationsreisen der Direktoren und Inspektoren.
Die Gesellschaften beziehen ihre Selbstbestätigung aus Arbeitserfolgen in Übersee und sehen sich – nach einer Phase der Kooperation – zunehmend als Konkurrenten. Später kommt es zur Einrichtung der zunächst innerprotestantischen Missionskonferenzen, die wiederum zur Formierung von Dachorganisationen wie nationalen Missionsräten und dergleichen führen. Die Integration des Internationalen Missionsrates in den Ökumenischen Rat der Kirchen ist die institutionenpolitische Konsequenz dieser veränderten Konstellation.
Beim Thema ›Mission und Kolonialismus‹ positioniert sich Tyrell ausdrücklich in Gegensatz zu der von Horst Gründer jahrzehntelang favorisierten Sicht, die protestantische Mission wäre grosso modo Vorläuferin, Mitläuferin und Erfüllungsgehilfin kolonialpolitischer und imperialer Bestrebungen gewesen (56 ff.). Tyrell geht es darum, »die Struktur der Kolonialverwaltung ins Verhältnis zu setzen zu der organisatorischen Komplexität, wie sie die Missionen aufbauten« (70). In formaler Hinsicht zeigt sich eine Strukturähnlichkeit der Kolonialadministration und der Missionen. Beide beziehen sich auf dieselben Gruppen, aber von sehr unterschiedlichen Zwecksetzungen her. Gleichwohl kommt es nicht zu einer Häufung »direkter organisatorisch-lateraler Verflechtungen von Kolonialverwaltung und Missionen« (75). Die Gesellschaften waren eine potentielle Störgröße, und das Kolonialgeschehen lag nicht monopolistisch in der Hand der Kolonialmacht.
Das Christentum wird, während es sich in allen Kulturen, Gesellschaften und Subkulturen einnistet, mit dem Problem kultureller Diversität konfrontiert. Die deutsche Missionswissenschaft reagiert bekanntlich mit der Idee der Volkschristianisierung (G. Warneck). Der Anspruch Warnecks und anderer, gerade als Weltreligion sei das Christentum flexibel, wurde in der Praxis durch den Umstand eingeschränkt, dass die Missionare sich als Organisationsmitglieder, eben als Angestellte ihrer Gesellschaft verstanden und dass die evangelistische Vision des Protestantis­mus angereichert mit einer zivilisatorischen Mission an neuralgischen Punkten wie Sklaverei, Polygamie, Kastenwesen, Ahnenkult etc. mit anderen kulturellen Plausibilitäten kollidierte. Das Christliche gewinnt nicht als christianisierte Gesellschaft, sondern als Gemeinschaft Gestalt und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht, wie Tyrell meint, vom Islam und Buddhismus, sondern von Islam und Hinduismus, die jeweils religiös fundierte Vorschläge für die gesellschaftliche Ordnung unterbreiten.
Heidenmission im protestantischen Sinne ist fokussiert auf Verkündigung, also mündliche Kommunikation, sieht die »Anderen« als die, die des mit dieser Verkündigung angesagten Heils dringend bedürfen. Sie setzt auf das Verstehen der Hörer, die nicht nur hören, sondern in eigener Kompetenz auch lesen und verstehen sollen. Aus dieser Wurzel speist sich der protestantische Beitrag zur Spracharbeit, Bibelübersetzung, Schularbeit etc., eine Kulturleistung, die in der protestantischen Missionsbewegung meist positiv bewertet worden ist, von Birgit Meyer (541 ff.) allerdings, jedenfalls was die Arbeit der Norddeutschen Mission unter den Ewe in Westafrika angeht, kritisch besprochen wird.
Heike Liebau (427 ff.) und Christel Adick (459 ff.) präsentieren weithin bekannte, im Kontext des Rahmenthemas gleichwohl nach wie vor zu beachtende Forschungsergebnisse zur Funktion und Funktionalisierung der Missionsschule während verschiedener Phasen der Herausbildung des modernen Weltsystems.
Kirsten Rüther (163 ff.) plädiert, nachdem sie sich mit D. Chides­ter, J. u. J. Comaroff, T. Beidelmann und R. Horton auseinandergesetzt hat, dafür, Mission jenseits dichotomisch geformter Interpretationsmatrizen, z. B. der Polarität Christentum/Kultur, im Horizont einer Geschichte der Begegnung der Religionen, und zwar unter Berücksichtigung der spirituellen Thematik, zu diskutieren.
Bernd Holtwick (225 ff.) hebt die Kennzeichen des missiona­rischen Neuaufbruchs im 19. Jh. hervor, würdigt deren genuin religiöse Motive, bezweifelt die Hypothese, der zufolge erweckte Missionskreise Säkularisierungsverluste der Kirchen in Europa im Heidenland zu kompensieren suchten, und vermutet, dass sich bei vertiefter Betrachtung herausstellen könnte, dass die Mission zwar nicht so weltbewegend wirkte wie die Dampfkraft, möglicherweise aber »einen sogar noch wichtigeren Beitrag zur Globalisierung im Sinne der Herausbildung eines weltweiten Kommunikationssys­tems leistete« (247).
Artur Bogner (313 ff.) beleuchtet, anknüpfend an J. Miller (The Social Control Of Religious Zeal, New York 1994), den Bürokratisierungsprozess der Berliner Mission. Gesteuert von dem Bestreben, die Missionare zu kontrollieren, entwickelte die Missionsleitung, ursprünglich eine Honoratiorenherrschaft, später hauptamtlich angestelltes und bezahltes Personal, unterschiedliche Legitimationsmuster, um Missionare gegenüber den Anweisungen der Missionsleitung gefügig zu machen. Zunehmend wird das Handeln der Organisation durch technische Regeln und Normen gesteuert, Instanzenwege werden ausgebaut, Arbeitsteilungen und Kompetenzen geregelt, Mitgliedsstatus durch Vereinbarungen geklärt und betriebswirtschaftliche Methoden der Mittelbewirtschaftung eingeführt. Das Rektorat setzt eine Ordnung für die zweckmäßigste Organisation des gesamten Missionswesens durch. Herrschaft kraft Satzung, im Sinne Max Webers. Die Weisungshierarchie der Organisation stößt dort bei mehreren Missionaren »auf heftigen Widerstand«.
Frieder Ludwig beleuchtet Gegenreaktionen (615 ff.). In der kirchlichen Szene Westafrikas etablierten sich neben den Missionsorganisationen Netzwerke indigener Christen mit nicht nur westafrikanischen, sondern auch transatlantischen und bis nach Indien reichenden Kontakten.
Kirsten Rüther (485 ff.) zeigt am Beispiel der Hermannsburger und Berliner Missionare und deren Interaktionen mit Afrikanern und burischen Siedlern sowie Vertretern des Kolonialregimes, wie sich die Missionare langsam auf das Milieu der Buren hin orientierten und in dem Maße, in dem das geschah, die Vision der christlichen Gemeinschaft als einer übernationalen Geistgemeinschaft verrieten.
24 Einzelbeiträge, auch die hier nicht genannten Texte, ergeben zwar nicht in allen Einzelheiten Neues – vieles ist in der Fachwissenschaft bekannt –, neu und bereichernd ist aber der Ansatz, mit dem das komplexe Gefüge des protestantischen Missionsunternehmens in seinen globalen Vernetzungen organisationssoziologisch durchleuchtet wird – ein klärender Beitrag zur Funktion der Religion im Kontext der globalen Dynamik des 19. Jh.s mit vorwärts weisenden Anregungen auch für die Missionstheologie.