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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

692–695

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kleeberg, Bernhard

Titel/Untertitel:

Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2005. VIII, 324 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 3-412-17304-5.

Rezensent:

Christian Danz

In den gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Diskursen er­klären Biologen gerne ihre Disziplin zu einer neuen Leitwissenschaft. Seien es die Entzifferung des menschlichen Genoms, die Stammzellforschung oder die Erforschung des menschlichen Ge­hirns sowie die sich daran anschließenden, medienwirksam ge­führten Debatten um die menschliche Freiheit. Immer scheint es die Biologie zu sein, die eindeutiges und gleichsam objektives Wissen über den Menschen und seine Kultur zu liefern im Stande ist. In den gegenwärtigen Debatten um den Naturalismus und die Naturalisierung des Menschen wird jedoch zumeist zweierlei übersehen: einmal der Umstand, dass derartige Diskurse bereits im 19. Jh. angesichts einer zunehmenden Komplexität der Wissenschaften sowie der modernen Gesellschaft geführt wurden. Ging es hier im Kern um die Integration des Wissenschaftssystems, so berührt der andere Aspekt die Fortschreibung von metaphysischen Grundannahmen gerade bei Verfechtern einer Naturalisierung des Menschen. Auch dies war bereits für die Debatten des 19. Jh.s signifikant. Aus dieser Beobachtung kann man den Schluss ziehen, dass eine kulturhermeneutische, mit wissenschaftstheoretischen Me­thoden verschränkende Rekonstruktion der Debattenlage im 19. Jh. auch den gegenwärtigen Diskussionen die nötige historische Tiefenschärfe verleihen würde.
Es darf als ein großes Verdienst der von Bernhard Kleeberg im Sommer 2002 an der Universität Konstanz eingereichten Dissertation, die im Jahre 2005 unter dem Titel Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen publiziert wurde, angesehen werden, einen solchen wissenschaftshistorisch vertieften Beitrag zu den gegenwärtigen Debatten geliefert zu haben. Gegenstand der Un­tersuchung von K. ist der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919), der nicht nur entscheidend zur Durchsetzung und Bekanntmachung der Schriften von Charles Darwin in Deutschland beigetragen hatte, sondern auch mit dem Monismus eine neue, integrative Weltanschauung propagierte, die angesichts der Erfahrung einer zunehmenden Fragmentarisierung der Wissenschaften sowie der modernen Gesellschaft eine neue, biologisch grundgelegte Einheitskonzeption des Wissens versprach.
Methodisch schließt sich K. an die Ansätze einer »kontextualis­tischen Wissenschaftsgeschichte« (9) an. Dadurch wird methodisch der Blick auf die Debattenlagen um die Leitwissenschaft Biologie in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s erweitert, und im Anschluss an die Sozialgeschichte der Wissenschaften, die Wissenssoziologie, die science studies sowie die konstruktive Wissenschaftstheorie der Erlanger und Konstanzer Schule wird »die Orientierung an der immer noch geläufigen Grenzziehung zwischen wissenschaftsinternen und -externen Normen, Regeln und Zwecken« verabschiedet, »da hier ein nichtzerlegbarer Zusammenhang besteht« (ebd.). Das sich aus diesem methodischen Ansatz ergebende Bild des Haeckelschen Monismus, seiner Genese und seiner Aufbauelemente lehrt dann vor allem zu sehen, wie Haeckel in seinem Konzept einer Einheit der Natur alte naturtheologische Deutungsmuster fortschreibt. K. macht in seiner Untersuchung überzeugend deutlich, »daß sich Haeckel mit seiner Option für Materie, Kausalität und Monismus innerhalb der teleologischen Deutungsmuster bewegt, die er zu verabschieden vorgibt, ja daß vielleicht gerade die Schärfe seiner Polemik für den Darwinismus selbst es war, die den Monismus der naturteleologischen Grundierung unverdächtig machte, so daß diese unbemerkt um so leichter – teilweise bis heute – fortwirken konnten« (3; vgl. 8.19).
Diese These wird in den acht Hauptabschnitten der Studie sowohl genetisch als auch systematisch untermauert. Nach einer Einleitung, welche über Fragestellung und methodisches Verfahren informiert (1–29), wenden sich der zweite (Religion oder Wissenschaft?, 31–66), der dritte (Wissenschaft oder Kunst?, 67–103) sowie der vierte Abschnitt (Die Einheit des Wissens, 105–125) dem Ent­wick­lungsgang Haeckels von seinem Studium in einem liberalprotestantischen Bildungsmilieu bis hin zu seiner Rezeption Darwins im Jahre 1859 und der Ausarbeitung des Programms einer monis­tischen Einheitswissenschaft zu, welche die Zersplitterung des Wissens überwinden soll. Die weiteren Abschnitte des Buches, Die Einheit der Natur (127–169), Die Krone der Natur (171–207), Die Schönheit der Natur (209–238), Die Einheit der Gott-Natur (239–263), thematisieren die Durchführung und Weiterführung des monistischen Programms auf der Grundlage der Selektionstheorie, welche die Einheit der Natur verbürgen soll, sowie die von Haeckel in seinen letzten Lebensjahren vorgenommene Ersetzung der überlieferten christlichen Religion durch einen wahren, naturphilosophischen Monotheismus (252). Das Schlusskapitel (265–271) fasst das Resultat der Untersuchung noch einmal bündig zusammen, Literaturverzeichnisse (273–307) sowie Personen- und Sachwortregister (309–324) geben wichtige Hinweise auf weiterführende Literatur und ermöglichen dem Leser einen schnellen Zugriff auf wichtige Begriffe.
Der Gewinn der von K. vorgelegten Studie liegt in dem gelungenen Nachweis, dass Haeckels Ablehnung des Dualismus der christlich-theologischen Deutung der Natur diesen intern reproduziert. Haeckel, der in einem liberalprotestantischen Bildungsmilieu so­zialisiert wurde, war nicht nur zeitlebens von dem Programm einer Versöhnung von Wissenschaft und Religion geprägt, wie er es bei Schleiermacher und Christian Hermann Weiße (33) ausgearbeitet vorfand, sondern er bediente sich auch konfessionsspezifischer Muster der Polemik gegenüber dem römischen Katholizismus. In diesem vermochte der liberale Protestant Haeckel lediglich eine Form des »Aberglaubens« zu erblicken. »Er beklagt den antiaufklärerischen ›ganz unchristliche[n] Bilderdienst‹ der Jesuiten, die sich ›gegen die Naturforschung (und alle andere Aufklärung natürlich auch)‹ ereiferten« (35). Darwin verglich er mit Luther. Wie der Reformator, so leitete Darwin eine »neue Ära der Kulturgeschichte« (258) ein. Konfessionsspezifische Deutungsmuster mag man auch noch in seiner Kritik an der von dem Ersten Vatikanischen Konzil proklamierten Unfehlbarkeit des Papstes erblicken. Sie verstand Haeckel als eine »ultramontane[…] ›Kriegserklärung‹ gegen die moderne Wissenschaft« (ebd.). Noch bis Mitte des 19. Jh.s machte sich Haeckel wie zahllose Physikotheologen vor ihm mit Botanisierungstrommel und Mikroskop bewaffnet auf die Suche nach den Spuren Gottes in der Natur. Zahlreiche Briefe vor allem an seine Eltern geben darüber Auskunft, dass er in seinen Forschungsobjekten die Spuren der göttlichen Weisheit erblickte, welche den Kosmos harmonisch und gesetzmäßig eingerichtet hatte (82.92.95 u .ö.). Deutungsmuster der Physikotheologie und der romantischen Naturanschauung werden von Haeckel fortgeschrieben. Sie wurden ihm vermittelt durch Alexander von Humboldt (38–43), Matthias Jacob Schleiden (46–57), Gotthilf Heinrich von Schubert (43–46) und Johannes Müller (62–66) u. a. Die Rezeption von Darwins Origin of Species im Jahre 1859 führte, wie K. herausarbeitet, nicht zu einer Verabschiedung dieser naturtheologischen und romantischen Deutungsmuster.
Die Rolle des Schöpfergottes überträgt Haeckel nun auf die Natur, und der kausale Mechanismus der Selektionstheorie Darwins verbürgt die Einheit der Natur. Haeckel rezipiert Darwins Fassung der Evolutionstheorie nicht nur in einer teleologischen Lesart, sondern er bleibt auch nach seiner Lektüre der Schriften Darwins einer lamarkistischen Vererbungslehre verpflichtet. »Die Kernmetapher des symbolischen Feldes der oeconomia naturae, den ›göttlichen Weltbaumeister‹ hat Haeckel seit etwa 1860 verabschiedet. Das optimistische metonymische Geflecht zwischen Gott, Na­turganzem und Kunstwerk, harmonischer Selbstregulation, Nützlichkeit und Anpassung, Fülle, Fortschritt und Vervollkommnung, Notwendigkeit und Providenz freilich bleibt bestehen. Diese leitenden Begriffe des Monismus entstammen dem symbo­lischen Feld der oeconomia naturae, kausale und funktionale Erklärungen von Naturphänomenen verbleiben innerhalb des semantischen Repräsentationsraumes der Naturteleologie.« (270) Haeckels Deutung der Evolution als Fortschritt und schrittweise Vervollkommnung beerbt auch das Kernstück der überlieferten Schöpfungs­theologie, die Zentralstellung des Menschen in der Natur. Die Naturalisierung des Menschen, seine Einbindung in den kausalmechanischen Stufengang der Evolution führt zwar zur Eliminierung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, nicht jedoch zur Be­streitung von dessen Sonderstellung in der Natur. Der von Haeckel unternommenen Naturalisierung des Menschen korrespondiert eine Kulturalisierung der Natur. Dadurch möchte der Monismus Haeckels nicht nur das ausdifferenzierte Wissenschaftssystem in eine neue Gesamtperspektive integrieren, sondern auch zu neuer Sinnstiftung durch die Wissenschaft führen. Die religiösen Züge, die dem monistischen Programm einer Einheit der Natur ab ovo eignen und die im Spätwerk Haeckels zu der Proklamation des wahren Monotheismus der monistischen empirischen Naturphilosophie führen, sind der Ausdruck eines naturwissenschaftlichen Krisenbewältigungsprogramms. Freilich tritt in dem Monismus Haeckels an die Stelle des überlieferten Gottesgedankens der »mo­nistische Gott der Kausalität« (259), der jedoch bei aller Kritik an dem Dualismus der christlichen Religion nicht über die in ihn selbst eingegangenen internen dualistischen Momente hinwegtäuschen kann.