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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

672–675

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Strübind, Andrea

Titel/Untertitel:

Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2003. 617 S. gr.8°. Geb. EUR 63,80. ISBN 3-428-10653-9.

Rezensent:

Hans-Jürgen Goertz

Das Täufertum, das im Zuge der Reformation um 1525 entstand, wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jh.s besonders intensiv erforscht. Zahlreiche kritisch edierte Quellensammlungen sind erschienen und noch weitaus mehr biographische, regionalgeschichtliche und theologische Untersuchungen. Als ein auffälliges Merkmal der neueren Forschung, die nicht mehr von der Monogenese, sondern von der Polygenese des Täufertums spricht, hat sich ihre sozialgeschichtliche bzw. kulturgeschichtliche Orientierung herausgebildet. Auf diese Weise wurde die theologische Betrachtungsweise früherer Zeiten abgelöst und das Täufertum rehistorisiert.
Gegen diese revisionistische Täuferforschung, wie sie genannt wurde, hat die baptistische Kirchenhistorikerin Andrea Strübind mit ihrer Heidelberger Habilitationsschrift über die Anfänge der Täuferbewegung in der Schweiz schwere Vorwürfe erhoben und noch einmal eine eigene Darstellung der bisher eigentlich schon gut erforschten Frühgeschichte des Täufertums vorgelegt. Wohl hat sie die Analysen der gesellschaftlichen Situation gewürdigt, in der diese Bewegung entstand und sich ausbreitete, das Recht auf eine Gesamtdeutung des Täufertums aber wurde der sozialgeschichtlichen Forschung abgesprochen und, da es sich beim Täufertum um eine »genuin religiöse« Bewegung gehandelt habe, der theologischen Betrachtungsweise allein vorbehalten und »eine Revision der revisionistischen Täuferforschung« gefordert (581).
Was in den Reaktionen auf die revisionistische Forschung vielleicht schon eine Weile untergründig schwelte, ist jetzt offen zu Tage getreten: ein konzeptioneller und methodischer Gegensatz zwischen einer Sozial- bzw. Profangeschichte, die den religiösen Sinn der Geschichte leugnet, und einer Kirchengeschichte, die, mit theologischer Einsicht begabt, in der Lage sei, eben diesen Sinn zu erfassen: »Entgegen der revisionistischen Täuferforschung läßt sich im Blick auf die untersuchten Zeugnisse der Haß auf die traditionelle kirchliche Hierarchie, einschließlich der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Implikationen, keineswegs als historisch hinreichendes Interpretament für die Täuferbewegung plausibilisieren« (576). Wer im Täufertum eine soziale bzw. sozialrevolutionäre, aber nicht eine »genuin religiöse« Bewegung sieht, muss den Gegenstand seiner Untersuchung verfehlen. Das ist ein harsches Urteil, das langjährige Bemühungen ins Unrecht setzt und die Forschungssituation mit einer steil aufgebauten Alternative nicht gerade für neue Erkenntnisse offenhält.
Es ist nur eine kurze Zeitspanne, die St. untersucht hat: von den Fastenbrüchen der Anhänger Ulrich Zwinglis 1522 über die Verweigerung der Zehntabgabe auf der Zürcher Landschaft 1522/23, die beiden großen Reformdisputationen in Zürich 1523, die allmähliche Formierung einer radikalen Gruppe ehemaliger Zwinglianhänger in Bibellesekreisen, den berühmten Brief dieser Gruppe an Thomas Müntzer 1524, die erste »Gläubigentaufe« im Januar 1525, die Verbreitung täuferischer Anschauungen in den Gebieten von St. Gallen und Appenzell bis zur Zusammenkunft einiger Täuferführer in Schleitheim, wo sie sich in Sieben Artikeln 1527 auf das Reformkonzept einer separatistischen Ekklesiologie mit leidensbereitem Gewaltverzicht einigten, auf ein Gemeindeverständnis also, das nach St. schon in den Bibellesekreisen angelegt war. Vorangestellt werden dieser Darstellung in eigenen Abschnitten ein Abriss zur Geschichte und Problematik der Täuferforschung (Kapitel 1), Aspekte der geschichtswissenschaftlichen Methodologiediskussion, wie sie von der Täuferforschung aufgenommen wurden, auch Probleme der Religionssoziologie sowie Überlegungen zur Bestimmung von »Kirchengeschichte als historische[r] Theologie« (Kapite l2) und schließlich eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der »Gemeindereformation«, wie Peter Blickle es zur Diskussion gestellt hat (Kapitel 3).
Die Untersuchung erstreckt sich auf die zeitlich und räumlich eng begrenzte Vor- und Frühgeschichte des schweizerischen Täufertums, also auf einen Ereignis- und Problemzusammenhang, der eigentlich schon gut erforscht war. Es wurden zwar keine neuen Quellen herangezogen (die auch kaum noch zu finden gewesen wären), dafür wurden die bekannten Dokumente aber noch einmal in einem kritischen Gespräch mit der neueren Täuferforschung einer ausführlichen Analyse unterzogen, oft detaillierter und erhellender, als es bisher geschah: z. B. die Beschreibung der humanistischen Sodalitäten und der Bibellesekreise der Proto-Täufer, der Brief des Grebelkreises an Müntzer, die Protestation des Felix Mantz oder die Konkordanz Hans Krüsis. Das sind hilfreiche und weiterführende Analysen. Daran lohnt sich anzuknüpfen und noch einmal zu erwägen, wie stark der Konsens unter den Radikalen tatsächlich schon war oder wie intensiv noch darum gerungen wurde. Misslich wird die Interpretation immer da, wo sie allzu polemisch und nicht immer mit dem notwendigen Verständnis für die konzeptionellen und methodischen Prämissen der Revisionisten ausfällt. Ein wenig deplatziert erscheint die Auseinander­setzung mit Blickles kommunalistischem Reformationskonzept. Offensichtlich wollte St. damit kritisch auf die sozialhistorische Orientierung der neueren Täuferforschung einstimmen. Tatsächlich sind Blickles Überlegungen zur Gemeindereformation aber erst veröffentlicht worden, als die revisionistische Täuferforschung bereits mehrere Jahre auf dem Weg war. Dass Blickle selbst sich schwertat, das Gemeindemodell des »gemeinen Mannes« bei den frühen Täufern wiederzufinden, wurde nicht bemerkt. Übrigens steht er dem Gemeindeverständnis, wie St. es bei den frühen Täufern entdeckt zu haben meint, näher als demjenigen der Revisio­nis­ten. Schließlich orientieren sich seine Untersuchungen auch nicht an dem Begriff der »sozialen Bewegung«, wie das in der revisionistischen Täuferforschung weitgehend der Fall ist.
Die gravierendsten Probleme, die diese Untersuchung aufwirft, ergeben sich aus einer ärgerlichen, allzu animos vorgetragenen Fehlinterpretation der revisionistischen Forschung. Das soll ab­schließend an zwei Problembereichen gezeigt werden.
1. St. wirft der neueren Forschung vor, sie arbeite mit einem re­duktionistischen, auf die gesellschaftliche Funktion eingeschränkten Religionsverständnis und leugne die Eigenständigkeit des theo­logischen Wirkfaktors in der Geschichte der Täufer. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Es geht dieser Forschung vielmehr da­rum, den »Sitz im Leben« der Theologie, vor allem der täuferischen Auffassungen von Ekklesiologie und Ethik, zu erfassen, um gerade deren verhaltens- und handlungsleitende Konkretion herauszuarbeiten. In diesem Sinne wurde dem antiklerikalen Milieu, was in diesem Buch missverstanden wurde (Exkurs: 582–585), die Funktion zugeschrieben, theologischen Ideen, die nicht schon deshalb von diesem Milieu abgeleitet sein müssen, Ausdruck, Resonanz und Gestaltungskraft zu verleihen. Allein in ihrer konkreten Gestalt lassen sich Ideen, Motive und Absichten historisch erfasse n– nicht an sich oder über die Zeiten hinweg. Eine ähnliche Wirkung für die Formgebung (proto-)täuferischer Ideen, um noch ein Beispiel anzuführen, hatte die Auseinandersetzung der Landgemeinden mit dem Zürcher Rat. Aus diesem Grunde kommt der Diskussion um die Abgabe des Zehnten auf dem Land doch mehr Bedeutung für die Entfremdung der so genannten Radikalen von Zwingli zu, als St. gelten lässt. Hier sind sogar schon die ersten Risse im reformatorischen Lager fassbar. Nur so kann es gelingen, der auch für das 16. Jh. noch typischen Symbiose von Sozialem und Religiösem gerecht zu werden, d. h. auch zwischen einer sozialen und religiösen Bewegung nicht zu trennen. Eine solche Trennung wäre ein Anachronismus und nähme die theologischen Ambitionen der Täufer, die von der Praxis her auf das Vorhandensein des Glaubens schlossen oder die »theologische Wahrheitsfrage« stellten (213–291), nicht wirklich ernst. Im Sozialen öffnet sich eine religiöse Dimension, und das Religiöse findet seinen konkreten, auch historisch greifbaren Ausdruck im Sozialen, Politischen und Kulturellen. Folgerichtig haben sich die Anhänger der religiösen Täuferbewegung mit den sozialen Forderungen des »gemeinen Mannes« identifiziert und die aufständischen Bauern ihr politisches Ge­meindekonzept religiös verstanden. So gesehen hängt das Täufertum enger mit dem Bauernkriegsgeschehen zusammen, als St. es sich eingesteht (427–439). Und unter diesem Gesichtspunkt müsste auch noch einmal überlegt werden, ob die religiöse Bewegung der Täufer, was von den Revisionisten nicht bestritten wurde, nicht auch eine soziale, nicht an Inhalten und Zielen, sondern an dem »kollektiven Akteur« orientierte Bewegung war.
2. St. hat in der Herausbildung einer separatistischen und friedfertigen Ekklesiologie von Anfang an das eigentliche Anliegen des frühen Täufertums gesehen: eine stringente, wenn zunächst auch nur zögerliche Entwicklung von den Erfahrungen in den Bibellesekreisen und den Gesprächen, die zum Brief an Thomas Müntzer führten, über die Praxis der Gläubigentaufe zum konsequenten Separatismus der Schleitheimer Artikel. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob nicht die Quellenhinweise auf unfertige theologische Begründungen, wie St. gelegentlich selbst bemerkt (286 f.), auf noch unausgeglichene, ja, widersprüchliche ekklesiologische An­sätze (zum einen Erneuerung der bestehenden Majoritätskirche, zum anderen Bildung einer Minderheitskirche) unter dem Diktat der erwähnten Alternative auf ein einseitig religiöses Interpretationsergebnis hin geglättet wurden: auf die Sichtbarkeit der Gemeinde hin, eine Sichtbarkeit, die von Anfang an den Separatismus in sich getragen habe (576). Sollte dieser Separatismus auf eine Erfahrung in den Bibellesekreisen zurückgegangen sein, die nach dem Vorbild der humanistischen Sodalitäten entstanden waren, ist kaum zu verstehen, warum die Sodalitäten sich im Schoße der Majoritätskirche einrichteten, ohne deren Verfassung grundsätzlich in Frage zu stellen, während die Proto-Täufer gerade das von Anfang an im Auge gehabt haben sollten. Bezeichnenderweise hat St. das täuferische Reformwirken Balthasar Hubmaiers in Waldshut ausgeblendet, das auf die Reinigung der bestehenden Kirche drängte, ein Wirken, das ebenso zur Frühgeschichte des schweizerischen Täufertums gehört wie das Wirken Johannes Brötlis, der den Brief an Müntzer mit der Aufforderung zum Gewaltverzicht unterzeichnet hatte und dann das Reformwirken seiner Anhänger in Hallau unterstützte, die ihn vor obrigkeitlichem Zugriff mit Waffengewalt schützten. Auch Brötlis Wirken in Hallau ist übergangen worden, ebenso das täuferische Bemühen um eine täuferische Reformation in Schaffhausen und die Werbezüge Wilhelm Reublins, des einstigen Prädikanten auf der Zürcher Landschaft, zwischen Zü­rich und Waldshut. Er war es, der die ers­ten Gläubigentaufen in Waldshut vorgenommen hatte, bevor Hubmaier dort zu taufen begann. Die Argumente, die für eine zweiphasige Entwicklung des frühen Täufertums sprechen, von der Majoritätskirche zur Minoritätskirche, sind von St. nicht entkräftet worden (s. neuerdings die ausführliche Gegendarstellung von C. Arnold Snyder, The Birth and Evolution of Swiss Anabaptism 1520–1530, in: Mennonite Quarterly Review 80, 2006, 501–645).
Die sozialgeschichtlich ausgerichtete Täuferforschung hat gewiss nicht das letzte Wort gesprochen, aber St. ist es ebenso wenig gelungen, ein theologiegeschichtliches Interpretationsprimat zu begründen.