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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

632–634

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gerhards, Meik

Titel/Untertitel:

Studien zum Jonabuch.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. IX, 229 S. 8°. Kart. EUR 22,90. ISBN 978-3-7887-2181-7.

Rezensent:

Ulrich Mell

Etwas mehr als 40 Jahre nach der Veröffentlichung von Hans Walter Wolffs »Studien zum Jonabuch« (im Jahre 2003 in der 3. Aufl. herausgegeben von J. Jeremias mit einem Anhang »Jona-Literatur ab 1965 (Auswahl)«, 93–140) erscheint in der sich rege zum Jonabuch äußernden deutschsprachigen Forschung erneut eine Monographie mit gleichnamigem Titel. Darf Wolffs Buch zu den Klassikern der Jonabuchforschung zählen, so möchte der von G. nicht ohne Absicht gewählte Titel, dass seine Ausführungen an denen von Wolff gemessen werden (anders VII). Kann G.s Buch erneut eine Zäsur in der alttestamentlichen Jonabuchexegese bewirken?
G.s Studienwerk besteht aus vier ungleichen Teilen: Nachdem er sich im Abschnitt »Vorfragen der Auslegung« mit den sog. Einleitungsfragen zum Jonabuch (Gliederung, Einheitlichkeit des Buches, Datierung und Gattungsfrage) beschäftigt (11–72), folgt der Hauptteil seiner Ausführungen, von ihm »Zur Erhebung der Grundfrage« (73–135) genannt. In diesem Abschnitt geht es um die Klärung des theologischen Anliegens des Jonabuches. Danach geht G. »Zu einigen Hauptproblemen der Auslegung« über (136–208), um mit einigen wenigen »Überlegungen zur Applikation« (209–215) zu schließen.
In der literarkritischen Erörterung begründet G. die Einheitlichkeit des Jonabuches (einschließlich des sog. Jonapsalms Jon 2,3–10) und lässt es nicht zu, dass die verschiedenen Gottesbezeichnungen zu literarischen Operationen benutzt werden. G. hält 1,8ab für eine Glosse und meint, dass der zweite Infinitiv 4,6b, der das Wachsen des Rizinus mit der Beseitigung von Jonas Ärger begründet, eine »Nachinterpretation« (54) sei. Letztere Argumentation sticht nur, wenn mit G. 4,5–9 als erzählerische Nachholung verstanden wird: Sie trage nach, was parallel zur Buße Ninives (3,5–9) sich mit Jona ereigne. Das imperfectum consecutivum in 4,5a sei eben als Plus­quamperfekt zu übersetzen. Gibt es in der Tat im Jonabuch den erzählerischen Rückgriff (vgl. 3,6–9 zu 3,5), so sind die Angaben von 4,1–4 doch nicht ohne Ort: Der sich in seinem theologischen Wissen über seinen reuigen Gott (fast) zu Tode ärgernde Jona befindet sich nach 3,4 in Ninive. An einem neuen Ort, nämlich östlich der Stadt, aber nicht ohne Bezug zum großen Rettungsgeschehen, soll Jona eine ihn zum (Weiter-)Leben motivierende Gotteserfahrung machen.
Auf Grund der Wiederholung von 1,1–3 in 3,1–3a gliedert G. das Jonabuch in sechs symmetrisch zueinander stehende Szenen. Da die Jonaerzählung mit einem offenen Schluss endet, gehöre sie »mit der Betonung des lehrhaften Anliegens der ›didaktischen Novelle‹« (71) an.
G.s Bestimmung der theologischen Absicht des mit alttestamentlicher »Schrift« argumentierenden Jonabuches orientiert sich an der Beantwortung der Frage, warum Jona sich seinem Verkündigungsauftrag verweigert. Auf Grund von 2Kön 14,25 ff. ist Jona der Prophet »des ›Gott-mit-uns‹ im Sinne unverdienter Gnade« (88), der zugleich Israel repräsentiert (vgl. 1,9). Und Ninive steht wie Tob 1,3.10 als Hauptstadt des Assyrerreiches »stellvertretend für alle Weltmächte, unter denen Israeliten leben« (96) und leiden. Da JHWH ein gnädiger Gott ist, der im Falle von Umkehr sein angekündigtes Gericht nicht vollzieht (4,2), will Jona »nicht nach Ninive gehen und dazu beitragen, dass der Stadt die Gelegenheit zu Buße und Umkehr gegeben wird, weil er weiß oder zumindest befürchtet, dass die Bewahrung Ninives Israels Untergang bedeutete« (107). Die Grundfrage, auf die das Jonabuch die Antwort ist, lautet darum (131): »Wie kann Jahwe es nicht nur zulassen, sondern sogar fördern, dass die in Ninive verkörperten, Israel beherrschenden und bedrohenden Großmächte weiter existieren statt dem Gericht zu verfallen? Warum beendet er nicht die Vorherrschaft fremder Mächte über Israel?«
G.s Jonainterpretation ist im Prinzip eine Wiederholung derjenigen von H. Gese, Jona ben Amittai und das Jonabuch, in: Ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 122–138 (vgl. 134). An die­ser Position ist gut, dass aus christlicher Feder nicht eine an­tijudais­tische Exegese wiederholt wird, die dem Jonabuch unterstellt, dass es sich gegen die Teilhabe von Nichtjuden an JHWHs Gnadenhandeln ausspreche. Trifft sie aber auch die Intention des Jonabuches?
Ist Common Sense der Jonabuchforschung, seine Entstehung in das 4. oder – besser noch – in das 3. Jh. v. Chr. anzusetzen (vgl. 55–65), dann kann G. nicht begründen, wieso erst in (prä-)hellenistischer Zeit die von ihm im Zuge einer »rekonstruktiven Hermeneutik« (4) namhaft gemachte Grundfrage entsteht. Zu offensichtlich ist sie kein spezifisches Merkmal hellenistischer, sondern allgemein nachexilischer Zeit, weil seit dem Ausgang des 6. Jh.s v. Chr. kein selbständiges jüdisches Staatswesen existiert und Fremdmächte in Palästina herrschen.
Mit G.s Hinweisen lässt sich das Jonabuch also allenfalls als nachexilisch bestimmen. Soll es jedoch mit dem für Israel so attraktiven (vgl. die LXX) wie auch anstößigen Hellenismus (vgl. den Bürgerkrieg 167–164 v. Chr.) in Berührung gebracht werden, so ist anders als bei G. eine Vorstellung von hellenistischer Religionskultur und ihrer ambivalenten Wirkung auf das Frühjudentum notwendig. Ein Ansatz dazu wäre wahrzunehmen, dass nach 3,8 Ninives Umkehr eben nicht als Glaubensentscheidung für JHWH (so aber die nichtjüdischen Seeleute nach 1,16), sondern im Vertrauen auf den allmächtigen Gott als ethische Neuausrichtung geschieht. Wenn aber der Schöpfergott jede menschliche Absage an Gewalt unabhängig von einer religiösen Umorientierung mit Lebensteilhabe beglückt (vgl. 3,9 f.; 4,2c in Aufnahme von Jer 18,7 f.), so ist jüdischer Glaube gefragt, welchen Beitrag die JHWH-Offenbarung zur Erkenntnis des allgemeinen Guten in der Konkurrenz der Religionen noch bietet bzw. bieten könnte.
Über das theologische Grundthema des Jonabuches hinaus erörtert G. eine Reihe von wichtigen Fragen der Jonaexegese. In löblicher Weise geht er den vielen Hinweisen der Literatur nach, setzt sich mit Positionen zumeist (anders 123 f.) transparent auseinander und beschäftigt sich eindringlich mit den wirkungsgeschichtlichen Aspekten des Jonabuches. Sind Zeichensetzungsfehler am Buch verschmerzbar, so nicht, dass ein Register fehlt.
Warum hat G. seine Beobachtungen veröffentlicht, stehen seine Ausführungen doch weder im Zusammenhang mit einer Promotion noch einem Forschungsvorhaben? Als Äußerungen, die sich allein dem Interesse am Jonabuch verdanken, wird man ihnen schwerlich gerecht. G.s Applikation des Jonabuches »als Einspruch gegen einen zu eng gefassten christlichen Exklusivismus« (210) endet zudem in einem Debakel: vergleicht er doch die durch Ni­nives Weltherrschaftsambitionen entstehende Bedrohung Israels mit dem Verlust von Privilegien, der der Christenheit durch den derzeitigen »pluralistischen Markt der Weltanschauungen« (211) entsteht. So bleibt dem Vorwort zu folgen (VIII), wonach sich G.s »Studien« der Diskussion mit seinem Mentor J. Jeremias verdanken, der in der Reihe »Das Alte Testament Deutsch« die Jonabuchkommentierung in der Nachfolge von A. Weiser übernommen hat.
Diese wie jede andere Kommentierung, aber auch sonstige exegetische Beschäftigung mit dem Jonabuch wird die detailreichen Ausführungen von G. mit Gewinn benutzen. Jedoch ist auch unabweisbar: Die Bestimmung des Jonabuches als eine theologische Lehrerzählung des 3. Jh.s v. Chr. darf nicht mehr länger Lippenbekenntnis alttestamentlicher Exegese sein. Stattdessen gehören die Analyse der schriftgelehrten Rezeption alttestamentlicher Theologie, die Positionierung in Israels zwiespältigem Umgang mit dem Hellenismus und schließlich die von G. übergangenen Einsichten der Erzähltextanalyse zu den Standards einer Auslegung des Jona­ buches. Denn nur allzu offensichtlich ist: Der sich aus theologischer Existenznot den Tod herbeisehnende Jona repräsentiert nicht die Verfassermeinung: Will sie doch mit der Schlussfrage des Buches bewirken, dass frühjüdische Theologie ihre Stärken erkennt und aus Zustimmung und Freude über JHWHs Schöpfermitleid »am Leben bleibt«.