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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

707–709

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Usarski, Christa

Titel/Untertitel:

Jesus und die Kanaanäerin (Matthäus 15, 21–28). Eine predigtgeschichtliche Recherche.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 239 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 69. Kart. EUR 25,00. ISBN 3-17-018533-0.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Untersuchungen zu predigtgeschichtlichen Fragen spielen in der gegenwärtigen Homiletik nur eine untergeordnete Rolle. Dass die Predigtgeschichte freilich über kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Interessen hinaus von gegenwärtiger homiletischer Relevanz sein kann, zeigt die im Folgenden zu besprechende Studie, eine praktisch-theologische Dissertation aus Hamburg, die der Predigtgeschichte einer ebenso prominenten wie polyvalenten Perikope (Mt 15,21–28) gewidmet ist. Die Studie hat eine doppelte Aufgabe: Zum einen geht es darum, Auslegungstraditionen des Textes sichtbar zu machen, die sich bis in die gegenwärtige Predigtpraxis auswirken (eine Art homiletischer Spurensicherung im Horizont der Gadamerschen Hermeneutik); andererseits lässt sich anhand der verschiedenen Auslegungen, die ein Text im Lauf der Predigtgeschichte erfahren hat, sein vielfältiges und prinzipiell unabschließbares »Sinnpotential« im Sinne der Rezeptionsästhetik erweisen.
Im Zentrum der Studie steht die Rekonstruktion maßgeblicher Auslegungstypen von Mt 15,21–28 (67–211); sie wird von einem einleitenden Kapitel zu Funktion, theoretischem Hintergrund und Methodik der Untersuchung (9–65) sowie einer abschließenden Zu­sammenfassung der Ergebnisse (213–220) gerahmt.
Motive und entscheidende Weichenstellungen der Untersuchung werden im ersten Kapitel (»Predigtgeschichte in praktisch-theologischer Perspektive«; 9–65) benannt. Auf eine Einleitung, in der u. a. die Auswahl der untersuchten Perikope begründet wird (9–14), folgt eine forschungsgeschichtliche tour d’horizon zur Predigtgeschichte in der gegenwärtigen Homiletik (15–22), die zugleich der Verortung der eigenen Studie dient. Entsprechend der doppelten Absicht der Untersuchung, (unbewusste) Prägungen der ge­genwärtigen Predigtpraxis offenzulegen und zugleich das vielfältige Sinnpotential des untersuchten Textes im Spiegel von Predigten zu erschließen, werden sowohl hermeneutische als auch rezeptionsästhetische Ansätze referiert und auf die konkrete Aufgabe bezogen (22–35). In weiteren Abschnitten – über deren Anordnung man hier und da diskutieren könnte – folgen Beobachtungen zur Rolle der Wirkungsgeschichte bei Ernst Lange und in der Predigthilfsliteratur (35–41), zu Entstehung und Bedeutung der Perikopenordnung insgesamt (41–45) sowie ein ausführlicherer Absatz zur Verortung von Mt 15,21–28 in der Perikopenordnung, der auf die zunehmende Marginalisierung des Textes hinweist (45–50). Bemerkenswert ist insbesondere der Abschnitt zu Ernst Lange: Die Vfn. kann eindrücklich zeigen, welche Rolle Lange der Aufklärung über die Predigtgeschichte gerade im Interesse der gegenwärtigen Predigtpraxis beimisst.
Die methodischen Grundlagen der Untersuchung werden auf den letzten 16 Seiten des ersten Kapitels benannt (50–65). Als Quellen (50–57) dienen einerseits 25 unveröffentlichte Predigten aus der nordelbischen Kirche von 1997, die der Vfn. zur Verfügung gestellt wurden, andererseits gut 100 Predigten, Predigthilfen und Auslegungen quer durch die Predigtgeschichte (mit überlieferungsbedingten Schwerpunkten in der Reformationszeit, im Pietismus und in der jüngeren Predigtgeschichte seit dem 19. Jh.). Das Untersuchungsinteresse (57–63) gilt den jeweils leitenden theologischen Aussagen bzw. Interpretationen und den mit ihnen korrelierten Zuweisungen von Geschlechterrollen. Die methodischen Grundlagen der Predigtanalyse werden auf anderthalb Seiten ziemlich stiefmütterlich behandelt. Die knappen Hinweise auf Leitfragen der »semantischen Analyse« gewähren dem Leser an dieser Stelle nur bedingt Einblick in das Procedere; Untersuchungen zu Wortfeldern, Strukturschemen, leitenden Metaphern zeugen freilich im Hauptteil der Studie davon, dass die Vfn. das Repertoire der semantischen Analyse für ihre Fragestellung überzeugend zu nutzen weiß. Der letzte Abschnitt des ersten Hauptteils (63–65) stellt den Weg von der Predigtanalyse zur Erhebung wesentlicher Auslegungstypen dar; dabei kommt (dem gegenwartsbezogenen Interesse der Studie entsprechend) den jüngsten Predigten für die Kategorienbildung eine Leitfunktion zu.
Im Hauptteil der Studie (67–211) werden drei in der Predigtgeschichte bedeutsame »Auslegungstypen« von Mt 15,21–28 herausgearbeitet: »Glaube und seine Infragestellungen« (67–124), »Grenzverläufe – Grenzüberschreitungen« (124–189) sowie »Matthäus 15 als Heilungsgeschichte« (189–211). Auch wer sich zunächst einen Überblick über die drei Motive verschaffen will und deshalb nur die Zusammenfassungen am Ende der Kapitel liest, sollte in eigenem Interesse auf eine ausführlichere Lektüre nicht verzichten. Auf breiter Quellenbasis zeichnet die Vfn. die Ausbildung und die Wandlungen bzw. Umakzentuierungen der genannten Auslegungstypen im Lauf der Predigtgeschichte nach; der Leser wird in dem ausgewogenen Ineinander von Predigtwiedergaben, Predigtinterpretationen und Kontextinformationen zum Zeugen einer höchst spannenden Entwicklung von Motiven, die zum Teil bis in die ge­genwärtige Predigtpraxis begegnen. Die Studie durchziehen einige leitende Parameter (etwa: fokussierter theologischer Locus, individuelle oder kollektive Deutung der Erzählung, Zuweisungen von Geschlechterrollen; Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu, wer ist »stark« und wer ist »schwach«? etc.), die einzeln und in Korrelation miteinander ein ausgesprochen differenziertes Bild der Rezeptionsgeschichte von Mt 15 in Predigten entstehen lassen. Dabei versteht es die Vfn. nicht nur, manche Eigentümlichkeiten der untersuchten Predigten durch den historischen Kontext zu erhellen (vgl. etwa zu Johannes Chrysostomus, 129 ff.); sie verbindet auch in überzeugender Weise den Respekt vor der irreduziblen Pluralität der Textrezeption mit gelegentlichen Rückfragen an allzu einseitige Rezeptionen (vgl. insbesondere das »Gespräch mit der Exegese« in den Zusammenfassungen).
Das dritte Kapitel (»Der Ertrag einer praktisch-theologischen Erforschung der Predigtgeschichte über Matthäus 15,21–28«; 213–220) mündet nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse aus dem Hauptteil in drei Beobachtungen, die über die konkrete Perikope hinaus von homiletischer Bedeutung sind: Erstens lässt sich an­hand der Rezeptionsgeschichte von Mt 15 ein Zusammenhang zwischen in Predigten vertretenen theologischen Konzepten und (im­pliziten oder expliziten) Geschlechterrollenzuweisungen wahrscheinlich machen. Zweitens kann eine Aufarbeitung der Predigtgeschichte dazu beitragen, die eigene Prägung durch die Predigttradition deutlicher wahrzunehmen – und zugleich Alternativen zu den eigenen Zugängen und Lesarten zu entdecken. Und drittens macht die Studie darauf aufmerksam, dass die Auslegung der Geschichte von der Kanaanäerin ungeachtet aller schon realisierten Varianten noch immer ein offener Prozess ist. In dieser Hinsicht hat die Studie beinahe performativen Charakter: Wenn man das Buch aus der Hand legt, hat man zahlreiche Variablen und Varianten zu Mt 15,21–28 im Kopf – und ist erst recht neugierig darauf, dem Text neue, noch nicht zur Aufführung gebrachte Stücke zu entlocken.