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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

688–690

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Barth, Ulrich

Titel/Untertitel:

Religion in der Moderne.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. X, 512 S. 8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 3-16-147916-5.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Der Titel ist Programm: Da der Religionsbegriff das »gedankliche Organisationszentrum« der Theologie in der Moderne darstelle, zielt der Vf. damit auf das so konzipierte Zentrum. »Gott selbst« sei einer wissenschaftlichen Perspektive unzugänglich im Unterschied zur Religion als »konkretes Lebensphänomen« (VII).
Um dieses Zentrum gruppieren sich fünf mal drei Studien, die bis auf zwei Ausnahmen in den Jahren 1991–2002 bereits publiziert worden sind. Damit bietet der Band einerseits einen guten Überblick über die Facetten der Theologie des Vf.s, andererseits eine beinahe monographisch strukturierte Systematik von wesentlichen Aspekten des Religionsthemas:
Die erste Gruppe ›Religion und Sinn‹ überschreibt die Studien »Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung«, »Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Bin­nenrelevanz der sogenannten Außenperspektiven« und die unveröffentlichte »Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich« (89–123). Dem frühen Tillich (gemeint sind die 20er Jahre) sei die »erste sinntheoretische Konstruktion des Religionsbegriffs« zu verdanken (89), die daher von bleibender und maßgeblicher Bedeutung sei. Denn sofern die »Sinnsuche ein Grundbedürfnis allen bewußten Lebens« sei und die entsprechende »Sinnbewirtschaftung« die we­sentliche Aufgabe sozialer Systeme darstelle (ebd.), wird Tillichs Religionstheorie damit zum zentralen Paradigma für das Programm des Vf.s.
Dass Tillich allerdings die erste sinntheoretische Religionstheorie entworfen habe, ist vermutlich nur dem plausibel, der sich sehr literal am expliziten Sinnbegriff orientiert. Wenn man der Eingangsthese folgte, dass Sinnsuche anthropologisch basal und konstitutiv sei und die entsprechend antwortenden sozialen Systeme durchaus älter als Tillich sind, erscheint die Orientierung am Begriff wenn nicht äußerlich, so doch verspätet. Dessen ungeachtet untersucht und entfaltet der Beitrag »problemgeschichtlich« erhellend die »Theoriekonstellation« (97), aus der Tillichs Entwurf sich entwi­ckelte: Husserls intentionalitätstheoretischen Sinnbegriff, Freges Bestimmung von Sinn und Bedeutung, Rickerts ›Gegenstand der Erkenntnis‹ sowie Lasks ›Logik der Philosophie‹. Bemerkenswert ist die damit vom Vf. entworfene Entwicklung der Sinntheorie hin zu ihrer hermeneutischen Dimension, die bei Lask zu einem »universalen Prinzip« erhoben werde: »Sinn ist das universale Medium der Verstehbarkeit des Seienden« (121). Das scheint umso weiterführender, als eine »weitergehende Letztbegründungsintention« bei Lask nicht mehr »auszumachen« sei (ebd.). Statt Tillichs Religionsbegriff daran anschließend zu un­tersuchen, lässt der Vf. eine Kurzversion seiner eigenen Religions­theo­rie folgen, die sich ihrerseits der hermeneutischen Perspektive an­schließt. Sinn als das universale Me­dium aller Selbst- und Weltauslegung bilde »den denkbar allgemeinsten Bezugspunkt der Religionsphilosophie« (122). Dafür entscheidend sei die »Unendlichkeitsdimension« von Sinn, die auf dessen »Transzendierungsfähigkeit« einerseits beruhe, andererseits auf der »Unbestimmtheit von Sinn« (123), die damit als indirekt symbolproduktive Bestimm barkeit in den Blick kommt. Dem folgend wären auch Formen des Nicht-Sinns, von dessen Durchstreichung etwa in ästhetischen Praktiken, religionstheoretisch relevant (vgl. 235 ff.). Ästhetische Figuren und Ges­ten der ›Unterbrechung‹ oder der ›Wi­derfahrnisse‹ (261) sind dann allerdings nicht ohne weiteres als Figuren der ›Anschaulichkeit‹ und ›Erlebnistiefe‹ zu deuten (262). Vielmehr wäre dem Sinn ein qualifizierter Antagonist gegenüberzustellen, wie dem Verstehen das Nichtverstehen.
Die zweite Gruppe ›Religion und Moderne‹ versammelt die Studien »Säkularisierung und Moderne. Die soziokulturelle Transformation der Religion«, »Die Umformungskrise des modernen Pro­tes­tantismus. Beobachtungen zur Christentumstheorie Falk Wagners« und drittens die unveröffentlichte Studie »Semantischer Interpretationismus. Die andere Selbstkorrektur der Analytischen Philosophie« (201–232). Letztere unternimmt es, den Grundbegriff der »deutungstheoretische[n] Konzeption« des Vf.s zu entfalten: den Begriff der »Deutung bzw. Interpretation« (201). Damit schließt sie an die Erörterung des Sinnbegriffs an und führt deren hermeneutische Perspektive weiter aus. Dabei setzt der Vf. seine hermeneutische Generalthese voraus: »Verstehen ist immer das Resultat von Deutungsleistungen, oder umgekehrt: Interpretation ist diejenige Tätigkeit, die auf Verstehen zielt« (ebd.). Das allerdings ist mitnichten unstrittig. Denn wenn man sich gleichsam ›unmittelbar‹ auf etwas versteht (wie J. Simons ›Philosophie des Zeichens‹ entfaltete), ist nicht jedes Verstehen eine Deutungsleistung. Und umgekehrt muss nicht jede Interpretation auf ›Verstehen‹ zielen, sondern kann – wie in technischen oder juristischen Zusammenhängen – lediglich ein Funktionieren der Semiose intendieren.
Statt seine These zu diskutieren, stellt der Vf. klar und kritisch die Problemgeschichte des nordamerikanischen Interpretationis­mus dar, maßgeblich Quines Theorie der radikalen Übersetzung (205 ff.), dessen Schüler Donald Davidson in seinen spezifischen Abweichungen von seinem Lehrer (210 ff.), Hilary Putnam (220 ff., nicht dessen neuere Entwicklung) und schließlich als Sonderfall Nelson Goodman (226 ff.). Leider belässt es der Vf. bei der Erhebung so prägnanter wie interpretationsbedürftiger Verdichtungen wie am Beispiel Goodmans, dessen Interpretationstheorie sich in den Thesen vom »Welterzeugungscharakter und vom prinzipiellen Pluralismus symbolischer Repräsentation« zusammenfassen lasse (229). Der Vf. bleibt hier konsequent problemgeschichtlich und weist weiterführend auf die deutschsprachigen Versionen des Interpretationismus hin: Hans Lenk und Günter Abel (von denen der Vf. 2002 bereits explizit Gebrauch machte, vgl. 73–76).
Wenn spätestens seit Putnam ›der‹ Interpretationismus eine Theorie von Verstehen und Interpretation darstellt, die die schlechte Alternative von Essentialismus und Relativismus überwinde (226), bietet das für eine subjektivitätstheoretisch begründete Deutungstheorie erhebliche Möglichkeiten. »Einer deutungstheoretisch angelegten Religionskonzeption kommt der semantische In­terpretationismus begreiflicherweise wie gerufen, verhilft er ihr doch unbeabsichtigt zur Verbreiterung ihrer Plausibilitätsbasis« (231). Gewonnen ist damit erfreulicherweise eine nachhaltige Überschreitung der klassischen analytischen Philosophie. Dieser Gewinn ist allerdings kaum zu halten, ohne auch das bewusstseinstheoretische Paradigma (vgl. 231) und die mitgesetzte Subjektivitätstheorie als historische und mögliche, aber weder maßgeb­liche noch entscheidende Interpretationskonstrukte zu relativieren (jenseits von Essentialismus und Relativismus allerdings).
Die dritte Gruppe ›Religion und Subjektivität‹ beinhaltet die bereits publizierten Studien »Religion und ästhetische Erfahrung. Interdependenzen symbolischer Erlebniskultur«, »Cartesianische oder hermeneutische Subjektivität. Heideggers Beitrag zu einer Theorie der Selbstdeutung« und »Von der Ethikotheologie zum System religiöser Deutungswelten. Pantheismusstreit, Atheismusstreit und Fichtes Konsequenzen«.
Die vierte Gruppe ›Religion und Autonomie‹ beinhaltet die bereits publizierten Studien »Die religiöse Dimension des Ethischen. Grundzüge einer christlichen Verantwortungsethik«, »Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts. Der Wandel der Gottebenbildlichkeitsvorstellung«, »Die Antinomien des modernen Kapitalismus. Wirtschaftsethische Überlegungen im Anschluß an Max Weber«.
Die fünfte Gruppe ›Religion und Naturwissenschaft‹ beinhaltet die bereits publizierten Studien »Abschied von der Kosmologie. Welterklärung und religiöse Endlichkeitsreflexion«, »Gehirn und Geist. Transzendentalphilosophie und Evolutionstheorie« und »Gott und Natur. Schellings metaphysische Deutung der Evolution«.

Sinn, Moderne, Subjektivität, Autonomie und Naturwissenschaft als die fünf Aspekte eines Verständnisses von Religion in der Mo­derne sind so plausibel wie erwartbar. Dass damit noch einiges zu wünschen wie zu denken übrig bleibt, ist allerdings wohl ebenso plausibel wie erwartbar. Dass etwa die mehr oder minder vergeb­lichen Überschreitungen der Moderne wie die Krisen der Subjek­tivität und Autonomie zu Fragen nach Fremdheit, Pluralismus, Gewalt oder den Anderen der Kultur führen, ist in der Spätmoderne kaum zu bestreiten. Demgegenüber sind die fünf Topoi des Vf.s merklich normativ besetzt, wenn nicht teleologisch konstruiert – und daher so erhellend wie wohl nur demjenigen zureichend, der von den entsprechenden Voraussetzungen schon zuvor überzeugt war.