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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

670–672

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Staupitz, Johann von

Titel/Untertitel:

Sämtliche Schriften. Abhandlungen, Predigten, Zeugnisse. Hrsg. v. L. Graf zu Dohna u. R. Wetzel. Bd. 5: Gutachten und Satzungen.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. XII, 360 S. m. 2 Abb. gr. 8° = Spätmittelalter und Reformation, 17. Lw. EUR 155,00. ISBN 978-3-11-007810-7.

Rezensent:

Markus Wriedt

Der sächsische Adlige, Freund des Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen, Mitbegründer und langjähriger Dekan der Landesuniversität in Wittenberg, engagierter Verfechter der Ordensobservanz und Generalvikar der observanten Augustinereremiten Johann von Staupitz (ca. 1465–1524) wurde in der theologischen Reformationsgeschichtsforschung lange im Licht seiner Bedeutung für Martin Luther traktiert. Dazu hatte der spätere Reformator selbst Anlass gegeben, wenn er den Ordensbruder als jenen bezeichnete, der ihm das Licht des Evangeliums entzündet habe (WA Br 3, Nr. 659 vom 17. September 1523). Rasch wurde daraus das schier unausrottbare Vor-Urteil, wonach St. als Vorläufer der Wittenberger Re-formation gesehen wurde. Diskreditierte das den 1524 nach seinem Ordenswechsel als Abt von St. Peter (Salzburg) am Inn verstorbenen Theologen in Rom mit der Folge, dass seine Werke 1555 indiziert wurden und damit seine Schriften durch einen eifrigen Nachfolger im Amt der Benediktinerabtei verbrannt wurden, stand er für an­dere im Licht früher evangelischer Besinnung und wurden seine Werke insbesondere im protestantisch-dissidenten Lager der Nachwelt erhalten.
Immer wieder gab es Versuche, seinen schriftlichen Nachlass zu edieren, die alle nicht zum Abschluss kamen. Erst im Zuge der umfangreichen Editionspläne des Tübinger Sonderforschungsbereiches »Spätmittelalter und Reformation« wurde erneut mit einer sorgsamen Edition der Werke des Augustiners begonnen. Unter der Federführung von Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel erschienen zunächst die lateinischen Schriften. Den Anfang machte 1979 die nachträglich ins Lateinische übersetzte Predigtreihe aus der vorösterlichen Fastenzeit des Jahres 1517 unter dem Titel: Libellus de ecsecutione aeternae praedestinationis mitsamt deren deutscher Übersetzung durch Christoph Scheuerl, den mit St. aus Bo­logna und Wittenberg bekannten, humanistisch geprägten Nürnberger Ratskonsulenten. Mit größter Akribie wurde das Büchlein nicht nur ediert, sondern in zwei ausführlichen Anmerkungsapparaten (Textkritik und kommentierende Verweise) und mit einem höchst differenzierten diakritischen Zeichensystem versehen auf mögliche Traditionsbezüge hin erfasst. Nur wer die zahlreichen Werke der Kirchenväter und Scholastik selbst in nur teilweise editorisch erschlossener Form kennt, vermag zu ermessen, welche Mühen die Herausgeber auf sich nahmen, auf den Bildungshorizont des theologischen Eklektikers zu verweisen. 1987 erschienen bearbeitet von Richard Wetzel die wohl nie gehaltenen, gleichwohl in ausführlicher Vorbereitung schriftlich verfassten Predigten des Augustiners aus seiner Tübinger Zeit zu den Kapiteln 1–2,10 des alttestamentlichen Buches Hiob, die in außergewöhnlich dichter Form Zeugnis von der »dramatischen Reichweite des exegetischen und geistigen Umbruchs [geben], der schließlich zur Verdrängung und Überwindung der scholastischen Methode führte« (Heiko A. Oberman im Vorwort des Bandes, 1). Noch ganz im Stile der spätscholastischen Exegese gehalten, deuten sich doch erste Differenzierungen an, die auf der Grundlage der nun vorliegenden Edition der Werke Wendelin Steinbachs und Konrad Summenharts durch Helmut Feld sowie der in den letzten 20 Jahren intensivierten Forschungen zu Gabriel Biel (Ulrich Köpf, Detlef Metz, Gerhard Faix) ein relativ geschlossenes Bild der Tübinger Theologie zur Jahrhundertwende ermöglichen.
Nach langer Zeit erscheint mit dem fünften Band der Staupitz-Ausgabe eine Sammlung der kirchlich-rechtlichen Äußerungen von St. Er enthält drei recht unterschiedliche Schriften des Augus­tiners, die dieser auf Grund konkreter Ereignisse, wenn nicht gar im Auftrag seines Ordens verfasst hat. Zunächst die 1500 von ihm selbst in Tübingen in den Druck beförderte Decisio quaestionis de audientia missae in parochiali ecclesia dominicis et festivis diebus, welche im vorliegenden Band von Wolfgang Günter bearbeitet wurde. St. trat mit diesem Gutachten erstmalig an die Öffentlichkeit und nahm darin Stellung zu dem zwischen Mendikanten und Pfarrklerus schwelenden Streit um die Seelsorgerechte – eigentümlicherweise zu Gunsten der Stadtpfarrer. Die consultatio super confessione Agricolae – bearbeitet von Lothar Graf zu Dohna – entstand 1523 zu einer Zeit, als St. bereits in Salzburg nach seinem päpstlich dispensierten Ordenswechsel Abt der Benediktinerabtei St. Peter geworden war. Der unter dem Verdacht der Verbreitung häre­tischer, i. e. lutherischer Ansichten stehende Stefan Kastenbauer ge­hörte der bayerischen Provinz der Augustinereremiten an. Auch wenn das Verhör durch seinen ehemaligen Mitbruder wenig Erfolg zeigte – Kastenbauer wurde weder verurteilt noch widerrief er seine Aussagen –, wirft das Gutachten ein interessantes Licht auf den Verlauf eines Häresieverfahrens und die schwierige Lage von St., der sich zunehmend selbst dem Verdacht ausgesetzt sah, sich in dem von ihm administrierten Ordenszweig der Verbreitung von Irrlehren und Ketzerei nicht entschieden genug gewehrt zu haben.
Die grundlegende Einflussnahme von St. auf die Observanz der reformierten Kongregation der Augustinereremiten wird aktenkundig in den am 27. April 1504 in Nürnberg verabschiedeten Constitutiones OESA pro reformatione alemanniae – bearbeitet von Wolfgang Günter. Darin dokumentiert sich einerseits die Notwendigkeit der reformierten Kongregation, ihr Ordensleben auf eine rechtlich abgesicherte Grundlage in Übereinstimmung mit den Gründungsdokumenten des Ordens zu stellen, andererseits zeigt die Edition aber auch in einer eindrücklichen Weise die betonte Eigenständigkeit der deutschen Kongregation gegenüber der italienischen Reformbewegung innerhalb des Ordens. Ohne Zweifel wird die vorliegende Ausgabe zur Grundlage weiterer Studien werden, die weiteres Licht in das Dunkel der Ordenserneuerungen bringen kann. Zwei umfangreiche Apparate erläutern auch in diesem Band zunächst textkritische Varianten und lassen die Entscheidungen der Herausgeber zumeist gut nachvollziehen, um sodann in einem zweiten Apparat die traditionsgeschichtlichen Bezüge – soweit bekannt – aufzudecken. Man mag über dieses Verfahren streiten und fragen, ob tatsächlich alle Bezüge erkannt sind oder ob nicht doch in einer bestimmten Hinsicht gesucht – und gefunden! – wurde. Dennoch bietet der Apparat zahllose Bezüge, die der weiteren Beschäftigung mit den Texten am Vorabend der Reformation höchst dienlich sein dürften. Dazu zählt gewiss auch das lateinische Glossar sowie die Register zu Namen, zitierten Schriften und Bibelstellen.
Besonders dieser letzte Band macht deutlich, wie sehr St. dem sentire cum ecclesia innerlich verbunden war und dies auch institutionell umsetzte. Er hat zu keiner Zeit einen Bruch mit der abendländisch-römischen Kirche auch nur in Erwägung gezogen. Damit mag seine »Vorläuferschaft« zu Luther in einem anderen, differenzierteren Licht erscheinen und sich seine theologiegeschichtliche Würdigung aus dem Fokus der späteren Entwicklung seines Wittenberger Nachfolgers lösen. St. gehört ohne Zweifel zu jenen, deren theologische Reflexion, vor allem aber deren seelsorgerliche Umsetzung des scholastischen Erbes und der kirchlichen Traditio n– hier ist auch, aber nicht allein auf Augustin zu verweisen – das Klima für zahlreiche jüngere Theologen prägten, in denen diese dann zu eigenständigen Ergebnissen exegetisch-theologischer Arbeit kamen. Wie unterschiedlich diese Entwicklungen verliefen, vermag man zu ermessen, wenn man die theologischen Äußerungen etwa Christoph Scheuerls, des humanistisch gesonnenen Juristen, mit denen Andreas Bodensteins von Karlstadt, des akzentuiert thomistisch in Wittenberg als Vertreter der via antiqua lehrenden späteren Dissidenten der Wittenberger Bewegung, und Martin Luthers vergleicht. Sie alle haben durch St. sowohl die seelsorgerliche Predigt und Begleitung erfahren, sie alle sind durch ihn auf Augustins antipelagianisches Werk de spiritu et littera aufmerksam gemacht worden und sie alle sind je eigene Wege in den folgenden Jahrzehnten gegangen, die sie teilweise zu erbitterten Gegnern machten. Für diese Entwicklungen wird man St. kaum verantwortlich machen können. Dies umso weniger, als nun eine sorgfältige Edition vorliegt, die das Studium der originalen Texte in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive erlaubt. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die angekündigten und noch fehlenden Bände rasch erscheinen und diese Edition nicht das Schicksal der Unvollständigkeit ihrer Vorläufer teilt.