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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

59 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fenske, Wolfgang

Titel/Untertitel:

"Und wenn ihr betet ..." (Mt 6,5). Gebete in der zwischenmenschlichen Kommunikation der Antike als Ausdruck der Frömmigkeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 348 S. gr.8° = Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 21. Geb. DM 128,­. ISBN 3-525-53373-X.

Rezensent:

Walter Rebell

Das anzuzeigende Buch ist eine Doktorarbeit, die 1994 der Evanglisch-Theologischen Fakultät der Universität München vorgelegen hat und von H.-W. Kuhn betreut worden ist. Es geht dem Autor um den "funktionalen Einsatz des frühchristlichen Gebets". Was damit gemeint ist, kann man sich am besten durch einen Blick in eine pietistische Versammlung klarmachen, in der freies Beten praktiziert wird. Wenn hier jemand seine Stimme erhebt, um Gott zu loben oder von ihm etwas zu erbitten, übt er zugleich ­ bewußt oder unbewußt ­ Wirkungen auf die anderen Gemeindeglieder aus: sei es, daß er den anderen etwas ins Stammbuch schreiben möchte, etwa ihre laxe Haltung korrigieren, sei es, daß er sich als Anwärter für die nächste Ältestenwahl vorstellen will usw. ­ dem funktionalen Einsatz des Gebets im sozialen Feld sind keine Grenzen gesetzt.

F. nun ist auf die brillante Idee gekommen, eben diese Sicht des Gebets an frühchristliche (und zeitgenössische antike) Texte heranzutragen. Dabei mußte notwendigerweise eine hervorragende Dissertation entstehen! Mit einer solch intelligenten Basisidee konnte man nicht mehr viel falsch machen! Und doch möchte ich eine gewisse Enttäuschung nicht verhehlen: Der Autor benutzt in keiner Weise human- oder sozialwissenschaftliche Fragestellungen. Aber zu welch luziden Ergebnissen könnten gerade bei solch einem exegetischen Thema psychologische Analysen führen! Und außerdem: Wenn man in den Titel seiner Doktorarbeit den Begriff "Kommunikation" aufnimmt, sollte man dieses Wort wissenschaftlich ventiliert haben, was aber bei F. nicht der Fall ist; nicht einmal bei Watzlawick scheint er nachgelesen zu haben. Viel lernen können hätte er z. B. von der Dissertation Reinhold Recks "Kommunikation und Gemeindeaufbau" (Stuttgart 1991), der genau dies tut: den auch bei ihm leitenden Begriff der Kommunikation zunächst einer gründlichen Klärung zu unterziehen. ­ Bei einer Erweiterung der Fragestellung über den engen Methodenkanon der Exegese hinaus hätte natürlich auch das klassische Werk von Friedrich Heiler, Das Gebet (Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung), ausgewertet werden müssen. Bei der vorliegenden Konzeption der Arbeit ist aber nur zu verständlich, daß es fehlt: Es hätte den Rahmen gesprengt.

Damit sei nun allerdings die Kritik an der Dissertation beendet; läßt man sich auf die ihr innewohnende Logik ein, ist man schnell wieder versöhnt.

F. gliedert die soziale Verwendung des Gebets nach vier Funktionen (die allerdings nicht scharf voneinander zu unterscheiden sind): 1. Die literarische Funktion, 2. Die kommunikative Funktion, 3. Die pragmatische Funktion, 4. Die inzitive Funktion. Untersucht werden jeweils zunächst pagane Gebete, dann alttestamentlich-jüdische und schließlich christliche.

Zu 1: F. fragt hier, wie ein Autor Gebete benutzt, um literarische Zwecke zu verfolgen. Zum Beispiel werden durch ein Gebet am Anfang eines Werkes dem Leser Vorinformationen vermittelt; auch eine göttliche Legitimierung des Werkes kann auf diese Weise erreicht werden. Am Schluß einer Schrift kann ein Gebet unter Umständen das Berichtete zusammenfassen, in der Mitte hat es vielleicht Scharnierfunktion und dient der Spannungserhöhung (vgl. das Schema: Not ­ Gebet ­ Hilfe). Neutestamentliches Beispiel einer literarischen Funktion: "Matthäus stellt das ’Gebet Jesu’ (6,9 ff.) in die Mitte der Bergpredigt, und es erweist sich, daß die Bergpredigt ein Kommentar zum ’Gebet Jesu’ darstellt" (284 f.).

Zu 2: Das Thema ist der Mitteilungswert von Gebeten. So kann etwa der Autor über ein Gebet den Charakter seines Protagonisten zeichnen. ­ Neutestamentliches Beispiel einer kommunikativen Funktion: Durch das Gebet Jesu in Joh 11,41 f. wird der Gemeinde mitgeteilt, daß es bei der Auferweckung des Lazarus letztlich nicht um das Wunder als solches ging, sondern um den Glauben.

Zu 3: F. analysiert mit gutem Gespür, wie die von ihm befragten Autoren in ihre Werke Gebete einbauen, um bei den Lesern bestimmte Verhaltensweisen oder Stimmungen hervorzurufen. Besonders Lukas versteht sich auf emotionalisierende Effekte; immer wieder prägt er traditionelles Gebetsgut um, weil er so seine Leser in Erwartung versetzen will.

Zu 4: "Die inzitive Funktion bedenkt, daß der Mensch bewußt oder unbewußt Gebete anderer aufnehmen und sich zu eigen machen kann... Gebete begnadeter Menschen können der Sprachfindung für eigenes Beten dienen" (290). Also auf eine Art von Modellernen wird hier abgehoben.

Dieser Untersuchung der vier kommunikativen Funktionen des Gebets läßt F. ein Kapitel folgen, in dem er den Beter selber in den Blick nimmt: "Das Gebet (auch das funktional eingesetzte) spiegelt die Frömmigkeit des Betenden wider". Auch in den bewußt auf den Rezipienten zielenden Gebeten eines Textes läßt sich ­ so meint F. ­ durchaus der Autor selber mit seiner Theologie und Frömmigkeit ausmachen.

Insgesamt zeigt sich immer wieder, daß dank der glücklich ausgewählten Fragestellung der Arbeit auf viele Einzeltexte des NT ein neues Licht fällt.