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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

582–585

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haslinger, Herbert

Titel/Untertitel:

Lebensort für alle. Gemeinde neu verstehen.

Verlag:

Düsseldorf: Patmos 2005. 309 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 3-491-70392-1.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Sowohl in der praktisch-theologischen Theoriebildung als auch in den kirchlichen Veränderungsprozessen ist die Frage nach der Gemeinde zu einem ebenso zentralen wie kontroversen Diskussionsgegenstand geworden. Das Buch des katholischen Professors für Pastoraltheologie, Homiletik und Religionspädagogik zeichnet sich in diese Debatte ein und setzt in ihr spezifische Akzente. Aus der Perspektive der auf evangelischer Seite in die Diskurse involvierten Rezensentin ist dabei zunächst die Parallelität zwischen den Konfessionen in den Wahrnehmungen und Einschätzungen auffallend, in den ekklesiologischen Grundlegungen geradezu erstaunlich. Einmal mehr stützt dies die Annahme, dass die Entscheidungen über die künftigen Sozialgestalten der Kirche nicht vorrangig theologisch, sondern entlang anderen Kriterien getroffen werden. Gleichzeitig ist damit theologisch eine Freiheit zur Gestaltung eröffnet, die mit einer Reflexion der Kriterien für eine angemessene und sinnvolle Sozialgestalt der Kirche einhergehen muss.
Dies erfüllt dieses Buch mit der Grundthese, dass die Gemeinde für den Menschen da sei und dieser das Kriterium für die Gemeindegestalt bilde: »Funktionen, Strukturen und Praxisformen der Gemeinde bewähren sich in dem Maße als christliche Gemeindepraxis, in dem sie den Menschen dienen – nicht der Ge­meinde selbst« (17).
Über weite Strecken des Buches setzt sich H. kritisch mit der sog. »Gemeinde-Idee« auseinander. Gemeint ist damit eine Logik, in der die Gemeinde den Zielpunkt des kirchlichen Handelns, vor allem aber des Christseins von Menschen bildet. H. identifiziert dies nicht nur als »Gemeindeautismus« (24), sondern – in evangelischer Perspektive besonders interessant – als »gemeindepastoraler Pelagianismus«, »wonach jemand aktiv sein, sich engagieren, mit-tun, etwas beitragen, etwas leisten muss, um als ›richtiges‹ anerkanntes Gemeindemitglied wahrgenommen zu werden, um sich in der Gemeinde integriert zu fühlen, um in der Gemeinde einen Stellenwert zu haben« (77). Dies aber stehe im Widerspruch zu der theo­logischen Grundüberzeugung, dass jeder Mensch auf Grund der bedingungslosen Gnade Gottes gewollt und angenommen ist. Angetreten als Überwindung einer »obrigkeitliche[n], autoritär ge­führte[n] Volkskirche alten Stils mit ihrer paternalistischen Pas­toral« (112) leide die Gemeinde-Idee unter den Problemen Überforderung, Realitätsferne und Verbürgerlichung, erfülle aber vor allem ihre eigenen Ansprüche der Beteiligung der Subjekte nicht, da die Funktionsträgerinnen und -träger in der Gemeinde die an­deren bevormundeten und zur Sicherung ihrer eigenen Machtposition die Standards festlegten. Diese in der Auseinandersetzung mit der Moderne am Ende des 19. Jh.s wurzelnde Gemeinde-Idee charakterisiert H. als dominant für die katholische Kirche heute – ähnliche Analysen ließen sich für die evangelische Kirche entsprechend formulieren.
Diese Entwicklung verortet H. in der Geschichte der kirchlichen Organisation, bezieht sie auf die Orientierung an der Basisgemeinde im lateinamerikanischen Kontext in den 1970er und 1980er Jahren und reflektiert sie auf dem Hintergrund des Gemeindebegriffs und der ekklesiologischen Grundlegung des Zweiten Vatikanischen Konzils. In evangelischer Perspektive sind diese Verortungen ebenso aufschlussreich wie die Reflexionen zur Amtsfrage, die in ihrer funktionalen Zuspitzung (225 ff.) erneut kaum konfessionelle Differenzen erkennen lassen.
H.s Analysen sind manchmal scharfzüngig, in vielem aber durchaus scharfsinnig. Er leuchtet in vielem aus und bringt auf den Punkt, was sowohl in der praktisch-theologischen Literatur als auch in den kirchlichen Strukturpapieren in den letzten Jahren immer wieder angemerkt worden ist. Die Darstellung gestaltet sich allerdings leider etwas redundant, wenn die Gemeinde-Idee in immer neuen Anläufen kritisiert wird – auch in den Passagen, in denen H. sich eigentlich konstruktiv seiner Vision für die zukünftige Gestalt der Kirche widmet. Diese Vision ist wiederum mindestens ebenso wie von der Abgrenzung von der Gemeinde-Idee von der Auseinandersetzung mit einer zweiten Linie ge­prägt, die in der derzeitigen finanziell und (katholischerseits) personell engen Situation Kirche in größeren Räumen denkt, sich vom territorialen Prinzip abkehrt und inhaltliche Angebote mit unterschiedlichen Anknüpfungspunkten für unterschiedliche Menschen entwirft.
Dem setzt H. die Idee der Gemeinde als »Lebensort für alle« entgegen. Als territorial angelegte überschaubare Größe signalisiert sie ihre Zuständigkeit für alle in ihrem Bezirk lebenden Menschen und möchte den seelsorglichen Kontakt zu diesen seitens der Hauptamtlichen so eng wie möglich gestalten. Die Hauptamtlichen haben als Seelsorger das Leben der Menschen zu kennen und ihre Wege mitzugehen. Anders als das Konzept der »überschaubaren Gemeinde«, an das dies erinnert, erhebt die Gemeinde jedoch gerade keinen Anspruch darauf, dass sich die Menschen in ihr und für sie engagieren, sondern sie dient ihrerseits den Menschen in einer Weise, wie diese es wollen und brauchen. Das Individuum erhält damit theologisch wie organisatorisch Vorrang vor der Gemeinschaft. Distanzierte Kirchlichkeit und sporadische Inanspruchnahme sind nicht nur legitim, sondern können der Gemeinde sogar wertvolle kritische Impulse geben. Die Gemeinde hat da­mit die Aufgabe, sich »mit ihren Vollzügen und Einrichtungen [zu] verausgaben … für das gesamte Volk, sich vom ganzen Volk in Anspruch nehmen [zu] lassen« (198). Gleichzeitig sollen sie »zu einem Ort werden, wo Menschen leben können« (198). Dies gilt für alle Menschen, vor allem aber als »diakonische Gemeinde« für die »Not leidenden und bedeutungslos gemachten« (191). H. empfiehlt, dass die Gemeinden sich an »Einfachheit« statt an »Luxus« orientieren (202), um privilegierte und weniger privilegierte Menschen zusammenzuführen und ihnen die Chance zu geben, sich zu verändern. Am Bild der »Berghütte« werden diese unterschiedlichen Aspekte illustriert (213).
Dieses Bild weckt sympathische Assoziation und Gemeinde als »Lebensort für alle« klingt als Formulierung durchaus attraktiv. Die Ausführung lässt jedoch einige Fragestellungen unbearbeitet, die mir wesentlich für die grundlegenden Richtungsent­schei­dungen über die künftige Sozialgestalt der Kirche(n) zu sein scheinen:
1. Die Milieuforschung der letzten Jahre hat eindrücklich belegt, dass die Bedürfnisse und Beteiligungsformen milieubedingt höchst unterschiedlich sind. Dies gilt nicht nur für das »Mitmach-Programm« der Gemeinde-Idee, sondern auch für das Bedürfnis nach Kontakt zu Seelsorgerinnen und Seelsorgern und erst recht für das Bedürfnis nach »Beheimatung« und »Verlässlichkeit«, das H. als allgemein menschlich voraussetzt. Wenn H. es als wesentlich erachtet, durch verlässliche Orte und Zeiten Menschen »von dem ständigen Nachdenken-Müssen, ob, wann und warum etwas stattfindet« (267), zu entlasten, scheint er mir bestimmte Menschen deutlicher vor Augen zu haben als andere. Vor allem aber hat der Wohnort für unterschiedliche Menschen eine unterschiedliche Bedeutung und eine einseitige Orientierung an ihm trifft Vorentscheidungen, welche Menschen stärker angesprochen werden als andere. Schließlich: So richtig und wichtig es ist, im kirchlichen Kontext die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Menschen zu stärken – die sozialkulturellen, durchaus auch milieubedingten Differenzen mit dem Postulat der »Einfachheit« überwinden zu wollen, erscheint mir zu einfach. Möglicherweise gibt es derzeit tatsächlich keine Gemeindeformen, die wirklich alle Menschen und Milieus gleichermaßen ansprechen – dies wäre aber zu dem Postulat des »Lebensortes für alle« in Beziehung zu setzen.
2. Gegenüber den differenzierten Analysen der »Gemeinde-Idee« fehlt mir eine theologische Klärung des Gemeindebegriffs. Wenn H. die »Abwanderung der Seelsorge aus den Gemeinden« in Form von Krankenhausseelsorge, Telefonseelsorge beklagt (74 ff.212), scheint er den Gemeindebegriff territorial einzuengen – was mir theologisch kaum gedeckt erscheint. Wenn das Kriterium für die Sozialgestalt von Gemeinde die Lebensdienlichkeit für Menschen ist, dann muss gerade diesen Formen für viele Menschen eine besondere Bedeutung zugesprochen werden, die angesichts der realen Verhältnisse die Territorialgemeinde gerade relativiert – als eine für bestimmte Menschen sinnvolle, für andere weniger sinnvolle Form. Eine Bezugnahme auf diesen derzeit virulenten Dis­kurs wäre weiterführend.
3. Dies steht in enger Verbindung mit der Frage nach den Konsequenzen des Modells für die unterschiedlichen Sozialgestalten von Kirche in der derzeitigen finanziellen Situation. Gemeinden, wie sie H. vorschweben, sind personal- und damit finanzintensiv, so dass sie bei knappen und immer knapper werdenden Mitteln unweigerlich die Reduktion anderer Handlungsfelder bedeuten würden. Eine Streichung von Krankenhaus-, Gefängnisseelsorge, Bildungsarbeit, kirchlichem Dienst in der Arbeitswelt etc., die je gerade einen Dienst der Kirche »für alle« darstellen, wäre kaum stimmig zu den Anliegen des Buches – beides gleichzeitig aber kaum finanzierbar. Hier scheint mir weiterer Reflexionsbedarf zu liegen.
4. Schließlich scheint mir zwischen den Aufgaben der Gemeinde, sich für andere zu verausgaben (mit Bezug auf Levinas) und einen Lebensort für alle zu bilden, eine gewisse Spannung zu bestehen, die möglicherweise auch produktiv sein kann, jedoch m. E. noch eine intensivere Reflexion erfordert. H. postuliert, dass Ge­meinde eine begrenzte Bedeutung für das Leben von Menschen haben darf und sie diese situativ in Anspruch nehmen können. Wer aber ist dann diese Gemeinde, wenn sich dies nicht auf die Hauptamtlichen beschränkt? Es scheint ja durchaus Menschen zu geben, die in ihr »leben« – und was meint dies dann konkret? Bleibt nicht letztlich ein Gegenüber zwischen »der Gemeinde«, in der Menschen »leben«, und »den Menschen«, denen diese (Kern-)Ge­meinde dient, bestehen? Und wenn dies so ist, wie wäre es zu verhindern, dass sich die unguten Dynamiken der »Gemeinde-Idee« weiterhin durchsetzen?
Die Fragen zeigen an, dass das Buch einen anregenden Impuls in der aktuellen Debatte setzt und sowohl Klärungen als auch offene Fragen für die anstehenden Strukturenentscheidungen in den beiden großen Kirchen enthält.