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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

435–437

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wulf, Christoph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie.

Verlag:

Weinheim-Basel: Beltz 1997. 1160 S. gr.8. Geb. DM 98,-. ISBN 3-407-83136-6.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Schon häufiger wurde beklagt, daß in der Gegenwart die philosophische Arbeit an der Anthropologie stagniert. Die großen Entwürfe, etwa die von Scheler, Plessner und Gehlen, stammen aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und bestimmen die Diskussion bis heute. Eigentliche programmatische Innovationen scheinen zu fehlen. Der Herausgeber des Handbuches Historische Anthropologie "Vom Menschen", Christoph Wulf, macht aus der Not eine Tugend: Sachgemäß könne man nämlich gar nicht von dem Menschen sprechen, anderenfalls würde auf der Basis "einer unzulässigen Reduktion ... stillschweigend der singuläre, europäische, männliche Mensch zur Norm gemacht" (13). Gemeinsam mit dem Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin wird daher in diesem Sammelband der breit angelegte Versuch unternommen, "menschliche Lebens-, Ausdrucks- und Darstellungsformen zu beschreiben, Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in Einstellungen und Deutungen, Imaginationen und Handlungen zu analysieren und so ihre Vielfalt und Komplexität zu erforschen" (13). Angestrebt wird eine Synthese der philosophischen Anthropologie Deutschlands mit "der in der angelsächsischen Tradition stehenden Kulturanthropologie und der von der französischen Geschichtswissenschaft initiierten Mentalitätsgeschichte" (13). Man "untersucht Fremdes und Vertrautes in bekannten und in fremden Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart" (13).

Die siebenundneunzig Beiträge des Bandes stammen von sechzig Autorinnen und Autoren, die zumeist an Universitäten im deutschsprachigen Raum diejenigen Disziplinen vertreten, die in irgendeiner Weise mit dem Menschen befaßt sind. Die Beiträge verteilen sich auf sieben Kapitel: Die sechs unter "Kosmologie" versammelten Aufsätze widmen sich zunächst den natürlichen Lebensvoraussetzungen des Menschen: "Elemente - Feuer Wasser Erde Luft", "Leben", "Pflanze", "Tier", "Mensch", "Natur". Im Kapitel "Welt und Dinge" werden grundlegende Verhältnisse des Menschen zu seiner Umwelt abgehandelt: "Planet - Erde", "Mitwelt - Erde", "Gesellschaft", "Institution", "Raum", "Zeit", "Mobilität", "Straße", "Stadt", "Haus", "Kleidung", "Nahrung". Die dreizehn Beiträge im Kapitel "Genealogie und Geschlecht" thematisieren Interpersonalität unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweigeschlechtlichkeit. Das vierte Kapitel kehrt noch einmal zurück zu den natürlichen Lebensbedingungen des Menschen und erörtert in fünfzehn Artikeln den "Körper" mit seinen Sinnen, Organen und Ausdrucksformen. Im Kapitel "Medien und Bildung" wird Interpersonalität unter dem Gesichtspunkt seiner medialen Vermittlung thematisch. Hier sind die meisten, nämlich einundzwanzig Beiträge versammelt, darunter so wichtige zum Thema "Sprache", "Geld", "Identität", "Arbeit", "Maschine" oder "Erziehung und Bildung". Die Unplanbarkeit und Riskiertheit des menschlichen Lebens steht im Zentrum der vierzehn Beiträge, die unter dem Stichwort "Zufall und Geschick" zusammengestellt sind, etwa: "Glück", "Schönheit", "Liebe", "Krankheit und Gesundheit", "Krieg und Frieden", "Tod". Der Interpersonalität höherer Ordnung sind die sechzehn Beiträge im abschließenden Kapitel "Kultur" gewidmet. Voran steht der leider im Programmatischen verbleibende Aufsatz zum Thema "Religion", verfaßt von Carsten Colpe. Anschließend werden kulturelle Phänomene wie "Musik", "Theater", "Spiel", "Mythos", "Utopie", "Wissen" erörtert.

In der Gesamtdisposition des Handbuches sollen "Grundverhältnisse menschlichen Lebens in ihren jeweiligen historischen und kulturellen Ausprägungen zum Ausdruck" (14) kommen. Freilich wird dieser systematische Anspruch dieser Gliederung im Vorwort relativiert. Ebenso wird auf Vollständigkeit der anthropologischen Begriffe und Methoden ausdrücklich verzichtet. Beide Restriktionen haben Methode. Systematizität und Vollständigkeit seien nicht nur mit der in diesem Band vertretenen Auffassung von interdisziplinärer Anthropologie unvereinbar, sondern stünden grundsätzlich im Widerspruch zum "fraktalen Charakter historisch-anthropologischen Wissens" (14).

Der programmatisch fragmentarisierte Zugriff auf den Menschen und seine Umwelt wirkt sich auf die Qualität der Beiträge aus. Aus gelehrten, gegenwärtige Diskurse aufgreifenden und instruktiven Essays erfährt man Neues und sachlich Erstaunliches. Man liest aber auch Ideologielastiges und Artikel, die gelegentlich ratlos stimmen. Streckenweise überwiegen, nach Einschätzung des Rez., modernitätskritische Züge. Ein präzises Urteil kann jedoch nur in bezug auf jeden einzelnen Beitrag gefällt werden, was hier jedoch nicht möglich ist. Insofern kann sich die kritische Würdigung auf die Gesamtkonzeption dieses Handbuches beschränken.

Der programmatische Verzicht auf Systematizität und Vollständigkeit scheint gegen Kritik zu immunisieren. Gleichwohl vermißt der Rez. Beiträge zu kulturgeschichtlich so wichtigen Aspekten wie "Recht", "Macht", "Geschichte", "Wirtschaft" oder "Wissenschaft". Diese Bereiche werden zwar gestreift, aber nirgends direkt verhandelt. Auch klassische Themen der Anthropologie, wie "Freiheit", "Schuld", "Vernunft" oder "Geist" fehlen. Das mag mit dem Sachverhalt zusammenhängen, daß an keiner Stelle, und sei es nur in methodischer Absicht, nach dem Subjekt der menschlichen Selbsterkenntnis gefragt wird, deren Perspektivenvielfalt und thematische Breite zu solch facettenreichen und lehrreichen Ergebnissen kommt, wie sie in diesem Handbuch dokumentiert sind. Sich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Selbstbesinnung konsequent gestellt zu haben, darin besteht u. a. das Verdienst jener anthropologischen Konzepte aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, die der Herausgeber eingangs mit dem Hinweis auf deren Reduktivität kritisiert. Eine komplementäre Reduktion tritt nun auch innerhalb dieses Handbuches auf, insofern der hier zur Geltung gebrachte Perspektivenpluralismus als eine Gegebenheit in einem positivistischen Sinne nur hingenommen werden kann, aber selbst nicht noch einmal anthropologisch begründet wird. Eine solche Begründung ist jedoch erforderlich, sofern dieser Pluralismus nicht nur als zufällig, sondern, was sicherlich im Sinne des hier vertretenen Konzeptes ist, als eine anthropologische Notwendigkeit aufgefaßt werden soll. Ein nicht begründeter Pluralismus ist, auch was die Vielfalt der Perspektiven menschlicher Selbsterkenntnis betrifft, aber ein reduzierter und daher gefährdeter Pluralismus.