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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

587–590

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Heinrich

Titel/Untertitel:

Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2004. 445 S. gr.8°. Kart. EUR 36,00. ISBN 3-87476-445-1.

Rezensent:

Thomas Erne

Mit seiner Arbeit »Praxis – Theologie – Religion« hat sich Heinrich Schäfer in Bochum im Fach Systematische Theologie habilitiert. Gleichwohl ist der Rezensent ein Praktischer Theologe, denn das Stichwort »Praxis« steht im Titel nicht zufällig an erster Stelle. Mit großer Eindringlichkeit versucht der Vf., der lange Jahre in Südamerika als Dozent für Systematische Theologie und Sozialwissenschaften lehrte, die These zu plausibilisieren, dass nicht nur Religion, sondern auch Theologie als Theorie der Religion eine spezi­fische, gesellschaftlich vermittelte Form von Praxis darstellt. Mit diesem Ansatz sieht sich der Vf. in guter Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Exegese, kulturhermeneutische, befreiungstheolo­gische oder systemtheoretische Ansätze konvergieren im Ziel, die Theologie als Erfahrungswissenschaft zu etablieren. Ihnen allen ist, laut dem Vf., aber ein Defizit gemeinsam. Sie greifen sozialwissenschaftlich zu kurz und unterschätzen die formierende Kraft der Gesellschaft: »Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind konstitutiv als strukturgebende Bedingung religiösen Lebens und theologischen Reflektierens« (30). Diesen Mangel sucht der Vf. im Anschluss an die Sozialtheorie von Pierre Bourdieu (vgl. die knappe Zusam­menfassung, 127–136) zu beheben. Der Vorzug des Bourdieuschen Denkens liegt darin, dass seine Praxistheorie (nicht seine Schriften zur Religion, vgl. 30) Theologie und Religion als gesellschaftlich relevante Form einer praktischen Logik zu begreifen lehrt. Praxeologie, so das systematische Hauptwort des Vf.s, zielt insofern auf ein Grundlagenproblem theologischer Theorie und religiöser Praxis: die schwindende Relevanz der wissenschaftlichen Theologie und der religiösen Praxis für die Gesellschaft (vgl. 11). Die Lösung liegt für den Vf. in einem Ansatz, der Theologie in Kontexten be­treibt als gesellschaftlich vermitteltes Produkt und die Gesellschaft verändernde Produktivität. Dieser praxeologische Blick auf die »›tätige Seite‹ der Theologie« (103) soll die Möglichkeit eröffnen, sie »explizit und kreativ als praktische Wissenschaft zu betreiben« (167).
Die Gegenposition markiert die klassisch europäische, kontextenthobene Theologie, deren Subjekt »die Voraussetzungen seines Denkens im Denken selbst« (46) zu finden glaubt. Sie ist charakterisiert durch universale Geltungsansprüche, denkt nicht funktional, sondern substanzontologisch, folgt erkenntnistheoretisch einem trans­zendenten Realismus, huldigt zeichentheoretisch einer naiven Abbildungstheorie (vgl. 65) und logisch einem strikten Widerspruchsverbot (vgl. 70). Lässt sich dieser Lasterkatalog eines objektivistischen Denkens zur Not mit Schleiermachers Programm verbinden, die gelebte Religion vom Gängelband dogmatischer Begriffe zu lösen und die religiöse Praxis als Ausgangspunkt theologischer Reflexion anzusetzen, so geht die konsequent sozialkonstruktive Fassung der religiösen Praxis je nach Sichtweise über Schleiermacher hinaus oder fällt hinter ihn zurück. Denn an die Stelle, wo Schleiermacher die Religion als Phänomen im Selbst aufweist, das sich seiner Selbsttätigkeit von einem anderen her bewusst wird, tritt beim Vf. die Re­ ligion als strukturell-individuelles Handlungsfeld, das Bourdieus offenem Konzept sozialer Räume verpflichtet ist. Handlungsfelder sind einerseits objektive gesellschaftliche Strukturen, in denen an­dererseits kreative Akteure agieren. Sie sind auf »Systeme dauerhafter Dispositionen« (134) angewiesen, einen so genannten Habitus, der Auskunft gibt über die Position des Akteurs, seine Fähigkeit in der Struktur des Feldes Handlungsoptionen individuell und schöpferisch zu kombinieren und solche kreativen Kombinationen (als soziales Kapital) zu akkumulieren.
Blickt man in dieser praxeologischen Perspektive auf die Theologie, dann ist der Zusammenhang von Produziertheit und Produktivität entscheidend. Der Gebrauch gesellschaftlich vermit­telter Strukturen schafft Sinn. Theologie ist demzufolge Arbeit, eine »sinnlich menschliche Tätigkeit« (193), die sich ihrer materiellen und sozialen Bedingungen bewusst ist und kontrolliert und reflektiert Gebrauch von ihrem Kapital macht, von Handlungs­optionen, die in religiösen Metaphern symbolisiert sind. Dieser Grundlegung der Theologie als einer praktischen Logik wohnt allerdings ein reduktionistischer Umgang mit Geltungsansprüchen inne. Die Universalität theologischer Aussagen oder die Positivität der Of­fenbarung werden als Momente einer Handlungsstrategie verstand en, mit der die Akteure ihre Interessen und Machtansprüche theo­logisch durchsetzen (vgl. 166). Ein Letztbegründungs- oder Absolutheitsanspruch, aber auch die unvermeidbare Unterstellung religiöser Akteure, es gäbe einen Gott, eine Art alltagsprak­tischer Metaphysik, sind deshalb »zunächst nicht als solche ernstzunehmen. Wohl aber als Ausdruck eines In­teresses der jeweiligen Akteure« (257). Trotz dieser reduktionis­tischen Tendenz hält der Vf. an theologischer Wahrheit fest, allerdings in einer pragmatisch-praktischen Fassung. Da es weder um objektive Erkenntnis noch um subjektive Konstruktion gehen soll, hat es praxeologische Wahrheit mit der Passgenauigkeit von Strategien im Handlungsfeld zu tun. Kriterium praktischer Erkenntnis ist »Viabilität«, das »Passen von Erkenntnissen auf praktische Prozesse« (70). Der pragmatische Zug zeigt sich auch in der theologisch zentralen Kategorie der Unterbrechung, mit der der Vf. das Moment der Unverfügbarkeit der Offenbarung auf das religiöse Handlungsfeld beziehen will. Wahrheit soll sich theologisch als kreative Wirkung in der Arbeit mit Metaphern erschließen, »als unterbrechendes Ereignis, welches durch die unerwartete Arbeit der Metapher zustande kommt« (187). Damit ein solches Ereignis konkreter Wahrheit »in den praktischen Lebenszusammenhängen und ausgehend von ih­nen« nicht ausschließlich als Leistung menschlicher Tätigkeit er­scheint, muss es sich unerwartet einstellen. Kriterium der Wahrheit ist wiederum praktische Passgenauigkeit, sofern das Ereignis der Wahrheit »die Fähigkeit sinnvoll zu leben erhöht« (188). Mit diesem Schulterschluss von Offenbarungstheologie und sozialkonstruktiver Handlungstheorie sieht sich der Vf. in einer Linie mit Eberhard Jüngel (vgl. 188; 38 etc.). Ob sich allerdings Jüngels Kategorie der »Offenbarung als Unterbrechung« von seinem trinitarischen Gottesbegriff ablösen und als Differenzmoment der Transzendenz in einem soziologisch beschriebenen Sinn- und Handlungszusammenhang verwenden lässt, wäre noch zu klären.
Vergleicht man die praxeologische Grundlegung mit dem handlungstheoretischen Schema Schleiermachers, dann wird die wesentliche Akzentverschiebung deutlich. Während Schleiermacher die Religion hauptsächlich im darstellenden Handeln verortet und in der Nicht-Effektivität der Religion ihre wesentliche Bedeutung für die Öffentlichkeit sieht, baut der Vf. die Religion und die Theologie über das effektive Handeln auf und will so ihre gesellschaftliche Relevanz zurückgewinnen. Das schärft den Blick für die gesellschaftliche Verwobenheit, aber auch für die Gestaltungskraft und für die Machtförmigkeit theologischer Diskurse und religiöser Praktiken. Da die Entfaltung einer protestantischen Kulturhermeneutik und Religionsästhetik das Interesse der Systematischen und Praktischen Theologie in den vergangenen Jahren in hohem Maße gebunden hat, ist die sozialkonstruktive Perspektive, die der Vf. herausarbeitet, eine wesentliche Ergänzung und ein kritisches Korrektiv. Al­lerdings neigt der Vf. seinerseits dazu, Religion und Theologie einseitig in ihrer sozialkonstruktiven Vermitteltheit aufgehen zu lassen. Das zeigt sich an der Art und Weise, wie er Paul Ricœurs Zeichenbegriff aufgreift (121 ff.). Hier interessiert sich der Vf. ausschließlich für das Verhältnis von Sinn und Kraft: »Die Hervorbringung religiösen und sonstigen Sinnes unter der Bedingung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Kraftwirkungen« (122). Einschlägig ist Ricœurs Zeichenbegriff aber auch für die Dialektik der Darstellung von anwesendem und abwesendem Sinn. Dass die Darstellung von Sinn in Horizonten erfolgt und jedes Zeichen nur »einen Teil des Sinns vergegenwärtigt, indem der übrige mögliche Sinn überdeckt wird« (P. Ricœur, Versuch über Freud, 1969, 394), ist zentral für eine protestantische Religionsästhetik und lässt sich mit der sozialwissenschaftlichen Kategorie des Kontextes nur be­dingt erfassen.
Die sozialkonstruktive Beschreibung von Theologie und Religion ist sicher bestens geeignet, beide als soziales Produkt und soziale Produktivität zu erfassen. Aber ist damit Theologie und Religion erschöpfend behandelt? Das ist die Frage, die schon Simone Weil an Durkheim stellte: »It [Durkheims Religionssoziologie] fails to ex­plain one infinitely small thing … This infinitely small thing is God; it is infinitely more than everything« (S. Weil, A War of Religion, Oxford 1962, 235). Ob die Marginalie »Gott« mit der Kategorie der Unterbrechung in die sozialwissenschaftliche Grundlegung eingeholt werden kann, ohne auf eine explizite Gotteslehre zu rekurrieren, scheint mir eine wichtige theologische Anfrage an den praxeologischen Ansatz zu sein.
Damit hängt zusammen, dass die radikale Kritik an einer objektivistischen Theologie und objektivistischen Logik und Erkenntnistheorie unter der praxeologischen Bedingung argumentativ kaum eingeholt werden kann. Ob Geltungsansprüche und Wahrheitsfragen einem »obsoleten Vokabular« angehören, kann vermutlich nur dann sinnvoll diskutiert werden, wenn das »obsolete Vokabular« in Anspruch genommen wird. Nicht die Kritik an ob­jektivistischen Theorien, sondern die Beschreibungsleistung und Handlungsorientierung, die der praxeologische Ansatz für Theologie und religiöse Praxis verspricht, wird seine Plausibilisierung tragen müssen, aber auch können.
Die Frage nach der künftigen Relevanz von protestantischer Theologie und christlicher Religion wird nicht ohne eine grundlegende Verringerung der »Flughöhe« (C. Grethlein) theologischer und religiöser Theoriebildung beantwortet werden können. Pra­xeo­logie lehrt Theologie und Religion als gesellschaftlich vermittelte Tätigkeit zu verstehen und insofern auch als kreative Chance zur Gestaltung und Veränderung. Darauf macht dieses Buch nachdrück­lich aufmerksam und leistet so einen unverzichtbaren Beitrag für die Frage nach der Zukunft von Theologie und Kirche.