Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

715–718

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Müller, Hans Martin

Titel/Untertitel:

Bekenntnis – Kirche – Recht. Gesammelte Aufsätze zum Verhältnis Theologie und Kirchenrecht.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XIII, 460 S. gr.8° = Jus Ecclesiasticum, 79. Lw. EUR 64,00. ISBN 3-16-148797-4.

Rezensent:

Joachim E. Christoph

Hans Martin Müller, emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, hat unter dem programmatischen Titel »Bekenntnis – Kirche – Recht« den zweiten Band seiner ›Gesammelten Aufsätze‹ vorgelegt. In dem Buch sind 29 Beiträge zusammengestellt, die in den Jahren 1966–2004 erstmals veröffentlicht worden sind. Vier dieser Abhandlungen sind bereits einmal in einem ersten Band ›Gesammelte Aufsätze‹ erneut publiziert worden, der im Jahr 1993 unter dem Titel »Gegenwärtiges Christentum. Beiträge zu Kirche und Gemeinde« (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, 219 S., nicht in der ThLZ besprochen) mit insgesamt neun Aufsätzen er­schienen ist.
In dem Vorwort des hier anzuzeigenden Bandes legt der Vf. die ihn bei der Ausarbeitung dieser Abhandlungen leitende Intention offen: Angesichts der schon traditionellen Distanz der evangelischen Theologie zum Kirchenrecht will er »diese Verständigungsschwierigkeiten durch die Arbeit an praktischen Problemen auf dem Grenzgebiet zwischen Theologie und Kirchenrecht … überwinden« (V). Deshalb verfolgt er »die Entwicklung eines Kirchenverständnisses, das den Zusammenhang von theologischer Be­gründung und rechtlicher Ausgestaltung zu wahren sucht« (ebd.). In vier Abteilungen, nach Themenkomplexen gegliedert, kommen die jeweils einschlägigen Publikationen zum Wiederabdruck: »Kirchenrecht und Bekenntnis« (1–104), »Kirchenbegriff und Kirchenverfassung« (105–227), »Theologie und Kirchenleitung« (229–325) und »Amt und Ämter in der Kirche« (237–431). Ein umfangreiches Register, nach Personen und Sachen gegliedert, rundet den Band ab.
Die Beiträge zeugen von der Weite der Arbeitsgebiete des Vf.s. Neben spezielleren Untersuchungen, z. B. »Der preußische König als Summepiskopus von Hannover«, 186 ff., finden sich auch Grundsatzfragen zugewandte Abhandlungen, z. B. »Evangelisches Kirchenrecht als Recht in der Kirche«, 93 ff. Die einzelnen Beiträge überzeugen nicht nur durch ein großes theologisches Fachwissen, insbesondere in der Kirchen- und Theologiegeschichte, der Dogmatik, Ethik und der Praktischen Theologie, sondern auch – fakultätsübergreifend – im Kirchenrecht einschließlich der kirchlichen Rechtsgeschichte, im Staatskirchenrecht sowie in der Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Den respektiven Abhandlungen lässt sich entnehmen, dass der Vf. auf Grund seines beruflichen Werdeganges sich zum einen mit den territorialen Gegebenheiten von Nie­dersachsen (insbesondere Hannover) und Württemberg ein­gehend vertraut gemacht hat. Zum anderen – und dieses ist viel entscheidender – hat der Vf. Theologie und Kirche aus sehr unterschiedlicher Perspektive kennengelernt: als Gemeindepfarrer, Stu­dien­direktor eines Predigerseminars, Rektor eines Studie­n­se­mi­nars, in kirchenleitender Verantwortung als Mitglied eines Lan­deskirchen­amtes und schließlich als Universitätsprofessor im akademischen Gegenüber zu der sog. ›verfassten‹ Kirche. Auf diese Weise gelingt dem Vf. ein nicht nur aus einer Sichtweise verengter, sondern sehr umfassender Blick auf das grundsätzliche Verhältnis von Kirche, Bekenntnis und Kirchenrecht.
Im Rahmen dieser Anzeige ist es nicht möglich, auf jeden einzelnen Beitrag einzugehen. Vielmehr sollen einige wenige Abhandlungen herangezogen werden, welche beispielhaft theologische und kirchenrechtliche Grundpositionen des Vf.s wiedergeben (Evangelisches Kirchenrecht als Recht in der Kirche, 93 ff.; Rechtsetzung und Rechtsanwendung in der evangelischen Kirche, 249 ff., und Das Kirchenrecht in der evangelischen Theologenausbildung. Zum theologischen Ort des Kirchenrechts, 346 ff.), die in dem pointierten Buchtitel ihren Niederschlag gefunden haben.
Der Vf. versteht sich als lutherischer Theologe, der von der Rechtfertigungsbotschaft und von der Rechtfertigungslehre her denkt und argumentiert. Deshalb betont er immer wieder, dass das Gottesverhältnis des Menschen kein Rechtsverhältnis ist und auch nicht als ein Rechtsverhältnis aufgefasst werden darf, sondern im Gnadenakt Gottes durch die Sündenvergebung begründet ist. Mit Hinweis auf CA VII und VIII und unter Berufung auf Art. III/12 ASm betont er die ›Doppelschichtigkeit‹ im lutherischen Kirchenbegriff und Kirchenverständnis: die Differenzierung zwischen der irdischen Gestalt der Kirche als einem corpus permixtum, dem mit den Worten von CA VIII auch falsche Christen und Heuchler beigemengt sind, und der verborgenen (unsichtbaren) Kirche, einer eschatologischen Größe, die als congregatio sanctorum eine creatura verbi ist. Dort, wo das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert werden, gewinnt diese Kirche eine sichtbare, irdische Gestalt. Der Dienst der Evangeliumspredigt und der Sakramentsverwaltung, das von Gott eingesetzte ›ministerium ecclesiasticum‹ im Sinne von CA V, soll nicht nur individuell von jedem einzelnen Christen durch das Predigtamt, sondern auch und erst recht repräsentativ für die ganze christliche Gemeinde durch das Pfarramt als das ›publice docere‹ im Sinne von CA XIV wahrgenommen werden. Insbesondere letzterer Dienst, der den jeweiligen Verhältnissen von Ort und Zeit entsprechen soll, unterliegt menschlicher Verantwortung und menschlicher Organisationsgabe. Hier ist dem Vf. nach der Ansatzpunkt für ein evangelisches Kirchenrecht: »Dass Gottes Wort laut werde und gehört werden kann, ist das oberste Ziel aller Kirchenordnung. Die Ordnung darf also nicht Selbstzweck werden, sie selbst verkündigt nicht, sondern dient der Verkündigung und keinen anderen Zwecken.«
Für die theologische Verortung des evangelischen Kirchenrechts zieht der Vf. die sog. ›Zwei-Regimenten-Lehre‹ heran, die Unterscheidung zwischen den beiden Regierweisen Gottes. Gottes Regiment zur Rechten geschieht durch den Zuspruch der Sündenvergebung im Evangelium; Gottes Regierweise zur Linken durch die Forderung des Gesetzes. Dieses ›Gesetz‹, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung und mit unterschiedlicher Begründung, gilt nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche. Zugespitzt kann der Vf. formulieren: Es »ist anzuerkennen, daß die irdische Gestalt der Kirche im Verhältnis zu ihrem geistlichen Wesen dem Regiment zur Linken gehört. Die Zwei-Regimenten-Lehre muß auch auf die Kirche selbst angewandt werden« (356). Das in der Kirche in ihrer irdischen Verfasstheit geltende Gesetz, das im evangelischen Kirchenrecht seine besondere bekenntnisgemäße und bekenntnisgeprägte Form findet, ist ein eigenständiges und ein eigengeartetes Recht. Es hat einen dienenden, keinen verkündigenden Charakter. Um des Friedens willen in der Kirche und der Nächstenliebe wegen ist es zu halten (277). Prüfstein und Orientierungspunkte dafür, ob das von Menschen gesetzte Kirchenrecht richtiges oder falsches Kirchenrecht ist, sind die Heilige Schrift und die Bekenntnisschriften, die selbst keine Rechtsquellen sind (242.317). Deshalb bestehen »Reserven« gegen Rechtsordnungen, »wenn diese in das Gottesverhältnis des einzelnen Christen, seinen Glauben und sein Gewissen eingreifen« (259). Die Befolgung nicht nur staatlicher, sondern auch kirchlicher Rechtsordnung endet dort, wo in Aufnahme der clausula Petri, Apg 5,29, der Einzelne um seines Gewissens willen nicht anders handeln kann (243). Das bedeutet aber auch, dass mögliche Sanktionen ertragen werden müssen.
Die Anwendung der sog. ›Zwei-Regimenten-Lehre‹ auf die weltliche Schauseite der Kirche macht der Vf. zum einen kontroverstheologisch fruchtbar, z. B. in der Auseinandersetzung mit der von Karl Barth vertretenen Lehre von der Königsherrschaft Christi und mit dem kanonischen Recht der römisch-katholischen Kirche. Weil das Verhältnis zum Kirchenrecht in dieser ganz anders ausgestaltet ist als in der evangelischen Kirche, kann ein »ökumenisches Kirchenrecht« »nur eine sehr begrenzte Reichweite haben« (353). Zum anderen zeigt der Vf. die notwendigen Folgerungen aus dieser Lehre auf, die sich für die Verfassungsstrukturen und den Verfassungsaufbau einer lutherischen Kirche ergeben (Die Neuordnung der hannoverschen Kirchenverfassung nach dem Zweiten Weltkrieg, 218 ff., bes. 225 ff.)
Der Vf. versucht in vielen seiner Abhandlungen zu zeigen, dass– im Gegensatz zu Rudolph Sohm – kein Widerspruch zwischen dem Wesen einer evangelischen Kirche und einem evangelischen Kirchenrecht besteht. Umso erstaunlicher ist sein Zögern bei der Frage, ob die akademische Vertretung der Fachdisziplin ›Evangelisches Kirchenrecht‹ auch in eine Evangelisch-theologische Fakultät gehört. Er plädiert lediglich dafür, dass die Vertreter des Kirchenrechts in den Juristischen Fakultäten institutionelle An­sprech­partner in den Theologischen Fakultäten bekommen sollten. Keinesfalls dürften die kirchenrechtlichen Lehrstühle, wenn sie in den Juristischen Fakultäten »eines Tages als Fremdkörper … empfunden werden«, »als ungebetene Gäste in den theologischen Fakultäten erscheinen« (355). Zwar ist es richtig, dass die evangelische Theologie »kein eigenes kanonisches Recht kennt« (354), die evangelische Kirche in ihrer irdischen Verfasstheit aber ein eigenständiges und vom Bekenntnis her geprägtes eigengeartetes Kirchenrecht besitzen muss, wenn sie nicht in ihrer Rechtsordnung fremdbestimmt sein will. Die rechtstheologische Grundlegung und Entfaltung eines evangelischen Kirchenrechtes kann sich dieses nicht selbst ›besorgen‹, sondern ist an Vorgaben gebunden, die außerhalb ihrer Fachdisziplin liegen. Diese Vorgaben müssen m. E. einzelne einschlägige theologische Disziplinen (insbesondere die Systematische und die Praktische Theologie) liefern. Deshalb­ ist das evangelische Kirchenrecht von seinem rechts­theologischen Ansatz her eine theologische Teildisziplin, die sehr wohl auch in einer Theologischen Fakultät vertreten sein kann.
Die Gesammelten Aufsätze des Vf.s sind eine große Hilfe für diejenigen, die sich umfassend über die Zusammenhänge von Evangelium, Heiliger Schrift, Kirche, Bekenntnis und (evangelischem Kirchen-)Recht informieren wollen. Dieser Band ersetzt in mehrfacher Hinsicht eine bisher ausstehende rechtstheologische Grundlegung evangelischen Kirchenrechts aus lutherischer Sicht. Deshalb soll am Ende dieser Anzeige ein Wunsch formuliert werden: An der rechtstheologischen Grundlagendiskussion nach dem Zwei­ten Weltkrieg haben sich nur Juristen mit größeren Grundlagenentwürfen beteiligt.
Die Theologen haben sich, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, sehr zurückgehalten. Unbeschadet der sog. ›Grundlagenmüdigkeit‹ wäre es eine große Hilfe für die Dis­ziplin ›Evangelisches Kirchenrecht‹, wenn der Vf. eine rechtstheologische Grundlegung des evangelischen Kirchenrechts auf der Grundlage der Zwei-Regimenten-Lehre vorlegen könnte. Die Voraussetzungen dafür liegen bereits vor.