Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

667–669

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Sames, Arno [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

500 Jahre Theologie in Wittenberg und Halle 1502 bis 2002. Beiträge aus der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Universitätsjubiläum 2002.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 245 S. m. Abb. gr.8° = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 6. Geb. EUR 38,00. ISBN 3-374-02115-8.

Rezensent:

Andreas Gößner

Die Publikation reiht sich mit ihren Beiträgen zur Theologie ein in die Veröffentlichungen zum Universitätsjubiläum 2002, das die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Erinnerung an die Gründung der Leucorea im Jahr 1502 beging. Die ersten drei Aufsätze des Sammelbandes sind der akademischen Theologie an der Wittenberger Universität gewidmet, während die folgenden sieben Aufsätze der Theologie an der 1694 gegründeten Salana gelten. Das einigende Band aller Beiträge ist denn auch der Universitäts- bzw. Fakultätsstandort.
Der Beitrag von Udo Schnelle beschäftigt sich zunächst mit den theologischen Grundlagen und hermeneutischen Prinzipien der Bibelauslegung Luthers. Dabei werden die Konsequenzen der reformatorischen Erkenntnis von der Rechtfertigung im Glauben besonders für Luthers Schriftverständnis deutlich gemacht und die in der Verbindung von historischer und dogmatischer Lesart der Heiligen Schrift begründete Aktualität seines hermeneutischen Ansatzes wird betont. Insbesondere habe Luther als Exeget ein heute noch – angesichts der Herausforderungen von Humangenetik und Biotechnologie – tragfähiges Verständnis von Freiheit und Würde des Menschen als Geschenk Gottes, wie es etwa der von Jürgen Habermas geprägte Begriff »Gattungsethik« nicht leiste. Schnelle betont daher die nach wie vor gültige Gesprächs- und Leistungsfähigkeit von Luthers Exegese. Der Neutestamentler Hermann von Lips untersucht in seinen Ausführungen Melanchthons eigenständige exegetische Werke. Zunächst werden die Vorlesungstätigkeit Melanchthons, in deren Rahmen die Beschäftigung mit den Paulusbriefen und vor allem dem Römerbrief eine hervorragende Stellung einnimmt, und seine weiteren Hochschulaktivitäten (Studienordnungen, akademische Reden) – soweit sie Me­lanchthon als Exegeten zeigen – thematisiert. Der Paulusauslegung gilt dann hauptsächlich das Interesse, wobei auf zwei im Druck veröffentlichte Schriften, die Loci communes von 1521 und den Römerbriefkommentar von 1532, eingegangen wird. Lips skizziert die Entstehung dieser Werke, weist auf die an der antiken Rhetorik und Dialektik geschulte Methode hin, die Melanchthon als Humanist verinnerlicht hatte, und geht auf die Textanalyse Melanchthons ein. Dabei zeigt sich, dass Melanchthons Umgang mit dem Römerbrief nicht nur im Dienste des reformatorischen Anliegens stand, sondern zu Recht auch methodisch als innovativ gelten kann. Unter dem Titel »›Extra Academiam vivere, non est vivere‹.
Der Theologe Paul Röber (1587–1651) und die Frage nach dem Lebensbezug einer Universität« geht Kenneth G. Appold dem historischen Um­feld des Titelzitates nach. Dazu finden zunächst die Lebensstationen Röbers Erwähnung, der vor seiner Berufung an die Leucorea im Jahr 1627 ein Jahrzehnt als magdeburgischer Hofprediger in Halle gewirkt hat und dort besonders durch seine Predigttätigkeit hervorgetreten ist. Aus der Wittenberger Wirksamkeit zieht Appold besonders die einschlägigen Disputationen Röbers heran und diskutiert anhand dieser Quellen die Praxisorientierung der zeitgenössischen Theologie, wobei er die in der Kirchengeschichtsforschung geprägten Kategorien »Orthodoxie«, »Reformorthodoxie« und »Pietismus« am Beispiel Röbers rekapituliert und ihre An­wendbarkeit kritisch reflektiert. Röbers besonderes Profil wird schließlich mit einem Blick auf seine sozialen Reformanliegen und seine Frömmigkeit, vor allem aber auf seine Auffassung vom akademischen Leben, dem ein konstitutiver Charakter für soziale Reform und Frömmigkeitspraxis zukommt, behandelt.
Die folgenden Studien wenden sich von Wittenberg ab und dem Universitätsstandort Halle zu. Die beiden nächsten Aufsätze sind der Ausstrahlung des Halleschen Pietismus und dem theologischen Werk seines Begründers gewidmet. Im Beitrag »August Hermann Francke und die ökumenischen Dimensionen des Halleschen Pietismus« geht Helmut Obst den weltweiten Aktivitäten Franckes nach. An Beispielen, die seine Kontakte in den osteuropäischen bzw. orientalischen Raum und in die angelsächsische Welt zeigen, dokumentiert Obst die aus Franckes Bekehrungstheologie, seinem Toleranzverständnis und seiner Ekklesiologie resultierende ökumenische und transkonfessionelle Ausrichtung seiner Be­wegung.
Die Studie von Hermann Goltz stellt die Geschichte, Ak­tivitäten und Leistungen einer Einrichtung ins Zentrum, deren wissenschaftlich-theologische Arbeit zur Edition der hallischen He­braica, des Novum Testamentum Graece und weiterer zweisprachiger sowie auch volkssprachlicher Bibelausgaben führte. In seiner Ar­beitsweise einem modernen Graduiertenkolleg vergleichbar stellte das 1702 gegründete Collegium Orientale Theologicum einen wichtigen Beitrag zur Realisierung von Franckes Idee eines Universalseminars dar, bei der sich der soziale und pädagogische Ansatz mit einem Blick in den Orient und nach Russland verband. Goltz nimmt dabei besonders die Korrespondenz zwischen Fran­cke und Heinrich Wilhelm Ludolf in den Blick, in der die Erfahrungen von dessen Reisen verarbeitet wurden. Eine Wiederbegründung des Collegium Orientale Theologicum nach dem historischen Vorbild ist seit 2002 in eine erste Phase eingetreten.
Ernst-Joachim Waschke widmet sich unter der Überschrift »Hermann Gunkel – der Begründer der religionsgeschichtlichen Schule und der gattungsgeschichtlichen Forschung« einem der – nach heutigen Maßstäben – »führenden Köpfe[n], die die alttestament­liche Wissenschaft des 20. Jahrhunderts geprägt haben« (142). Dennoch – so zeigt Waschke – war das Verhältnis zwischen der Theologischen Fakultät Halle und dem aus Göttingen kommenden Exegeten, für den zum Verständnis des biblischen Textes der jeweilige historische und religiöse Hintergrund zur zentralen Kategorie wurde, nicht ganz einfach. Mit dem Wechsel nach Halle im Jahr 1889 war für Gunkel auch der Wechsel vom Neuen ins Alte Testament verbunden. Seine Hauptwerke haben auf dem Gebiet der Religions- und Gattungsgeschichte die alttestamentliche Wissenschaft in zwei wesentlichen Bereichen geprägt. – Einem besonderen interdisziplinären und internationalen Kapitel aus der Halleschen Theologiegeschichte spürt Arndt Meinhold in seinem Beitrag »Ugarit und Halle. Zur Bedeutung von Hans Bauer und Otto Eißfeldt für Ugaritologie und Theologie« nach. Dem Orientalisten Hans Bauer gelang 1930 die Entzifferung der ugaritischen Schrift, womit nach den ersten Ausgrabungen in Ugarit eine Kultur des syrophönizischen Raumes mit internationalen Bezügen erforscht werden konnte. In zeitlicher Nähe dazu erschloss der Alttestamentler Otto Eißfeldt die Grundlagen der kanaanäisch-ugaritischen Religion. In den folgenden Jahrzehnten wurde Halle somit durch die gegenseitige Befruchtung beider Wissenschaftszweige in der Person Bauers und der Eißfeldts zum Zentrum der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet der Orientalistik.
Dem 1931 nach Halle berufenen Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie, Günther Dehn (1882–1970) widmet sich Raimund Hoenen in seinen Ausführungen. Auf der Basis der Biographie Dehns stellt der Vf. dessen Verständnis von Frieden und Versöhnung als Vollzug seines theologischen Denkens dar. Dehn geriet schon als Sozialdemokrat während der Weimarer Republik und vollends seit der nationalsozialistischen Machtergreifung, die ihn 1933 die Anstellung kostete, in vielfältigen Konflikt durch sein eschatologisches Verständnis der christlichen Friedens- und Heilsbotschaft, das in seiner kritischen Distanz zu Kirche und Gesellschaft an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Unterschiedlichen Lutherbildern und Reformationsdeutungen des 19. und 20. Jh.s geht Ulrich Barth nach und öffnet dabei be­sonders den Blick für die im theologischen Historismus thema­tisierte »Sinnambivalenz historischen Erinnerns« (183). Die von Barth herausgearbeiteten Merkmale des als Strukturbegriff verstandenen ›aufgeklärten Protestantismus‹ ergeben »eine hochgradig re­flexive Identität« (187 f.). Am Beispiel der Luther-Deutung werden dann diese methodischen Überlegungen konkretisiert. Schließlich folgt die Darstellung der ambivalenten Deutung der Reformation und des Reformators Luther bei Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch und Emanuel Hirsch.
Anne M. Steinmeier setzt sich in dem Beitrag »Vom Beten und der ›Menschlichkeit in finsteren Zeiten‹« mit den Vaterunser-Predigten des ab 1938 an der Marktkirche in Halle wirkenden Pfarrers Martin Schellbach auseinander. Bereits in seinem Büchlein »Paulus als Beter« betont dieser an zentraler Stelle die »Gemeinschaft gestaltende Macht des Gebets« (205). Mit diesem Gedanken und Aussagen zur Konstituierung von Gemeinsamkeit in Sprache und ihrem Sinn in Schellbachs Vaterunser-Predigten setzt sich Steinmeier unter stetem aktuellen Bezug auf den folgenden Seiten auseinander.
Den Abschluss des Bandes bildet die Dokumentation der Ehrenpromotion von Konrad Cramer, Ordinarius am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen, am 10. Juli 2002 durch die Theo­logische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, womit Cramers Forschungsarbeiten auf den Gebieten des aufgeklärten Rationalismus, der abendländischen Ontotheologie sowie der Religionsphilosophie und Theologie Schleiermachers gewürdigt werden.