Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

719–722

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Weiler, Rudolf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas.

Verlag:

Wien: Verlag für Geschichte und Politik; München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2005. 303 S. gr.8°. Kart. EUR 39,80. ISBN 3-7028-0427-7 (Verlag für Ge­schichte und Politik); 3-486-57867-7 (Oldenbourg Wissenschaftsverlag).

Rezensent:

Horst Dreier

1. Der Titel lässt aufhorchen. Neuevangelisierung verweist auf programmatische Appelle insbesondere Johannes Paul II., um, wie es im Lexikon für Theologie und Kirche unter dem entsprechenden Eintrag heißt, »der im Säkularismus ermüdeten Christenheit den exemplarischen Eifer des Apostels Paulus (vgl. 1Kor 9,16) zu vermitteln«. Zugleich nimmt man implizit Bezug auf die Schrift von Erich Rommen aus dem Jahre 1936 über »Die ewige Wiederkehr des Na­turrechts« und damit auf ein in der Tradition der katholischen Kirche zentrales Element ihrer Lehre. Obwohl der Strauß der Beiträge insgesamt recht bunt geraten ist, findet der Band sein Gravitationszentrum in der Rekapitulation eines Naturrechtsdenkens, als dessen spiritus rector hier Johannes Messner firmiert.
2. Das schließt neuere Entwicklungen und theologisch weniger präformierte Fragestellungen nicht aus. Die Naturrechtsthematik wird ungewöhnlich konkret und aktuell behandelt durch die Verfassungsrechtler Boguslaw Banaszak und Marius Jablonski in ihrem Beitrag über »Das Naturrecht in der polnischen Verfassung vom 2. April 1997«. Offenbar hatte es Versuche gegeben, in der Verfassungsurkunde explizit die Überordnung des Naturrechts ge­genüber dem Verfassungsrecht zu verankern. Den Misserfolg dieser Bestrebungen führen die Vf., deren Ausführungen dringend einer eingehenden sprachlichen Überarbeitung bedurft hätten, in sachlich durchaus plausibler Weise auf die schwer überschaubaren Konsequenzen für das Funktionieren des solcherart relativierten Staatsgrundgesetzes sowie auf die Missbrauchsgefahren durch die öffentlichen Organe zurück (222). Auch der polnische Verfassungsgerichtshof hat sich derartigen Deutungen zu Recht verschlossen. Damit ist freilich keineswegs geleugnet, dass moderne freiheitliche Verfassungen mit den Garantien von Menschenrechten und Menschenwürde, von Demokratie und Rechtsstaat gewichtige Postulate vornehmlich des aufklärerischen Naturrechts inkorporiert haben. Durch die Aufnahme in den Verfassungstext erfahren jene Elemente politischer Philosophie aber, was der Beitrag vielleicht nicht hinlänglich deutlich werden lässt, eine Qualitätsveränderung, indem sie nun den Status positivierter Rechtsnormen innehaben und demgemäß wie alle anderen Normen des positiven Rechts lege artis zu interpretieren sind. Die notorischen Invektiven gegen den Rechtspositivismus, der auch im vorliegenden Band gleich im Vorwort neben den perhorreszierten Säkularisierungstendenzen als eine Art von Gottseibeiuns eingeführt wird, gehen insofern gänzlich fehl.
Von solchen Irrungen ist der Beitrag von Klaus Stern auf wohltuende Weise frei. Der Kölner Staatsrechtslehrer bietet einen informativen Überblick über den Grundrechtsschutz in Ostmitteleuropa nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Die verfassungsdogmatische Analyse zeigt, in welch intensiver Weise das bundesdeutsche Grundgesetz mit seinen zuweilen feinziselierten Ausprägungen durch Judikatur und Literatur zu einem »Exportschlager«, einem Muster für eine moderne, freiheitliche Verfassung geworden ist, für deren Wirkungskraft die Institutionalisierung eines kompetenzstarken Verfassungsgerichts eine wichtige Voraussetzung darstellt (211 ff.). Ganz ähnlich fallen demgemäß die sich bei der Anwendung der hochabstrakten Verfassungsrechtssätze stellenden Probleme aus, wie auch der polnische Beitrag anhand der verfassungsrechtlichen Konkretisierung der Menschenwürde deutlich werden lässt (etwa die schwierige Bestimmung ihres Ver hältnisses zu den Menschenrechten, die fragliche Geltung für juris­tische Personen oder die exakte Fixierung eines Existenzminimums).
3. Die Menschenwürde steht – wenig überraschend – desgleichen im Zentrum derjenigen theologischen und sozialethischen Beiträge, die sich stärker dem vorpositiven Naturrecht widmen. Besonders Alfred Klose, Wiener Professor für Gesellschaftspolitik und politische Theorie sowie Rechtskonsulent der Bundeswirtschaftskammer Österreich i. R., präsentiert sie in denkbar umfassender Weise als »universales Ordnungsprinzip«. In aller Offenheit wird zudem mit dem Hinweis auf die nicht zuletzt in akademischen Kreisen verbreitete Kritik am herkömmlichen Naturrecht das Motiv für die Umstellung vom Naturrechtstopos auf die zweifelsohne anschlussfähigere Menschenwürde benannt. Doch ist diese Umstellung eher semantischer als substantieller Art. In der Sache hält der Vf. ganz an den herkömmlichen Naturrechtsvorstellungen fest, für die vor allem der Name Johannes Messners repräsentativ ist. Menschenwürde wird auf diese Weise zum Naturrechts-Surrogat. Das zeigt sich schon daran, dass sie nicht in erster Linie als konkretes Recht für konkrete Subjekte, sondern als Komplex oder Speicher objektiver Werte begriffen wird, aus dem sich Konsequenzen für die Gestaltung der politischen und sozialen Ordnung ableiten lassen. Krieg und Terrorismus, Hunger und Elend können dann ebenso als Gefährdung der Menschenwürde beklagt wie ihre Realisierung in Familiengründung und anderen als positiv konnotierten menschlichen Zwecksetzungen und Sozialwerten proklamiert werden. Nicht zufällig ist des Öfteren von »wesenhaften Lebenszwecken« (247.254) die Rede. Und unter der Rubrik »Menschenwürde in der Arbeitswelt« wird der spezifisch österreichischen Form der Sozialpartnerschaft ziemlich umstandslos eine den sozialen Frieden erhaltende Vorbildfunktion bescheinigt.
Nicht um Sozialpartnerschaft, sondern um Sozialverkündigung geht es in dem instruktiven Beitrag von Anton Rauscher (emeritierter Professor für Christliche Soziallehre und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchen­gladbach). Er hebt sich schon durch seine konzentriert klare Sprache positiv von eher esoterisch anmutenden Beiträgen wie jenen Rüdiger Feulners (»Die gnoseologisch-ontologische Begründung der Seinsordnung bei Clemens von Alexandrien«) oder Norbert Hartls (»Person und Wahrheit«) ab. Rauscher lässt die verschiedenen Positionen in der Geschichte von Theologie und Kirche zu Fragen des Weltbezuges des Christentums in der Spannung zwischen den Extremen eines weltentrückten und am Diesseits desinteressierten, rein heilsorientierten Weges einerseits, dem ungehemmten Streben nach Gestaltung der weltlich-politischen Ordnung bis hin zu Vorstellungen einer Weltrevolution andererseits Revue passieren. Der Vf. selbst bejaht im Einklang mit päpstlichen Enzykliken einen prinzipiellen »Zusammenhang zwischen Glauben und Weltauftrag« (147). Insofern gesteht er auf einer mittleren Linie zwischen Weltflucht und Weltveränderung den gesellschaftlichen Teilordnungen eine gewisse Autonomie zu, ohne das stets an den »von Gott eingestifteten Sinn- und Wertstrukturen« (148) zu orientierende Wirken der Kirche für eine gerechtere Gestaltung der Lebensverhältnisse in Frage zu stellen. Rauscher erinnert insofern an die Herkunft der großen Sozialenzykliken als Antwortversuchen auf die soziale Frage des 19. Jh.s und sieht gerade in deren Bewältigung einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die erstrebte Neuevangelisierung, die neben der Erneuerung des Glaubens und der Kirchlichkeit auch zur Erneuerung der Gesellschaft führen müsse (160).
4. Gerade über den engeren Zusammenhang von Naturrechtsrenaissance und Neuevangelisierung hätte man sich in dem mit 80Seiten weitaus längsten Beitrag des Bandes aus der Feder des Herausgebers (Nachfolger Meissners auf dem Lehrstuhl für Ethik und Sozialwissenschaften in Wien) näheren Aufschluss erhofft. Geboten wird hier allerdings (neben mäandernden Bezugnahmen auf aktuelle Debatten in Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft) lediglich ein entschiedenes, aber seltsam vormodern anmutendes Plädoyer für ein »Festhalten am klassischen traditionellen Naturrecht« (85). Nicht nur erscheinen Positivismus, Relativismus und Säkularisierung als Grundübel der Welt. Auch dem (gern mit dem Adjektiv »absoluten« versehenen) Pluralismus, der in den Grundrechten seine Basis findet und das eigentliche Lebenselement einer modernen Gesellschaft bildet, wird vor allem eine Schwächung christlicher Traditionen angekreidet (10). Als Aufgabe der Ethik sieht es Weiler konsequenterweise an, die Pluralisierung in der Frage nach dem Sinn des Lebens einzugrenzen; der ethische Pluralismus wird eher als »Gefahr« (90) wahrgenommen. Dies alles ergibt sich daraus, dass menschliche Lebenszwecke als durch die Schöpfungsordnung letztlich vorgegeben und als objektiv erkennbar begriffen werden, mit den seit Thomas von Aquin bekannten Konkretisierungen in den inclinationes naturales (z. B. Fortpflanzung durch Paarung, Erziehung der Kinder) und den Sozialstrukturen (z. B. Garantie des Eigentums). All dies gipfelt in der Be­schwörung unveränderter Fortgeltung eines natürlichen Sittengesetzes (91). Und hier, in gleichsam dienender Funktion zur Er­reichung dieser vorgegebenen Strukturen und Zwecke, kommen auch die immer wieder erwähnten Menschenrechte und die Menschenwürde zur Geltung. Sie bilden in dieser Sicht also nicht, wie es modernem Verständnis seit den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen entspricht, die feste normative Basis individueller Autonomie, die Ermöglichungsform freier Selbstbestimmung des Einzelnen. Das revolutionäre französische Naturrecht etwa, eine der zentralen Quellen moderner Menschenrechte, erscheint beim Vf. als Abfall vom guten klassischen Naturrecht und eröffnet in scheinbar gerader Linie die folgenden Ideo­logien von Nationalismus, Rassismus und Sozialismus (88). Ungeachtet eines den ganzen Band durchziehenden ständigen verbalen Rekurses auf die Menschenwürde und die Menschenrechte wird hier deren zentrale Wurzel einfach gekappt. Überhaupt wirkt der des Öfteren im eigenen Wortnebel versinkende Beitrag wie aus der Zeit gefallen und entfaltet daher fast (fast!) schon wieder nostalgischen Charme.
Als überaus symptomatisch für die Rückwärtsgewandtheit des gesamten Unternehmens darf der Wiederabdruck eines mehr als 40 Jahre alten Beitrages von Herbert Schambeck über die »Natur der Sache« gelten, in dem ganz in neuscholastischer Tradition aus der vorgeblichen natürlichen Verfasstheit der Dinge Konsequenzen für ihre normative Ordnung gezogen werden und die Sachrichtigkeit der Rechtsnormen als Ergebnis einer Naturrichtigkeit er­scheint, die ihren festen Bezugspunkt in den objektiv erkennbaren, wesenhaften Lebenszwecken und den entsprechenden Sozialordnungen hat. So kann dann die Möglichkeit der Ehescheidung bei vorhandenen Nachkommen ebenso als der Natur der Sache widersprechend angesehen werden wie das noch heute gültige Gesetz über die religiöse Kindererziehung von 1921, wonach Minderjährigen mit der Vollendung des 14. Lebensjahres die alleinige Entscheidung über ihre Religionszugehörigkeit zusteht (173.183).
5. Am Ende legt der in diesem Fall protestantische, aber anfangs sehr geneigte und interessierte Leser das Buch eher enttäuscht aus der Hand, das in seinen programmatischen Kernaussagen kaum mehr bietet als den Aufguss einer vorgestrig anmutenden Sozialethik. Von einem neuen Naturrechtsverständnis, das in dem »Im Gedenken an Papst Johannes Paul II.« überschriebenen Vorwort beschworen wird und das der intendierten Neuevangelisierung möglicherweise Rückhalt bieten könnte, ist wenig zu erkennen.