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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

699–702

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nault, Jean-Charles

Titel/Untertitel:

La saveur de Dieu. L’acédie dans le dynamisme de l’agir.

Verlag:

Paris: Cerf 2006. 558 S. 8° = Cogitatio fidei, 248; Pontificia Universitas Lateranensis, Theses ad Doctoratum in Theologia, Istituto Giovanni Paolo II. per studi su matrimonio e famiglia. Studi e ricerche 5. Kart. EUR 44,00. ISBN 2-204-08149-3.

Rezensent:

Cyprian Krause

J.-Ch. Nault OSB (Saint-Wandrille) untersucht in seiner mit dem Henri-de-Lubac-Preis ausgezeichneten Arbeit, inwieweit sich am monastischen Thema der Acedia (Traurigkeit und Überdruss am geistlichen Leben) die Bedeutung spirituell-mystischer Erfahrungen für die moraltheologische Frage nach der Dynamik menschlichen Handelns aufzeigen lässt. Die an der Lateranuniversität eingereichte, von L. Melina betreute Dissertation will keine historische Enzyklopädie zum Acedia-Begriff sein, sondern ein Plädoyer für eine größere Rückbindung der Moraltheologie an eine genuin christliche Spiritualität (22). Der Acedia-Begriff wird dabei insofern thematisch, als er eine gravierende Störung in der Dynamik menschlichen Handelns markiert, wobei streng thomistisch davon ausgegangen wird, dass die menschlichen Handlungsvermögen, Neigungen und Haltungen (virtutes, inclinationes, habitus) ihre natürliche Zielrichtung in Gott haben und durch Acedia gehemmt werden. Durch die Reflexion dieses Umstandes sollen die Paradigmen der Moraltheologie so verändert werden, dass Letztere nicht mehr äußerlich-kasuistisch nach der Grenze des gerade noch Er­laubten fragt, sondern positiv nach den inneren geistlichen An­triebskräften moralischen Handelns und negativ nach deren in­nerlichen Gefährdungen, hier exemplifiziert an der Acedia, deren völliges Verschwinden aus dem moraltheologischen Blickfeld der Vf. beklagt (22).
Die anthropologisch-moraltheologische Sicht des Aquinaten stellt den systematischen Dreh- und Angelpunkt des Buches dar (Teil II: 171–363). Zwei Thomas-Texte liefern dafür die Basis: S. th. IIa–IIae, q. 35, sowie De malo, c. 11. Unter Acedia versteht Thomas näherhin ein »taedium operandi« (23), also eine Unlust am guten, auf Gott gerichteten Handeln. Die Acedia sei, so der Vf., eine »tris­tesse peccamineuse« und der genaue Gegensatz zur theologischen Tugend der Caritas. Sie dürfe somit in einer christlichen Handlungstheorie nicht völlig fehlen.
Der streng historische Teil I des Buches (25–169) bereitet durch ein Abschreiten der antiken und frühmittelalterlichen Quellen auf Thomas vor, Teil III (365–446) hat die Absicht, den Einbruch des Nominalismus als Verlust einer am inneren Handlungsvermögen orientierten Moraltheologie aufzuweisen und für eine Rückkehr zur thomistischen Sicht zu werben. Dahinter steht (leider nur implizit) die umstrittene Frage, ob die Gnade Gottes dem Menschen äußerlich bleibe oder ob sie zu einem innerlichen Habitus des menschlichen Handelns werden könne, so dass die von Gott dem Menschen (wieder)geschenkten Tugenden die Basis einer allgemeinen Ethik zu bilden vermögen. Den Anstoß zur Abfassung des Buches gab für den Vf. nicht zufällig die Lektüre von Giuseppe Angelini, Le virtù e la fede (1994). Angelini legt darin die Verhältnisbestimmungen von Glauben und Tugend in ihrem Verlauf von Evagrius Ponticus bis Thomas von Aquin dar.
Im Einzelnen: Als Wort begegnet der Acedia-Begriff schon bei Empedokles, Hippokrates, Lukian, Cicero und bezeichnet dort einen Zustand der Sorglosigkeit im Sinne von Interesselosigkeit (41). Als lateinische Äquivalent gilt taedium. Die Vorgeschichte der Acedia-Lehre des Aquinaten wird näherhin markiert durch Evagrius Ponticus, Johannes Cassian und Gregor d. Gr., wobei die Acedia immer innerhalb eines Lasterkataloges aufgezählt wird und besonders der Wechsel vom Katalog der acht Hauptlaster zum Septenar der Todsünden Beachtung verdient (28). Evagrius (345–399) legt in seinem »Praktikos« die klassische Lehre von den acht schlechten Gedanken bzw. Lastern (»logismoi«) dar (Prakt. 6 und 12). Die Logismoi erscheinen bald als Mönchskrankheiten, bald als Dämonen oder unreine Geister personifiziert. Sie kontrastieren mit dem Ziel des monastischen Lebens, der apatheia. Die acht Laster, deren Wurzel die Selbstliebe (philautia) ist, opponieren den acht Tugenden, deren Wurzel die Caritas ist. Eine zweite wichtige Quelle für Thomas war Joh. Cassian. Dieser nennt in seinen Institutiones (Buch V) ebenfalls acht Laster (76): »1. la gastrimargie [concupis­cence du manger], 2. la fornication, 3. la philargyrie [avarice], 4. la colère, 5. la tristesse, 6. l’acédie – c’est l’anxiété ou le dégoût du cœur –, 7. la cénodoxie [vaine gloire], 8. l’orgueil.« Bei Papst Gregor d. Gr. (98), der dritten großen Quelle für Thomas, findet man dagegen die Aufzählung von sieben Hauptsünden (Moralia in Iob, XXXI), deren gemeinsame Wurzel der Hochmut ist. (Auf den S. 102.105 und 109 bietet der Vf. gute Übersichten zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen der Kataloge bei Cassian und Gregor. Auf Gregor beziehen sich sodann im Mittelalter u. a. Alkuin, Rhabanus Maurus, Petrus Damiani, Bernhard von Clairvaux.) Von Thomas selbst heißt es schließlich, er habe die lange Reihe seiner Vorläufer in der Acedia-Lehre zu einer selbständigen Synthese verbunden (173). Besonders imponiert dem Vf., dass bei Thomas »morale et spiritualité ne sont pas séparées …« (174). Insbesondere werden die Ausführungen des Aquinaten über Gott als das innere Ziel des menschlichen Handelns und über die gemäß dieser Vernunft wirkenden habitus und virtutes herangezogen (S. th II–II, q. 35, a. 1–4, bes. a. 1, corp.).
Ausdrücklich handelt Thomas nur an dieser Stelle von der Acedia und nennt sie dabei eine sündhafte »tristitia de bono divino«: Sie lässt den Menschen sein göttliches Ziel nicht mehr als erstrebenswert erkennen und lähmt daher sein Handeln. So be­stimmt sich die Acedia als ein »quoddam taedium operandi« (281). Nur die Unkenntnis der Würde seiner eigenen Natur konnte den Menschen dazu bringen, seine Handlungen auf ein geringeres Ziel als Gott auszurichten. Die Inkarnation Christi sollte den Menschen daher an die hohe Würde seiner Berufung erinnern, seine Handlungen zur Vernunft bringen und die Acedia bannen.
Demgegenüber beunruhigt es den Vf. sichtlich, das neuzeitliche Subjekt aus dieser metaphysischen Verortung zwischen den tu­gendhaften Konstanten einer den Willen determinierenden Vernunft entlassen zu sehen in eine voluntaristisch gedachte Freiheit hinein (371). Durch den Nominalismus sieht der Vf. insbesondere die Synthese des Aquinaten bedroht, bei dem das Gnadenhandeln Gottes nicht äußerlich, sondern innerlich, d. h. vermittels der Vernunft, der Tugenden und guten Haltungen des Menschen wirkt. Denn auch die Sünde haftet dem Menschen nicht nur äußerlich an, sondern durchdringt – etwa als Acedie – seine personalen Haltungen und trübt seinen Verstand. Im Nominalismus dagegen er­scheinen Sünde und Gerechtigkeit tendenziell nur noch als Dinge äußerlicher »imputatio«. Insbesondere beklagt der Vf. den Ockham­schen Begriff der Willkürfreiheit (374): »La liberté consistant, pour Ock­ham, dans le choix entre des contraires, chaque acte se fixe dans l’instant du choix et perd toute relation avec les actes qui le précèdent ou le suivent: l’unité de l’agir moral disparaît.« Diese Sicht bedrohe die Einheit des moralischen Handelns als solches und setze es umso mehr der Acedia aus, als es nicht mehr in der Dynamik der göttlichen causa finalis stehe: »L’agir morale perd donc son unité, et n’est plus inséré dans un dynamisme finalisé« (375).
Insgesamt muss auffallen, dass der Vf. über die Konzeption des Aquinaten hinaus keine weiteren Vorschläge macht, so dass eher eine Repristinierung der Theologiegeschichte als ein lebendiges Fortschreiten theologischer Erkenntnis die epistemologische Grundoption des Buches zu sein scheint. Auch werden die modernen Strömungen seit dem Nominalismus einseitig und ohne ausreichende Begründung negativ beurteilt.
So erscheint es mithin wie eine Verkehrung der Tatsachen, wenn der Vf. die ethische Position Kants als eine »Moral in 3. Person« beschreibt, die nur an den äußeren Faktoren Gesetz und Pflicht orientiert sei, während die antike Moral noch auf die Tugenden und Haltungen des handelnden Ich gesetzt habe (377–381: Morale de la première ou de la troisième personne?). Auf die Möglichkeit einer (auch christlichen) Begründung der Moral durch die praktische Vernunft des Transzendentalen Subjektes, etwa nach Kant, wird gar nicht eingegangen; vielmehr wird die Ethik Kants sofort als Pflichtmoral diskreditiert und mit einer metaphysischen Moral »in erster Person« kontrastiert. Bei aller – berechtigten – Bewunderung für Thomas wird das Buch den neuzeitlichen Ideen und ihren Wurzeln bei Ockham und Kant nicht im Ansatz gerecht.
Die guten Register sowie die sorgfältig zitierten und übersetzten Quellentexte zur Acedia machen das Buch dennoch zu einem wertvollen Beitrag in der Erforschung und systematischen Einordnung dieses Phänomens.