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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

654–656

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Niesner, Manuela

Titel/Untertitel:

»Wer mit juden well disputiren«. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer 2005. X, 650 S. gr.8° = Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 128. Lw. EUR 86,00. ISBN 3-484-89128-9.

Rezensent:

Ariane Czerwon

Seit Bestehen des Christentums waren dessen Vordenker bestrebt, ihr Glaubenssystem sowohl im Inneren als auch nach außen hin abzusichern. Das stete Bemühen um Binnenprofilierung bedingte die Abwehr abweichender, fremder Glaubenspositionen, insbesondere heidnischer und jüdischer, welche sich auf zweierlei Wegen vollzog: einmal durch die innerchristliche Glaubensstärkung und im Umkehrschluss durch die unmittelbare – z. T. missionarisch ausgerichtete – Wendung gegen den jeweiligen Glaubensgegner. Insbesondere für die argumentative Auseinandersetzung mit den Vertretern des Judentums schufen die christlichen Theologen seit der Spätantike von Tertullian und Augustinus über Isidor von Sevilla bis zu Petrus Alphonsi, Alanus ab Insulis und Nikolaus von Lyra eine reichhaltige lateinische Ratgeberliteratur »adversus Judaeos«. Die frühesten volkssprachlichen, exegetisch argumentierenden Adversus-Judaeos-Texte, die sich vorrangig an ein Laienpublikum richteten und diesem die aus der lateinischen Tradition überlieferten Themen und Argumente erschlossen, sind aus dem 14. Jh. nachweisbar. Die Analyse und (teilweise) Edition dieser aus dem Süden des deutschen Sprachraumes stammenden und innerhalb der Forschung bisher noch wenig beachteten Schriften hat sich die Vfn. der vorliegenden germanistischen Habilitationsschrift zur Aufgabe gemacht.
In einer ausführlichen Einleitung (1–47) werden zunächst die historischen Rahmenbedingungen für das alltägliche, juristische und institutionelle Beziehungsgefüge zwischen Juden und Chris­ten im spätmittelalterlichen Reich abgesteckt. Daran anschließend erfolgt in einem ersten darstellenden Teil die Untersuchung der deutschen Texte mit dem Ziel, »auf der Grundlage der Einzelergebnisse … Folgerungen für die jeweilige Intention der Autoren und für die Frage nach der Funktion der Texte inner- oder außerhalb der christlich-jüdischen Begegnung zu ziehen« (47). Am Anfang stehen dabei die Traktate des sog. »Österreichischen Bibelübersetzers«, deren Edition den zweiten Teil der Arbeit bildet. Im Zuge der inhaltlichen und formalen Analyse zeigt sich, dass den Texten dieses Autors im Vergleich mit den anderen herangezogenen Schriften eine in mehrfacher Hinsicht herausgehobene Position zukommt. Diese Stellung verdankt er u. a. dem Umstand, dass er als einziger der deutschsprachigen Autoren den Talmud in einem seiner Traktate (»Von der juden jrrsall«) für polemische Attacken wider die Juden heranzog. Die Talmudkritik allgemein steht im Zusammenhang mit der sich verschärfenden Vorgehensweise gegen Juden im Verlaufe des 13. Jh.s, die in einer kirchlichen Missionsoffensive gipfelten, deren Träger die Bettelorden waren.
Die Talmudpolemik entfaltete insbesondere im süddeutschen Sprach­raum eine geradezu traditionsbildende Wirkung und floss auch in die Volkspredigt der Zeit ein (antitalmudische Invektiven sind allerdings nicht nur in den von der Vfn. herangezogenen deutschen Predigten Bertholds von Regensburg nachzuweisen, sondern bereits in seinen lateinischen Sermones). Insbesondere der Pariser Talmudprozess von 1240 wirkte hier nach; die im Zuge des Prozesses entstandene Schrift »Errores Judaeorum im Talmut« verbreitete sich in Deutschland rasch. Von der Vorstellung vom häretischen Inhalt des Talmuds war es dann nur ein kleiner Schritt zum Vorwurf der Ketzerei an die Juden mit allen daraus resultierenden rechtlichen Konsequenzen. Genau diesen Schritt vollzieht der Ös­terreichische Bibelübersetzer in seinem Traktat »Von der juden jrrsall« – »im mittelalterlichen Antijudaismus eine theoretische Extremposition« (458), wie die Vfn. konstatiert, auch wenn insbesondere die Gefahr jüdischen »Proselytenmachens« von der Kirche offenbar durchaus als gravierendes Problem betrachtet wurde: Bereits 1267 hatte Clemens IV. in einer Bulle die dominikanische und franziskanische Inquisition aufgefordert, gegen das Judaisieren von Christen vorzugehen.
Entsprechend den sich im 14. Jh. insbesondere im süddeutschen Sprachraum verschärfenden antijüdischen Tendenzen verfolgte der Österreichische Bibelübersetzer mit seinem Traktat nicht das Ziel, eine Apologie christlicher Glaubensinhalte gegen jüdische Einwände zu bieten, sondern vielmehr die Juden als soziale Gruppe zu attackieren: »Sein Ziel war offenbar der Angriff auf das Existenzrecht der Juden innerhalb der christlichen Gesellschaft« (446). Eine derart agitierende Rhetorik bildet unter den von der Vfn. untersuchten Texten die Ausnahme: In ihrer Gesamtheit wollen die Texte »nicht primär Emotionen mobilisieren, sondern vor allem … argumentativ überzeugen. Sie lassen sich demnach in ihrer Grundstruktur nicht als Ventile christlicher Autoaggression er-klären« (455.456). Gleichwohl wertet die Vfn. die Wendung gegen Juden als nicht bloß rhetorische, sondern konstitutive Funktion für die Gesamtheit der Texte, als deren Hauptziele sie zwei Punkte be­stimmt: einerseits die Bekämpfung von möglichen Glaubenszweifeln der christlichen Rezipienten und andererseits die argumentative Schulung derselben für eventuelle interreligiöse Ge­spräche mit Juden, um Übertritte der Christen zu verhindern (461). Bei den vorauszusetzenden Adressaten der Texte dürfte es sich um ein Publikum gehandelt haben, welches überwiegend aus Laien be­stand, »unter denen Landherren und Fürsten, aber auch Stadtbürger und Konversen waren« (452).
Grundsätzlich muss also für den süddeutschen Sprachraum im 14. Jh. von der Existenz jüdisch-christlicher Religionsgespräche unter Laien ausgegangen werden, auf Grund derer der Österreichische Bibelübersetzer und seine Zeitgenossen affirmativ wirkendes Argumentationsmaterial für die christlichen Teilnehmer bereitstellen wollten. Denn »wer mit juden well disputiren« (373), dem sollte, da man ihn schon nicht »zu einem versierten Theologen ausbilden konnte« (462), doch zumindest ein Gefühl theologischer Überlegenheit vermittelt werden.
So bietet die Studie einen detailreichen Einblick in die argumentativen Konzepte der christlichen Schriftsteller und wirft ein Schlaglicht auf die Strategien in der spätmittelalterlichen litera­rischen Auseinandersetzung mit jüdischen Glaubensgegnern außerhalb der theologischen Gelehrtenwelt. Sie füllt damit einen weißen Fleck auf der Landkarte der bisher vorhandenen Forschungserträge zur Entstehung und Rezeption christlicher Adversus-Judaeos-Literatur und erweist sich als wichtige Bereicherung des bisherigen Kenntnisstandes vom literarischen und historischen Umfeld dieser Texte, wie er seit dem grundlegenden Werk Heinz Schreckenbergs existiert. Erwähnenswert nicht zuletzt seines praktischen Nutzens wegen ist dabei der dem Editionsteil an­gefügte kommentierte Katalog der im Süden des deutschen Sprachgebietes vorhandenen lateinischen Adversus-Judaeos-Schriften bis zum 14. Jh., mit Hilfe dessen sich ein Bild des spezifischen »litera­rischen Horizontes« (559) der Zeit gewinnen lässt.