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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

697–699

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Braaten, Carl E., and Christopher R. Seitz [Eds.]

Titel/Untertitel:

I am the Lord Your God. Christian Reflection on the Ten Commandments.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2005. XII, 275 S. gr.8°. Kart. US$ 22,00. ISBN 0-8028-2812-4.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

In einer Zeit pluralistischer Sinnangebote und wissenschaftlicher Fortschritte werden ethische Orientierungen immer schwieriger und stehen sogar mit der Leugnung von Willensfreiheit selbst auf dem Spiel. Ein Rekurs auf den Dekalog scheint sich hier anzubieten, das christliche Ethos im kulturellen Kontext zu schärfen. So sind in den letzten Jahren einige grundlegende dogmatische und ethische Reflexionen zum Dekalog entstanden (D. Korsch, H. Deuser, S. Hauerwas).
Dieser englische Sammelband ist hervorgegangen aus einer Reihe interdisziplinärer theologischer Konferenzen (2003) über die Zehn Gebote (unterstützt durch die »Society for Ecumenical Anglican Doctrine« und das »Center for Catholic and Evangelical Theology«). Die 12 Beiträge, die sich in ihrer Qualität – wie das bei Sammelbänden kaum zu vermeiden ist – unterscheiden, stammen von meist konservativen Theologen unterschiedlicher Konfessionen (Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern, Lutheranern und Methodisten). Sie verfolgen das Ziel, die Bedeutung der Zehn Gebote nicht nur für die Kirche, sondern für die gegenwärtige Zivilgesellschaft zu bestimmen. Ihre Erinnerung soll als Gegenkultur zu einer Po­pulärreligion, die sich an den Bedürfnissen des Zeitgeistes ausrichte und damit das religiöse Erbe des Christentums verspiele, dienen (Vorwort, X). Die Argumente für dieses Ziel bewegen sich auf na­turrechtlich-philosophischer (I), theologischer (II) und christlich- ethischer (III) Ebene, jedoch ohne Berücksichtigung nachneu­zeitlicher metaphysik- und ontologiekritischer Infragestellungen traditioneller Ordnungsvorstellungen und unter vollkommener Vernachlässigung des Problems der Integrationsfähigkeit christlich-theologischer Ethik in die funktionsspezifischen Aufgaben­bewältigungen unserer hochdifferenzierten pluralen Gesellschaften.
Das Buch ist in vier Kapitel untergliedert, indem zunächst die Stellung des Dekalogs in Kirche und Gesellschaft beleuchtet wird (I.), um sodann dessen Eigensinn, der in der ersten Tafel der Gebote zum Ausdruck kommt, herauszustellen (II.), an den die Konkretionen der zweiten Tafel anschließen (III.). Abschließend werden die Zehn Gebote als Ausdruck eben des einen göttlichen Gebotes zusammengefasst, das nach dem Neuen Testament in der Liebe als Nachfolge Jesu besteht (IV.). Der interdisziplinäre methodisch-spezifische Zugriff der Beiträge weist trotz konservativen Zuschnitts durchaus neue Fragestellungen und Sichtweisen auf. Das gilt vor allem für die exegetischen und theologiegeschichtlichen Beiträge von Kapitel 1 und Kapitel 2.
In Kapitel 1 (Ph. Turner) wird – in einem Schnelldurchgang durch die theologiegeschichtlichen Stationen – der Stellenwert des Dekalogs zwischen universalem Naturrecht und individuellem Liebesgebot (5) betont und darauf hingewiesen, dass die Eigenbedeutung des Dekalogs meist zu schnell der Subsumierung unter das Liebesgebot anheimfiel, womit sowohl der Gemeinschaftscha­rakter von Gottes Gebot als auch der spezifische Bezug zwischen Universalismus und Partikularismus vernachlässigt wurde (15). Diesen Bezug stellt auch der Alttestamentler Chr. Seitz in die Mitte seiner hermeneutischen Überlegungen mit dem Ergebnis, dass dadurch nicht nur spezifische Differenzen der Gebotsauffassungen im Alten Testament und Neuen Testament deutlich werden, sondern ebenfalls ein Modell für die Beziehung des Alten Testaments zum Neuen Testament, und zwar überraschenderweise durch das Buch Leviticus (23 f.33) geliefert wird.
Die Beziehung der beiden Testamente aufeinander und die bleibende Gültigkeit des Dekalogs – insbesondere der 1. Tafel – wird im 2. Kapitel, in den Beiträgen von Th. C. Oden, D. B. Hart, E. Radner und M. Bockmuehl, untersucht. Hier ist besonders Harts Auseinandersetzung mit der These Nietzsches vom Tode Gottes (49 f.) zu erwähnen, die als Prüfstein zugleich die Bezüge der beiden Testamente (67 f.) mittels universalhistorischer Gültigkeit der Exklusivität des 1. Gebots herausstellt. Damit erinnert Hart an die Tragweite dieses alttestamentlichen Gottesglaubens nicht nur für das Neue Testament, sondern für unsere gesamte Kulturgeschichte (71 f.). An dieser Exklusivität hängen dann auch die Interpretationen des 2. Gebots als Ausdruck unserer sündigen Existenz (Radner, 80 ff.) und des 3. Gebots (Bockmuehl). In Auseinandersetzung mit den religionsphänomenologischen und -soziologischen Untersuchungen R. Ottos und E. Durckheims (98) interpretiert M. Bockmuehl das 3. Gebot, um anhand der Gegenüberstellungen von heilig und profan die These L. W. Countrymans vom Ende der »Reinheit« zu diskutieren (99 f.). Gegen diese gilt, dass sowohl seitens des Neuen Testaments wie seitens des Alten Testaments die Begriffe rein und unrein nicht ohne Rekurs auf heilig und profan verstanden werden können und vice versa (103). Alle vier Beiträge verweisen anhand der theologischen Analysen des Dekalogs zugleich auf die theolo­gische Relevanz des Bezugs von Altem Testament und Neuem Tes­tament.
Das 3. Kapitel (über die 2. Tafel des Dekalogs) beginnt mit einer kritischen Revision der Kriterien des gerechten Kriegs (143–146) (W. T. Cavanaugh zum 5. Gebot) unter Berücksichtigung der Frage nach dem Verhältnis von Gewalt auf dem Boden eines religiösen Fundamentalismus und säkularer Toleranz (128–130). Das für das Verständnis der 2. Tafel wichtige architektonische Argument der Kontextbezogenheit der Gebote bringt der differenzierte und vielschichtige Beitrag von B. Wannenwetsch zur Geltung, in der Hervorhebung des 4., aber auch des 6. und vor allem des 1. Gebots (174), für das 5. Gebot (149.165 ff.). Dabei stellt er weitreichende Bezüge zu Gegenwartsfragen – etwa der Biomedizin (167 f.) – her. Auf die kontextuelle Gebundenheit der Gebote verweist ebenfalls R. W. Jenson anhand der Erläuterungen zum 6. Gebot (179 f.). Die Wertschätzung der auf Gegengeschlechtlichkeit gerichteten Sexualität als Abbild Gottes bzw. des Gottesverhältnisses lässt so weder Treulosigkeit noch Homosexualität als schöpfungsgemäße Entsprechungsmöglichkeiten zu (187). Durch Betrachtung des Kontextes gewinnt gerade das 8. Gebot nach der Interpretation von R. Hütter erst seine eigentliche Zielrichtung. Die Lüge als Ausdruck unserer postlapsarischen Struktur ist, dass Wahrheit – das werde durch Nietzsche auf den Punkt gebracht – auf individuelle oder kollektive Nützlichkeit reduziert wird (193 f.). Dass das Wahrheitszeugnis damit in unserer Gesellschaft Ärgernis erzeugt (214–216), streicht der Beitrag von C. E. Braaten heraus. Diese zu Recht herausgestellte Nähe des Christuszeugnisses zum Skandalon wird aber m. E. vollkommen verspielt, wenn R. R. Reno in Rückgriff auf Cassian, Evagrius, Boethius und Augustinus (221–225) die Alternative Gott oder Mammon (Mt 6,24) in den Horizont der Weltverneinung rückt­ (235). Hier wird die eigentliche ethische Aufgabe des Aufbaus eines Handlungshorizontes für die funktionsspezifischen Gesellschaftsbereiche verkannt. Das 4. Kapitel (R. L. Wilken und G. Meilaender) untersucht abschließend mit Bezug auf Luther und das Naturgesetz noch einmal die Frage nach universaler oder nur partikularer Gültigkeit des Dekalogs und die Verortung des Stellenwerts der Sünde und Gnade für die Ethik (273 f.).
Lesenswert sind die Beiträge in exegetischer Hinsicht. Die ethische Qualität wird durch normativ-gesetzliche Ausrichtung unter völliger Ausblendung der durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse gestellten Aufgaben stark beeinträchtigt.