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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

62–64

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Du Toit, David S.

Titel/Untertitel:

Theios Anthropos. Zur Verwendung von theios anthropos und sinnverwandten Ausdrücken in der Literatur der Kaiserzeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XVIII, 457 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 91. Kart. 128,­. ISBN 3-16-146631-4.

Rezensent:

Dieter Zeller

Die leicht überarbeitete Fassung einer unter C. Breytenbach angefertigten Dissertation verfolgt ein semantisches Anliegen: Welche Bedeutung hatte theios, daimonios, thespesios auf geschichtliche Menschen angewandt, bei kaiserzeitlichen Autoren? Die Fragestellung ist jedoch eingebettet in eine religionsgeschichtliche Problematik, die Teil I darlegt: die Bezeichnung diente seit R. Reitzenstein als Leitbegriff für die Rekonstruktion eines Typs "Göttlicher Mensch", dem man u. a. Wundertätigkeit und eine ontologische Zwischenstellung zwischen Gott und Mensch zuschrieb. In den letzten Jahrzehnten wurde nicht nur sein Vorkommen im Judentum und in den Evangelien bestritten, er wurde in paganen Quellen immer mehr differenziert, so daß man keinen terminus technicus mehr ausmachen konnte und seine Existenz gerade in der Zeit Jesu bezweifelte. Der Vf. stellt die religionsphänomenologischen und sozialgeschichtlichen Ansätze gar nicht in Frage, bestreitet aber, daß theios im untersuchten Zeitraum als "adskriptives Klassenadjektiv" fungiert, d.h. Menschen übermenschlichen Wesen zuordnet. Man sieht schon, der Vf. betreibt die "Analyse eines semantischen Feldes" technisch routiniert, genauer nach den Handbüchern von J. Lyons.

Das Ergebnis ist: 1. Die Adjektive bezeichnen teilweise eine religiös-ethische Qualität, sind also parallel zu osios, dikaios, eusebes. Insofern das rechte Verhalten gegenüber den Göttern gemeint ist, müßte man mit dem Vf. 51 schärfer von einem "relationalen Modifikator im objektiven Sinn" sprechen. 2. In epistemologischem Kontext ist theios aner o. ä. ein stehender Ausdruck ("phrasales Lexem") für Archegeten bestimmter Erkenntnisse bzw. Garanten für die Wahrheit solcher Erkenntnisse. Dabei schwankt die Bedeutung zwischen einem Qualitätsadjektiv (der Beste auf einem Gebiet) und einem "relationalen Klassenadjektiv im subjektiven Sinn" (von den Musen etc. inspiriert). Dieser religiöse Vorstellungshintergrund, etwa bei Dion von Prusa, sei aber sekundär (169). Mit diesen Unterscheidungen ausgerüstet geht der Vf. im Teil IV an die Quellen für den theios aner im üblichen Sinn heran, Philostrats Vita Apollonii, Lukians Alexanderschrift, und findet nur die von ihm etablierten Verwendungen. Dasselbe Resultat zeitigt eine Untersuchung von Philon und Flavius Josephus. Nirgends werde die theios-anthropos-Terminologie "für Gottmenschen oder Göttersöhne benutzt"; sie fehle gerade da, wo Wunder von den beschriebenen Männern überliefert werden. Daß sie im Neuen Testament nicht vorkommt, erkläre sich dadurch, daß die von ihr denotierte Vorstellung nicht im Blick der neutestamentlichen Autoren war (402 f.).

Man muß dem Vf. zugestehen, daß er fast alle wichtigen kaiserzeitlichen Belege für die in Frage stehenden Adjektive erfaßt hat (111 hätte man noch auf Porph., abst. 2,45,2 verweisen können). Er bietet gründliche, philologisch zuverlässige Textanalysen, die den Kontext und den philosophischen Hintergrund berücksichtigen; manche Systemdarstellungen (79-84.128-132; 185 f.) sind freilich m. E. in dieser Breite nicht erfordert. Einige Einzelinterpretationen sind neu und überzeugend (z. B. 170 ff. zu Philodem). Auch redaktions- (III 8 f. zu Lukian und Jamblich) und traditionsgeschichtliche (227-233: theios bei Jamblich geht auf Apollonios zurück) Untersuchungen haben eine beachtliche Qualität. Doch möchte ich gegen das konsequent synchrone Vorgehen des Vf.s und die Art, wie hier Bedeutungsinhalte fixiert werden, einige Einwände machen:

1. Bei der Polysemie von theios handelt es sich nicht um Homonymie, wie S. 46 f. suggerieren könnten. Entweder soll die Relation zwischen Mensch und Gott ausgedrückt werden oder es werden von einem Träger (theos) semantische Teilmengen (z. B. Fähigkeiten, der Vorrang, die Verfügungsmacht) auf ein anderes Subjekt übertragen, so daß man fast immer übersetzen kann: "von göttlicher Art". Das Wort ist so nie rein "profan" (gegen 201), weil das menschliche Subjekt eine semantische Schnittmenge mit dem göttlichen teilt. Der Grund der Übertragung kann je verschieden sein: Macht, Weisheit, Tugend. Ich möchte behaupten, daß an einigen analysierten Stellen noch die "mythologisch-ontologische" Bedeutung mitschwingt: S. 117: Dion. Hal., Dem. 23,8 ff. Vergleich mit Zeus; S. 132 ff.: Epiktet, Ench. 15 Mitherrscher mit den Göttern.; S. 280 f. Philostrat, VS 2,616 parallel "Unsterbliche". Bei der ironischen Verwendung (S. 195; 272 f. zu Lukian, Icarom. 2) gesteht der Vf. auch adskriptiven Gebrauch zu.

2. Daß philosophische Schulhäupter als "göttlich" bezeichnet werden können, ist unbestreitbar. Aber die Frage ist, ob diese hauptsächliche Referenz so ins Denotat eingeht, daß es dieses geradezu ausmacht, wie S. 267 nahelegt. Eher ist es doch ihre hervorragende Weisheit, die sie mit Göttern vergleichbar macht. M. E. trägt der Vf. die "epistemologische" Bedeutung auch in einige Texte ein, wo andere Aspekte von theios überwiegen (z.B. 280 f.; 338 ff. zum dios Alexander). Dafür, daß bei diesen Autoritäten das Adjektiv nicht "ontologisch" gemeint sein kann, nimmt der Vf. 86.92 f.294 f. ein pragmatisches Kriterium zu Hilfe: die fehlende religiöse Verehrung. Abgesehen von der Frage, ob diese für das Denotat entscheidend sein kann, vermisse ich hier das Gespür für die säkularisierte Religiosität, die in antiken Philosophenschulen zu beobachten ist. Könnte nicht der "Kult" etwa um Epikur (an sich 196-200 schön entfaltet) ebenso "gesunken" sein wie das Wort theios?

3. Das Absinken von Bedeutungsgehalten auf weniger ursprüngliche Träger ist allerdings nur diachron festzustellen, ein Aspekt, den der Vf. mit Lyons vernachlässigt. Erst am Ende von Teil II und III hängt der Vf. noch jeweils einen kleingedruckten diachronen Exkurs an (110-112.268-272; vgl. 321 ff. zum Gebrauch von dios): Es stellt sich heraus, daß die Sprache der Kaiserzeit stark von Platon geprägt ist; er liefert sogar schon Beispiele für die Bezeichnung von Urhebern des Wissens als theioi (Philebos 18B, Nomoi 657A, vom Vf. hier nicht genannt). Zu den inspirierten Dichtern S. 268 ff. wäre der "göttliche Sänger" bei Homer als Vorläufer zu ergänzen. So steht denn die religiöse Erklärung der "Göttlichkeit" von Dichtern bei Dion von Prusa doch nicht so einsam in einer profanen Landschaft. Die gelegentliche Parallele entheos macht m. E. hier die Bedeutung von theios klar. Deshalb wird wohl auch der "göttliche Hesiod" nicht als Begründer der Dämonenlehre bei Plutarch, Mor 431E so genannt (gegen 176 f.).

4. Neben den "göttlichen Dichtern" hat der Vf. aber eine Traditionslinie übersehen: die des göttlichen Sehers, den man ebenfalls schwer unter die Begründer von Wissenstraditionen subsumieren kann: so Epimenides (Platon, Nomoi 642D, nur in der Forschungsgeschichte erwähnt). Auch in der vom Vf. durchforsteten Literatur gelten Menschen aufgrund ihres Wissens um Unterweltliches (Pythagoras bei Hermippos, s. 224 ff., wo der Vf. sogar ein Klassenadjektiv zugibt), Künftiges (der divinus bei Sen., vit. beat. 26,8, S. 92 nicht ausgewertet; die göttlichen Propheten bei Jos. S. 383 ff., wo aber Ant. 10,268 fehlt; auch Dion Chrys. 1,57 stellt "erste Mantiker und göttliche Männer" zusammen: S. 153) als göttlich. Wo sich darin Teilhabe an der "göttlichen Natur" bekundet (Manetho Frg. 54 Waddell; Jos., Ant. 15,372 im Kontext von 373-379), liegt nicht nur ein relationales, sondern ein adskriptives Klassenadjektiv vor. Leider hat der Vf. die Fügung theia, ouk anthropinebzw. kreitton physis bei seinen Recherchen nicht mit einbezogen. Sie geht zwar oft auf den Charakter, hat aber auch manchmal eine ontologische Komponente (so Plut., Kleom. 60 neben "Heros und Sohn der Götter"; Jos., Ant. 3,320 gar von Mose; vgl. 3,318 "übermenschliche Macht"; die letzten fünf Belege sind beim Vf. nicht aufgeführt). Auch Philostrat, VA 3,42 kennt Männer, die sich durch die mantische Weisheit als theioi erweisen; natürlich verankert Philostrat ­ wie ähnlich Plutarch ­ solche Hellsichtigkeit in der Reinheit des Herzens. Das Wort ist deshalb aber nicht im Sinne eines agathos aner zu verstehen (gegen 302).

5. Es ist deutlich, daß die kaiserzeitlichen Biographen eines Pythagoras oder eines Apollonios ein volkstümliches Bild der Philosophen, das auch Wundertraditionen enthielt (s. Vf. 215 f. zu Pythagoras) korrigieren. Wahrscheinlich nehmen sie dabei das von außen an diese herangetragene Attribut theios auf (s. o. Hermippos; Philostrat, VA 1,2) und deuten es im platonisch-ethischen Sinn. Daß Philostrat dabei aber das Wunderhafte nicht ausschließt, geht nicht nur aus seiner Darstellung der indischen Brahmanen (VA 3,15.23; 6,10 f.) hervor, sondern auch aus der Selbstbefreiung des Apollonios 7,38, die der Vf. recht gequält als symbolische, auf die zukünftige Befreiung weisende Handlung interpretiert (310 f.). Sie ist jedoch ein Beweis für seine gegenwärtige Freiheit und führt sofort zur Erkenntnis seiner "göttlichen und der menschlichen Art überlegenen Natur".

Fazit für den Neutestamentler: Er wird weiterhin nach einem Modell Ausschau halten, das es ermöglicht, Gottesaussagen auf einen Menschen zu übertragen. Das muß nicht implizieren, daß dieser Mensch als Gott betrachtet wird oder als "Sohn eines Gottes" (physische Herkunft von einem Gott), von der erst christlichen Kategorie des "Gottmenschen" ganz zu schweigen. Nach der Arbeit des Vf.s wird man aber vorsichtiger sein, für diesen "Idealtyp"einen schon in der Antike gemünzten univoken Titel zu beanspruchen.