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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

702–704

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

O’Donovan, Oliver

Titel/Untertitel:

The Ways of Judgement. The Bampton Lectures, 2003.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2005. XV, 330 S. gr.8°. Geb. US$ 35,00. ISBN 0-8028-2920-1.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

O’Donovan, neuerdings Professor für Ethik und Praktische Theologie in Edinburgh, setzt mit diesem Buch eine eindrucksvolle Reihe von Publikationen fort, in denen er eine Neuetablierung von politischer Theologie unternimmt (vgl. ThLZ 131 [2006], 204–206). Dabei leitet ihn die Grundüberzeugung, dass es nicht die christlich-theo­logische Tradition ist, die angesichts evidenter sozialer und politischer Realitäten einer klärenden Neuinterpretation bedarf, sondern dass eine im Grundsatz eindeutige politische Botschaft des Evangeliums Licht auf eine in vieler Hinsicht unverstandene und ungeklärte, ja verworrene politische Situation werfen kann (X). Dieses Grundanliegen wird in der These ausgeführt, dass, theologisch geurteilt, die Grundfunktion der politischen Gewalt im Ur­teilen oder im Richten (judgement) besteht.
Der biblische locus classicus ist erwartungsgemäß Röm 13; der Vf. legt diesen Text jedoch nicht, wie in der lutherischen Tradition üblich, primär auf das Gewaltregiment der Obrigkeit aus, sondern versteht ihn vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Tradition vom König als Richter in erster Linie kognitiv, als Inbegriff von praktischer Vernunft. Das Wesen des Politischen ist somit eine bestimmte Form praktizierter ›Weisheit‹ und insofern offen für ethische Kategorien; es ist nicht ausschließlich oder primär Macht, also Wille. Das trennt den Vf. von der »realistischen« Tradition politischer Theorie von Machiavelli bis zu Max Weber und Reinhold Niebuhr.
Die These vom Primat des Urteilens ist gleichzeitig Grundlage seiner Kritik am neuzeitlichen Prinzip der Gewaltenteilung, sofern diese in der Theorie (explizit bei John Locke) und vor allem in der Praxis die letztlich irrational-arbiträre Legislative ins Zentrum des Staates rückt (199). Aber auch zu der gegenläufigen Linie neuzeitlichen politischen Denkens, die der Vf. »idealistisch« nennt, geht er auf Distanz. Denn selbst im optimalen Fall kommt menschliches Urteilen/Richten (beachte die Weite des englischen judgement!) nur zu vorläufigen und unvollkommenen Ergebnissen. Gerade die Neuzeit zeigt die bedenklichen Konsequenzen des Versuchs, den politischen Bereich zum Schauplatz endgültiger Entscheidungen zu machen. Insbesondere kann aus menschlicher Sicht das Zusam­menfallen von göttlichem Gericht und göttlicher Gnade nur er­ahnt und nicht in eigene Praxis umgesetzt werden, wie der Vf. beeindruckend an den Aporien institutionalisierter Vergangenheitsbewältigung zeigt (88–100).
Die Äquidistanz gegenüber der ›realistischen‹ wie der ›idealis­tischen‹ Sichtweise erinnert an Bonhoeffers Rede von den »vorletzten Dingen«, und in der Tat charakterisiert der Vf. den besonderen Beitrag politischer Theologie als Würdigung des Politischen in seinen Grenzen: »It can speak not only of the ways of judgement, but of the ways to and from judgement« (238). Die Kirche kommt so als »kontrapolitische« Gemeinschaft (counter-political society) in den Blick, die sich dem »Richtet nicht!« verpflichtet weiß und im Horizont des göttlichen Gerichts das Politische in seinem Recht und seiner Begrenztheit gewissermaßen besser versteht als es sich selbst (240). Auch sonst sind Parallelen zwischen dem vom Vf. verfochtenen Ansinnen und Bonhoeffers Position in der Ethik mit Händen zu greifen, nicht zuletzt in der schöpfungstheologischen Argumentation des Vf.s (»mankind is communal by virtue of God’s creation«: 156).
Der Vf. greift hier auf die augustinisch-thomasische Synthese christlich-politischen Denkens mit der platonisch-aris­totelischen Tradition zurück, in der das Politische gleichsam or­ganisch aus einer vorpolitischen Struktur von menschlicher Ge­meinschaft­lich­keit und Sozialität herauswächst – auch dies ganz ex­pli­zit im Gegensatz zu dem strukturellen Individualismus neu­zeitlicher Vertragstheorien seit Hobbes. Politische Autorität ist für den Vf. emergent, Archetyp ist der von Gott ›erweckte‹ Retter des vorköniglichen Israel, in dem das Volk spontan seinen Anführer erkennt. Diese spontane Erkenntnis freilich beruht auf der providentiellen Stiftung dieses Aktes (128 f.). Die politische Theorie des Vf.s hat so ihren eigenen Ursprungsmythos und – auch wenn er insistiert, dass politische Herrschaft immer schon da ist (128) – der Vf. braucht diesen, um einen theologischen Fluchtpunkt jenseits des Politischen überhaupt zu gewinnen. Das jedoch führt zu einer unaus­geglichenen Spannung. Aus der providentiellen Begründung po­litischer Institutionen leitet der Vf. einen grundsätzlichen, insti­ tutionellen Konservativismus ab: »We are obliged to achieve … con­tinuity of regime.« (135) Dieser Grundsatz behält selbst in extremen Fällen Gültigkeit: Der Apartheidstaat muss nur von denen nicht als Autorität anerkannt werden, die er von der Partizipation ausschließt, von allen anderen Bürgern muss er es (145). Dagegen erlaubte, ja betonte das vom Vf. bemühte alttestamentliche Paradigma das Moment der Kontingenz politischer Autorität (man denke nur an Saul und David!) und provozierte so geradezu die ethische und politische Frage, was getan werden muss, wenn dem be­stehenden Regime die Akzeptanz fehlt, wenn es keine »Autorität« mehr besitzt. Bricht hier die Dichotomie von »realistischer« und »idealistischer« Position wiederum auf, und täuscht der Eindruck, dass der Vf. im Zweifelsfall auf der »realistischen« Seite zu stehen kommt?
Die Studie verlangt einen aufmerksamen Leser, da der Vf. in der Ausbreitung seiner Gedanken Zusammenfassungen oder strukturelle Gliederungen verschmäht. Wer sich darauf einlässt, wird jedoch reichlich belohnt durch einen ungewöhnlich anregenden, durchdachten, komplexen und brillant präsentierten Gedankengang, dem eine solche Rezension nur in Ansätzen gerecht werden kann. Zwei kritische Beobachtungen seien dennoch angeführt. Zum einen fällt auf, dass der Bezug auf den empirischen Teil der Sozial- und Politikwissenschaft beinahe völlig fehlt. Der Vf. argumentiert weitgehend deduktiv, gleichsam idealtypisch, so als unterliege es keinem Zweifel, dass die Probleme des Hugo Grotius oder gar die des Aristoteles dieselben seien, vor denen ein Gemeinwesen heute steht. Wenn aber selbstverständlich Ideen wie Volk (people) oder Gemeinschaft (community) als Grundlagen des Staates eingeführt werden (149 ff.), hätte man erwartet, dass die Frage nach der Angemessenheit dieser Kategorien angesichts zunehmend pluraler und heterogener Gesellschaften zumindest aufgeworfen wird, zumal etliche der vom Vf. kritisierten neueren Theorien von eben dieser Schwierigkeit ausgehen.
Bemerkenswert ist andererseits, dass der Vf. seine Urteile über bestimmte politische und gesellschaftliche Erscheinungen weitgehend im Modus thetischer Behauptung abgibt. Sofern sein Urteilsvermögen bestechend scharf ist, ist das nicht durchgehend ein Nachteil; gerade überraschende Beobachtungen sind oft treffend und auf schlagende Weise unmittelbar überzeugend. Dennoch stutzt man, wenn das Beispiel der Abtreibung kommentarlos in einem Nebensatz als Beispiel für die Legalisierung von Unrecht genannt wird (145). Und an der neuen Wirkungsstätte des Vf.s dürfte es im 300. Jahr des Act of Union kaum ungeteilte Zustimmung finden, wenn das Entstehen Großbritanniens lakonisch damit begründet wird, dass »communications with Wales and Scotland became so necessary and natural that they [d. h. Wales und Schottland] could not be excluded from any thought of corporate agency« (153).