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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

604–606

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Spehr, Christopher

Titel/Untertitel:

Aufklärung und Ökumene. Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XIX, 484 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 132. Lw. EUR 99,00. ISBN 3-16-148576-9.

Rezensent:

Christopher Voigt-Goy

»Geschichte hat Gegenwartsbedeutung selbst dort, wo sie vom Scheitern menschlichen Mühens und unerfüllter Sehnsucht zeugt«. Mit diesem Zitat Martin Heckels eröffnet der Vf. seine Studie, die im Wintersemester 03/04 als Dissertation in Münster an­genommen wurde. Die Arbeit legt ein breites Spektrum der pro­tes­tantischen und katholischen Positionen dar, die sich zur Vorstellung der ›Wiedervereinigung‹ der katholischen und der evan­gelischen Kirchen zwischen 1763 und 1789 im Alten Reich finden. Darüber hinaus bezieht der Vf. mit der Rekonstruktion einer zu diesem Zweck gegründeten Gesellschaft und mit dem Blick in die damaligen Zeitschriften die zeittypisch neuen Formen der Meinungsbildung ein. So ergibt sich eine umfangreiche Kartographie der damaligen Diskussionslandschaft, die den Horizont der Aufklärungs- und Ökumenegeschichte maßgeblich erweitert.
Das erste Kapitel, »Reunionistische Einzelversuche« (31–143), stellt chronologisch fünf Schriften unterschiedlicher Autoren zur Vereinigungsthematik vor, wobei der Vf. auch ihre jeweiligen Entstehungsbedingungen, Kontexte und zeitgenössische Reaktionen schildert. Den Anfang macht die Anschauung des Trierer Weihbischofs Johann Nikolaus von Hontheim aus dem Jahr 1763, die als ›Febronianismus‹ bekannt wurde: Eine am (fiktiv idealisierten) Vorbild der Alten Kirche orientierte Reform der katholischen Kirche sollte den Protestanten die Rückkehr zu ihr erleichtern.
Besonders die jesuitische Publizistik bezog gegen Hontheim massiv Stellung, seine Schrift wurde päpstlich indiziert. Der noch der lutherischen Spätorthodoxie verhaftete Jenaer Theologieprofessor Johann Christoph Köcher und der aufgeklärte Braunschweiger Theologe und Kirchenmann Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem formulierten hingegen gerade aus der Toleranzper­spektive ablehnende Positionen zur Wiedervereinigungsthematik. Jerusalem überließ es auf Grund momentan unüberbrückbarer Diffe­ren­zen zwischen den Konfessionen, die er vor allem in der monarchischen Verfassung und den überflüssigen Dogmen der ka­tholischen Kirche erblickte, der göttlichen Vorsehung, den Weg zu einer Vereinigung der Konfessionen zu öffnen. Johann Heinrich von Gerstenberg, der sein privatgelehrtes Dasein in den Dienst der Programme seines Förderers und Freundes Carl Friedrich Bahrdt stellte, schlug ein wechselseitiges Nachgeben der Konfessionen vor. Institutionelle Fragen zurückstellend sollte der Anfang der Reunion in der Annäherung in Grundlehren bestehen, wofür Gerstenberg sich die ›Aufklärung‹ der Rechtfertigungslehre vornahm. Der konsensökumenische »erste Schritt«, den dann der Benediktiner Beda Mayr in seiner gleichnamigen Schrift empfahl, landete wie Hontheims Vorschlag auf dem päpstlichen Index und brachte Mayr von katholischer Seite den Ruf ein, ein »Dummkopf« zu sein (136).
Im zweiten Kapitel, »Reunionistisches Sozietätsprojekt« (145–248), nimmt sich der Vf. die Gründung einer Wiedervereinigungsgesellschaft vor, die der Fuldaer Benediktiner Peter Böhm und der reformierte Johann Rudolf Anton Piderit, Professor der ›morgenländischen Sprachen‹ in Kassel und notorisch rabiater Aufklärungsgegner, beabsichtigten. In ihr sollte ein konsensökumenisches Modell einer »Kirche von Brüdern« so der Vf., verwirklicht werden, das »langfristig auf eine institutionelle Fusion der protes­tantischen und katholischen Kirchentümer« zielte (232). Schon der Plan zur Gründung dieser Gesellschaft wurde von der katholischen Kirche misstrauisch beäugt und durch kuriale Geheimdiplomatie überwacht. Doch bereits die Mitgliederwerbung zu dieser Gesellschaft kam kaum über die Gewinnung ›potentieller‹ Mitglieder und Interessenbekundungen hinaus. 1783 scheiterte das Projekt endgültig: Nach der Verabschiedung der Statuten sollten die ka­tholische und protestantische Seite auf der Grundlage ihrer ›Glaubensformeln‹ erste Konsensgespräche führen. Die katholische Seite legte die, wie Böhm schrieb, »Formulam tridentinam deutsch und lateinisch« vor, die protestantische konnte sich auf kein Bekenntnis einigen, worauf Böhm – mittlerweile von der katholischen Kirche unter Druck gesetzt – die Mitarbeit aufkündigte (243 f.). Der Vf. führt dieses Scheitern auf die »mangelnde theologische Eindeutigkeit« der Gesellschaftsstatuten zurück. Er weist aber auch darauf hin, dass Böhm von Anfang an eine Integration der Protestanten in die katholische Kirche im Sinn gehabt hatte, während Piderit »die Sorge um den Bestand der protestantischen Konfessionen durch die Einflüsse der radikalen Aufklärung zu den Vereinigungsbestrebungen führte« (248).
»Reunionistische Zeitschriften« heißt das dritte Kapitel (249–310), in dem der Vf. die Absicht einer öffentlichkeitswirksamen Verbreitung reunionistischen Gedankenguts durch das neue Me­dium der Zeitschriften darlegt. Dafür greift der Vf. auf die »Bey­träge zu den neuesten Religions-Vereinigungs-Schrifften« von Piderit und die in Wien verlegte Zeitschrift »Religion und Pries­ter«, beide 1782 ins Leben gerufen, zurück. Die erste stellte eine Begleitmaßnahme des o. g. Sozietätsprojekts dar und erschien von Januar bis August 1782 in sechs Ausgaben. Die zweite war inmitten der josephinischen Aufbruchsstimmung reformkatholischen Anliegen gewidmet und umfasste, bevor sie in Buchform erschien, die Jahrgänge 1782 bis 1784; sie beinhaltet fünf Aufsätze zur Wie­dervereinigungsthematik. Die Kurzlebigkeit der ›Periodika‹ ergibt sich nach dem Vf. im ersten Fall durch die Probleme mit dem Gesellschaftsprojekt, im zweiten Fall durch Marktkonkurrenz. Die ›Beyträge‹ Piderits blieben »für längere Zeit die einzige ökumenisch auf eine Vereinigung ausgerichtete Zeitschrift im deutschen Sprachraum« (310).
Dem Widerstand gegen jede Wiedervereinigung der Konfessionen widmet der Vf. methodisch an das erste Kapitel anschließend das vierte Kapitel, »Reunionistische Dissonanzen« (311–408). Der Augsburger Domprediger Alois Merz prangerte in seinen Kontroverspredigten publikumswirksam Wiedervereinigungsversuche als Symptome des gegenwärtigen Verfalls des Christentums an. Konnte er auch die Nachgiebigkeit protestantischer Gelehrter wie die Gerstenbergs loben, so diffamierte er die aufgeklärte Theorie konfessioneller Differenzen Jerusalems oder die katholische Eini­gungsbekundungen Mayrs. Die Vorstellung der Einheit der katholischen Kirche brachte er aggressiv gegen den ›Deismus‹ und die ›Freigeisterei‹ in Anschlag, welche aus dem ›Protestantismus‹ er­wachsen seien. Solche Kontrastfolien benötigte Johann Salomo Semler in seiner Ablehnung der konfessionellen Reunion nicht, die er – wie der Vf. hervorhebt – besonders in der Auseinandersetzung mit Piderits Sozietätsprojekt formulierte: Niemals sei das Christentum eine Einheit gewesen, weswegen schon die Verwendung des Terminus der ›Wiedervereinigung‹ irreführe; ebenso habe die äußere Vielfalt der Konfessionen noch nie einer geistig toleranten Verständigung der Privatchristen im Weg gestanden. Der Publizist Friedrich Nicolai endlich verlieh seinem Antikatholizismus in der ›Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz‹ von 1783–1796 Ausdruck, indem er vor allem verschwörungstheoretische Jesuitenängste voluminös und breitenwirksam ausführte. Da die katholische Kirche immer auf die Rückkehr der Protestanten setze, lehnte er jede Wiedervereinigung ab.
Die Materialdichte und die aufschlussreichen Beobachtungen, die der Vf. auf Schritt und Tritt präsentiert, können hier nicht annähernd wiedergegeben werden. Leider bleiben diesem rundherum positiven Eindruck gegenüber die Beschreibung der Dynamik der damaligen Diskussion sowie ihr weiterer historischer Rahmen eigentümlich blass. Die (kirchen)rechtliche Entwicklung wird fast komplett ausgeblendet, ansonsten findet man vage Hinweise auf eine ›Polarisierung‹ oder einen ›Modernisierungsschub‹. Ebenso irritieren wertende Andeutungen, die sich in der Studie öfter finden lassen, wenn der Vf. ohne weitere Erläuterung bemerkt, eine bestimmte Position sei, wie etwa im Fall Mayrs, ›zukunftsweisend‹ (125). Soll das heißen, dass eine Position wie die Semlers, die er nicht mit einer solchen Wertung versieht, obsolet ist? Schwierig findet der Rezensent die abschließende These, die Debatte lasse sich als »Ökumene von unten« verstehen, die von »Untertanen« und nicht bloß »politischen und kirchlichen Persönlichkeiten« vorangetrieben worden sei (412). Von einer breitenwirksamen Bewegung kann aber wohl – folgt man der Darstellung – kaum die Rede sein; die Vertreter einer ›Reunion‹ bildeten schon quantitativ eine verschwindende Minderheit, und ein stabiles Milieu fanden die Wie­dervereinigungsinteressen trotz aller Anstrengungen Einzelner auch nicht. Die ›unerfüllte Sehnsucht‹ nach einer Wiedervereinigung, die der Vf. mit Martin Heckel an den Anfang seiner Studie stellt, scheint den meisten Theologen und Publizisten der Aufklärungszeit fremd gewesen zu sein.
Doch solche kritischen Bemerkungen sollen und können das Gesamturteil nicht trüben: Die Studie stellt eine eindrucksvolle Vertiefung und Bereicherung der theologiehistorischen Aufklärungsforschung und der – Aufklärung dringend benötigenden – Problemgeschichte der ›ökumenischen Bewegung‹ dar.