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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

636–638

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schenker, Adrian

Titel/Untertitel:

Älteste Textgeschichte der Königsbücher. Die hebräische Vorlage der ursprünglichen Septuaginta als äl­tes­te Textform der Königsbücher.

Verlag:

Fribourg: Academic Press; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. XVI, 197 S. gr.8° = Orbis Biblicus et Orientalis, 199. Lw. EUR 48,90. ISBN 3-7278-1470-5 (Academic Press); 3-525-53056-0 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Siegfried Kreuzer

Adrian Schenker, der vor kurzem emeritierte Alttestamentler aus Fribourg, ist nicht nur der Vorsitzende des Herausgeberkomitees der neuen Biblia Hebraica Quinta, sondern dort auch der Bearbeiter der Königsbücher. Insofern liegt hier eine begleitende Studie zu diesem Projekt vor. Zugleich handelt es sich um eine Fortsetzung der Arbeit »Septante et texte massorétique dans l'histoire la plus ancienne du texte de 1 Rois 2–14« (Cahiers de la Revue biblique 48, Paris 2000), weshalb die hier untersuchten Beispiele aus dem Be­reich 1Kön 15 bis 2Kön 25 gewählt sind.
These und Ergebnis des Buches werden im Untertitel klar ausgedrückt: Es geht darum, dass der massoretische Text der Königsbücher nicht deren ursprüngliche Form ist, sondern eine bewusste Überarbeitung, sozusagen eine bearbeitete Neuausgabe, darstellt, während die ältere hebräische Textform die Grundlage der Septuagintaübersetzung bildete. Da sich die Übersetzung der Königsbücher anerkanntermaßen sehr eng an die hebräische Vorlage hält, lässt sich zugleich weithin auf die durch die Septuaginta bezeugte hebräische Vorlage zurückschließen.
Sch. erörtert insgesamt 32 Texte bzw. Varianten. Dabei wählt er aus den vielen Varianten der Samuelbücher nur solche aus, die sich nicht als Textverderbnis oder innergriechische Veränderungen erklären lassen (4). Dies sind Texte, angefangen etwa von »Elia auf dem Karmel« (zu 1Kön 18,29–33), »Manasses Ascheren in 2Kön 21,3.7«, »Königliche oder priesterliche Finanzgebarung im Tempel?« (2Kön 22,3–10) »Chronologie der Könige Achab, Josafat und Achasia von Israel« bis hin etwa zu unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen der »Könige Joachas und Joasch von Israel« in 2Kön 13–14. Die einzelnen Texte sind thematisch in Gruppen zusam­mengefasst. Schließlich greift Sch. in einem eigenen Kapitel auch auf »die Vetus latina als Zeuge der ältesten Textgeschichte der Septuaginta« zurück, wobei es darum geht, dass die Vetus latina an einzelnen Stellen Lesarten der Septuaginta bewahrt hat, die in der Septuaginta-Überlieferung später in Richtung auf den massoretischen Text hin korrigiert wurden (die dabei herangezogenen Texte aus der Vetus latina, Kodex 115, sind in drei Anhängen, 195–197, lateinisch und deutsch wiedergegeben).
Die Ergebnisse werden auf S. 171–194 zusammengefasst und interpretiert. Das wesentliche Ergebnis ist: »Die ursprüngliche Septuaginta spiegelt in griechischer Sprache die älteste erreichbare Textform der Königsbücher wider« (173). Das hat zur Konsequenz, dass es zwei – bewusst geschaffene – Textgestalten der Königsbücher gab, nämlich jene, die als Grundlage der Septuaginta diente, und eine jüngere massoretische Textfassung. Diese jüngere Bearbeitung, die sich im massoretischen Text widerspiegelt, hat konkrete theologische Tendenzen dahingehend, dass Juda und insbesondere Jerusalem gegenüber dem Nordreich Israel positiv hervorgehoben werden; z. B. in der Weise, dass es in Juda und Jerusalem vor König Manasse keine heidnischen Kulte gegeben habe, während im Nordreich Israel von Anfang an ein synkretistischer Kult vorhanden war. Aus Juda wird dann Jerusalem nochmals besonders hervorgehoben, etwa dadurch, dass es nach massoretischer Darstellung zwar Kulthöhen für JHWH in Juda gab, aber nie in Jerusalem, und dass sich die legitime levitische Priesterschaft in Jerusalem keinen Götzendienst zu Schulden kommen ließ.
Diese Veränderungen – und das ist nun das Wesentliche an der Argumentation – sind nicht zufällig und auch nicht nur punktuell zu Stande gekommen, sondern sie spiegeln ein bewusstes Konzept. Der massoretische Text der Königsbücher entspricht somit einer bewussten neuen Ausgabe (179–184), und zwar handelt es sich um eine und nicht um mehrere Neuausgaben, und diese eine Neuausgabe muss von einer autoritativen Größe veranlasst worden sein, denn– und das ist nun wichtig – auch die erste Ausgabe des Textes der Samuelbücher hatte zur Zeit dieser Neubearbeitung bereits kanonischen Rang.
Damit stellt sich natürlich die Frage, wer eine solche Neuausgabe veranlassen und dann auch verbreiten konnte. Es ist nicht überraschend, dass diese Autorität letzten Endes im Jerusalemer Tempel zu suchen ist: Sowohl die ausgewiesenen Tendenzen passen dazu (neben der referierten Hervorhebung Judas und insbesondere Jerusalems etwa die Beobachtung, dass die Neubearbeitung dem Hohenpriester die ausschließliche Finanzhoheit zuschreibt) als auch die Tatsache, dass wohl nur am Jerusalemer Tempel nicht nur die Kompetenz für eine solche Bearbeitung vorhanden war, sondern auch die Autorität, diese Bearbeitung zu veranlassen und die neue Textgestalt dann auch zu verbreiten. Das bedeutet für die Geschichte des protomassoretischen Textes bzw. zumindest für die Samuelbücher: »Zuerst gab es demgemäß keinen prae- oder protomassoretischen Text, sondern nur den einen Text, den die älteste Septuaginta als Vorlage impliziert. Dann schufen ermächtigte Herausgeber diesen Text um. Das war die Geburtsstunde des prae- und protomassoretischen Textes. Seitdem existierte er, vorher nicht. Erst von da an liefen zwei Textgestalten nebeneinander her. Zwei Textgestalten der Königsbücher sind in der Tat kein ursprüng­liches Datum ihrer Textgeschichte, sondern eine später (wohl im 2.Jh. v. Chr.) geschaffene Tatsache, als der praemassoretische oder protomassoretische Text durch die Initiative einer autorisierten literarischen Bearbeitung erzeugt wurde.« (175)
Wann wurde diese Neuausgabe geschaffen? Insbesondere aus der massiven Polemik gegen die Samaritaner und das Heiligtum auf dem Garizim schließt Sch. auf ein Datum nach der Religionskrise unter Antiochus IV. im Jahr 167. Andererseits ist der Bruch noch nicht ganz geschehen, denn nach 2Kön 13,8 LXX = 13,23 MT hat Gott auch mit dem Königreich Israel Erbarmen »bis heute«. Das wäre wohl vor dem endgültigen Bruch zwischen den beiden Religionsgemeinschaften, der wesentlich mit der Zerstörung des Tem pels durch Johannes Hyrkan 129 oder 128 v. Chr. und der Stadt Sichem 109 v. Chr. erfolgt war. Auch der Anspruch der ausschließlichen Finanzhoheit des Hohenpriesters dürfte in diese Zeit passen, als es gelang, die oberste Regierungsgewalt in die Hand der hasmonäischen Priester zu legen, die sich aber erst später, nämlich ab Aris­tobol I (104–103 v. Chr.) als Könige bezeichneten. Daraus ergibt sich: »Am besten würde sich daher unter dieser Hinsicht ein Datum in der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts empfehlen. Einer solchen Datierung scheinen sich, so weit ich es sehe, keine Daten der protomassoretischen Bearbeitung und Neuausgabe zu widersetzen.« (187)
Das Ergebnis der Analysen Sch.s mag für manche überraschend sein, zumal es der heute weithin als selbstverständlich vorausgesetzten Priorität des massoretischen Textes in textkritischen Zweifelsfällen widerspricht. Man wird aber diesem Ergebnis die Zu­stimmung im Großen und Ganzen kaum verweigern können. Die Untersuchungen und Überlegungen sind klar und präzise durchgeführt, und die Differenzen zwischen LXX und MT scheinen in der Tat nicht zufällig zu sein, sondern miteinander zusammenzuhängen und ein theologisches Konzept zu ergeben.
Zudem gibt es in letzter Zeit in der Tat eine Reihe von Beobachtungen, die zu ähnlichen Ergebnissen führen. Sie konvergieren etwa mit Beobachtungen des Rezensenten (»Von der Vielfalt zur Einheitlichkeit. Wie kam es zur Vorherrschaft des massoretischen Textes?« FS J. Oesch, OBO 196, 2003, 117–129), die ebenfalls auf eine Neugestaltung des massoretischen Textes und eine autoritative Verbreitung dieses Textes ab etwa 150 v. Chr. hinführen. Hinweise darauf wären die Bearbeitung der Chronologie, die im massoretischen Text auf die Wiedereinweihung des Tempels 164 v. Chr. zielt, andererseits, dass um etwa 125 v. Chr. der Aristeasbrief offensichtlich die alte Septuaginta gegen Kritik verteidigt, und schließlich eine Reihe von einzelnen textlichen Varianten, die mit Ereignissen der Hasmonäerzeit in Verbindung zu stehen scheinen.
Sch. geht demgegenüber insofern noch einen Schritt weiter, als er einen ausdrücklichen autoritativen Auftrag zur Schaffung dieser neuen Textgestalt annimmt und nicht nur den Tempel und die Tempelbibliothek als Basis dieser Geschehnisse betrachtet. – Man mag einwenden, dass dieses Bild vielleicht zu sehr nach dem Modell päpstlicher Bibelkommission und Beauftragung durch die höhere Autorität gestaltet ist. Das ist an sich noch kein entscheidendes Gegenargument, vielmehr kann man ein solches Modell auch als heuristische Hilfe betrachten, die dann natürlich an den historischen Gegebenheiten zu verifizieren ist. Dass die hasmonäischen Priesterfürsten und die Tempelpriesterschaft in der Mitte und der 2. Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. eine enorme Bedeutung hatten, nicht nur für die Politik, sondern auch für die Religion, wird man nicht bestreiten können.
Über Einzelheiten wird man dagegen gewiss diskutieren können und müssen. So würde der Rezensent bei einzelnen Texten eine gewisse Zufälligkeit von Veränderungen etwa durch Textverderbnisse oder Schreiberversehen doch stärker mit berücksichtigen. Allerdings muss man zugestehen, dass Sch. solche Textverderbnisse keineswegs ausschließt, sondern dass er ja bewusst nicht jene Stellen zur Diskussion vorführt, die solche Textverderbnisse ent­halten, sondern nur jene, die sich am besten als eine bewusste Veränderung verstehen lassen. Hier wird man die Grenzen naturgemäß unterschiedlich ziehen können.

Wenn man – wie es die Meinung des Rezensenten ist – Sch. im Prinzip und weithin auch im Detail folgen muss, dann stellt sich die interessante Frage nach dem Ziel der Textkritik. Sch. geht abschließend selbst auf diese Frage ein: Wenn wir zwei unterschiedliche Ausgaben der Königsbücher haben, so muss es Ziel der Textkritik sein, jede der beiden Ausgaben je für sich als Ziel der Rekonstruktion zu betrachten, d. h. man muss unterscheiden, ob man die äl­teste Textgestalt der Königsbücher erreichen und rekonstruieren will oder die zweite Ausgabe, nämlich den massoretischen Text. Auch diese Unterscheidung ist nicht ganz neu. Das Problem stellte sich auch bisher schon z. B. bei Texten wie dem des Buches Daniel mit seinen deutlich verschiedenen Textformen. Auf der anderen Seite stellt sich damit doch nicht nur ein textgeschichtliches, sondern auch ein theologisches Problem, etwa im Blick auf die Frage nach kanonischer Exegese bzw. der kanonischen Bedeutung der biblischen Texte in ihrer unterschiedlichen Form.
Nicht zuletzt kann man gespannt sein, in welcher Weise Sch. bei seiner Bearbeitung der Königsbücher in der neuen Biblia Hebraica Quinta (vgl. ThLZ 130 [2005], 722–725) diesem Problem der zwei Ausgaben der Königsbücher Rechnung tragen wird.