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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

574–578

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried

Titel/Untertitel:

Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XIX, 509 S. 8°. Kart. EUR 49,00. ISBN 3-16-148754-0.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

Das Buch sammelt bereits veröffentlichte und unveröffentlichte Beiträge des Heidelberger Systematischen Theologen. Dabei kommt es naturgemäß zu Wiederholungen, die durch straffere Fassungen hätten reduziert werden können. Am Beginn steht ein Aufsatz zu Luthers reformatorischer Entdeckung. Sie »besteht in der Erkenntnis, dass die ›Gerechtigkeit Gottes‹ die Gemeinschaftstreue ist, durch die Gott den Menschen gerecht, und d. h. gemeinschaftstreu, macht, indem er in ihm Glauben hervorruft« (11). So wird deutlich, dass es bei der biblisch verstandenen Gerechtigkeit um ein Beziehungsgefüge geht, »das dynamischen, prozesshaften Charakter hat und sich an der Vorstellung von einer umfassenden Wohlordnung orientiert bzw. diese intendiert« (13). Hier setzen H.s Versuche an, mit einer »relationalen Ontologie« die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre zu skizzieren. Heute sind wir mit der Frage konfrontiert, ob der Mensch sich seinen Wert und seine Würde erst erringen und verdienen muss oder ob beide ihm mit dem Dasein schon gegeben sind (vgl. 15). Die andere Grundfrage der Gegenwart sieht H. im Schwinden der Hoffnung auf die Güte Gottes angesichts von Übel und Elend in der Welt. »Beide Fragen lassen sich nur zu­sammen bewältigen. Geht dieser Zusammenhang verloren, so wird die Theodizeefrage ›vermenschlicht‹, d. h. der Mensch wird ihr Ad­ressat, und es werden die an den Menschen gerichteten Leis­tungs­anforderungen ›vergöttlicht‹ d. h., sie erhalten einen Stellenwert, als würden sie über Sein und Nichtsein entscheiden. Unter dieser zweifachen Überlastung kann der Mensch nur zerbrechen.« (18)
Das Fundament der Rechtfertigung ist die Gerechtigkeit Chris­ti – »eine äußere, fremde Gerechtigkeit« (28). Sie kann daher nur im Glauben ergriffen werden, niemals durch Werke. Dabei ergreift nicht der Mensch den Glauben, vielmehr erfasst Christi Heilswerk den Menschen durch den Glauben (vgl. 29). So gibt es zwar Werke der Gläubigen, aber nur als Folge, niemals als Voraussetzung der Rechtfertigung. In Luthers Disputationen von 1535–37 zeichnet sich ein wichtiger Punkt ab: »Die imputative Rechtfertigung wird so verstanden, dass sie als solche effektiv ist; denn Gottes vergebendes, freisprechendes Wort bleibt, indem es Glauben weckt, nicht wirkungslos, sondern bewirkt am und im Menschen die grundlegendste Veränderung, die überhaupt denkbar ist: vom Unglauben, d. h. von der Sünde, zum Glauben, d. h. zur Gerechtigkeit vor Gott.« (30) Das ist wichtig, soll die Imputation nicht als Willkür interpretiert werden (vgl. 33). Sehr schön formuliert H. den Zusammenhang: Die Grundsünde des Menschen besteht darin, dass er Gott nicht von Herzen vertrauen kann. »Diesen Schaden kann kein Mensch von sich aus beheben, denn Vertrauen muss in uns ge­weckt werden, und zwar dadurch, dass uns etwas – Vertrauenswürdiges – begegnet, das unser Vertrauen auf Gott gewinnt. In Jesus Christus, d. h. für uns: im Evangelium von Jesus Christus begegnet uns Gott als der Vertrauenswürdige schlechthin.« (34)
Die »strafrechtliche« Interpretation der Rechtfertigungslehre im Modell von Schuld und Vergebung betrachtet H. mit gewissem Recht als Verengung. Seine eigene Interpretation orientiert sich »an der Einsicht in das Gegebensein des Daseins …, wobei dieses Gegebensein für den Menschen den Charakter einer von Gott gegebenen Bestimmung und Aufgabe hat, die vom Menschen jedoch auch verfehlt werden kann« (63). Daraus folgt: »schon das Verständnis des Daseins als Gegebensein zeigt, dass nur eine relationale Ontologie, die das Sein als In-Beziehung-Sein versteht und zu verstehen gibt, dem an der ›Rechtfertigungs‹-Lehre orientierten Wirklichkeitsverständnis angemessen sein kann« (92). In diesem Horizont sind die Aufsätze zu betrachten, in denen sich H. der theologischen Anthropologie zuwendet. Dabei schließt H. sich dem (keineswegs nicht nur) seiner Ansicht nach großartigen Werk (vgl. XIII) »Ontologie der Person bei Luther« von Wilfried Joest (Göttingen 1967) an – ohne allerdings dessen Komplexität zu erreichen.
Wie ist der Glaube genau zu bestimmen und von einem menschlichen Werk abzugrenzen? H. verfolgt Luthers Bemerkungen sehr differenziert. Glaube wird nämlich bei Luther durchaus als höchstes Werk bezeichnet – und zugleich damit auch als Gotteswerk. Glaube ist ein Geschehen, und zwar ein solches, das die Person erst konstituiert und identifiziert (vgl. 116), ausrichtet auf einen Orientierungspunkt außerhalb ihrer selbst (vgl. 117). Dabei werden Christus und der Glaubende ganz eins. H. konstatiert nun für den Begriff »Werk« bei Luther eine Äquivokation. Das Wort »opus« kann definiert werden als Akt, den jeder Mensch von sich aus tun kann, im Unterschied zu dem, was außerhalb seiner selbst ge­schieht (vgl. 122).
Dieser weite Begriff kann auch auf den Glauben angewendet werden, sofern der Glaube von Gott hervorgelockt wird. Aber als Werk im engeren Sinne – als Handeln, das aus eigenen Kräften ein Gebot erfüllt – kann der Glaube nicht interpretiert werden. »Werk« in diesem Sinne ist alles, »was der Mensch tut oder tun kann aus seinem freien Willen und eigenen Kräften« (123). Daraus zieht H. die wichtige Folgerung: »Was mit Unlust und Zwang geschieht, ist Gesetzes-Werk; was hingegen mit Lust und Liebe geschieht, ist Gesetzes-Erfüllung.« (124) Und nun ist Glaube »genau die Ausrichtung des Menschen auf Gott …, die durch Lust und Liebe ausgezeichnet und qualifiziert ist« (125). Gerade das entzieht sich aber der Verfügung des Menschen. Daher kann Glaube nur von Gott ge­schaffen oder erweckt werden. »Das Evangelium zieht den Menschen an, weil es verlockend ist. Und das Geistwirken besteht genau darin, dass diese verlockende Botschaft im Herzen eines Menschen als solche ankommt und verstanden wird.« (138) Der Mensch ist an der Entstehung des Glaubens dann allerdings insofern beteiligt, als er nichts tut (vgl. 140). Dies ist insofern ein Werk im weiteren Sinne, als zumindest die Möglichkeit besteht, das Nichtstun zu unterlassen (vgl. 141).
Konstruiert H. am Ende leicht tridentinisch? Sollte nicht deutlicher gesagt werden, dass es hier nur noch um eine logische Möglichkeit geht, die gleichsam a posteriori erkannt werden kann oder vielleicht als Sünde wider den Heiligen Geist zur Grenzaussage wird? H. selbst merkt denn auch an: »Wenn aber dieses Herz durch das Evangelium erreicht, gezogen oder hingerissen wird, woher soll dann überhaupt die Möglichkeit zu einem Tun kommen, das sich diesem Werk Gottes entzieht oder widersetzt?« (143, vgl. auch den Verweis auf die Analogie zum Bettler, der seine Hand öffnen muss, um das Brot zu empfangen, 142, Anm. 140)
Im Zuge einer Lektüre von »De homine« merkt H. an, dass die Affekte dem Menschen nicht als neutrale Kräfte zur Verfügung stehen, sondern geprägt und bestimmt sind. Daraus ergibt sich die »passive Konstitution des Selbstbewusstseins« (173). Das Selbst ist stets in einer Grundbewegung, die allen »Akten« vorausliegt. »Es gibt keinen archimedischen Punkt in der lutherischen Anthropologie, von dem aus der Mensch sich selbst, also seinen Willen, sein Herz, sein Gewissen … bestimmen, lenken und ausrichten könnte.« (183) Allerdings ist diese Grundbewegung nicht so zu verstehen, als werde sie der Person wider Willen zugefügt. Hier stößt H. zu wichtigen Formulierungen vor, wenn es um (die Illusion der) Willensfreiheit geht. Die »affektiv bestimmte Grundrichtung des menschlichen Strebens, die auch in unsere Handlungsentscheidungen mit eingeht und sie mitbestimmt, unterliegt nicht unserer willentlichen Kontrolle und Steuerung… eines können wir nicht: die affektive Grundrichtung unseres Strebens willentlich verändern« (227). Zwar kann Luther ein freies Wahlvermögen in den alltäglichen Dingen bejahen (vgl. 270), doch unterstreicht H. dankenswerterweise die Bemerkungen Luthers zur necessitas immutabilitatis (vgl. 274 f.277 f.). Es gibt eine Notwendigkeit, die nichts mit Zwang zu tun hat. Das entspricht der Allwirksamkeit (nicht: Alleinwirksamkeit) Gottes. Die voluntas ist immer schon geprägt, weil »das, worauf ein Mensch vertraut und was er von ganzem Herzen liebt, sein Denken und Wollen, ja sein ganzes Dasein bestimmt« (283). Hier ist die Person also intensiv beteiligt, aber eben passiv – sofern es um den Glauben geht –, und höchst aktiv, sofern es um die Sünde geht. Der Vergleich dieser Position mit den neueren neurobiologischen Untersuchungen fällt etwas blass aus. H. verweist mit Recht da­rauf, dass die auf Wiederholbarkeit gerichtete naturwissenschaft­liche Methode die konstitutive Geschichtlichkeit der menschlichen Person gar nicht treffen kann (vgl. 294). Außerdem wird der theologische Freiheitsbegriff stets abgeblendet: Die »Übereinstimmung des Menschen mit seiner Bestimmung« (296) ist eine von Wahl-Alternativen ganz unabhängige Freiheitserfahrung. Leider lässt H. die Vielschichtigkeit des wissenschaftstheoretischen Be­griffs »De­terminismus« beiseite und deutet die Konsequenzen der Hirnforschung für die Rede von einer relationalen Struktur der Person nur an (vgl. 300 f.). Interessant ist der Verweis darauf, dass bereits der junge Schleiermacher das heute in der philosophischen Debatte sehr wichtige Argument formuliert hat, wonach Handlungen nicht zurückgeführt werden dürfen auf ein freies Willensvermögen, weil sie sonst nur zufällig mit dem Wesen und Charakter des handelnden Menschen verbunden wären (vgl. 299 f.)!
In Auseinandersetzung mit Peter Singer entwickelt H. ein »re­lationsontologisches Menschenbild christlicher Prägung« (317ff.). Ausgangspunkt ist die Bemerkung, dass wir in unzählige Kontexte »hineinverwoben« sind (319), aber gerade diese Metapher wäre zu klären. Statt dessen entfaltet H. eine mehrdimensionale Matrix von Relationen in der Differenz von Umwelt, Selbst und Ursprung sowie von Bezogensein und Beziehungen. Während Letztere durch Wahlakte konstituiert werden, handelt es sich bei Ersterem um »eine Relation, die für Menschen so gegeben ist, dass sie diese durch ihr Wählen nicht konstituieren, sondern nur als gegeben in An­spruch nehmen, mit ihr umgehen und sie insofern anerkennen kann [sic]« (321).
Dabei kommt es zu einer Stufung zwischen den mit uns kategorial gleichartigen Relaten (Vorfahren) und dem nicht-endlichen Relat, »dem sich alle endlichen Relate in ihrem Bezogensein und in ihrer Beziehungsfähigkeit ihrerseits ›verdanken‹.« (ebd.) Hier öffnet sich in den Ursprungsrelationen der Blick für eine transzendentale Ursprungsrelation, die als schlechthinnige Abhängigkeit zu fassen wäre (vgl. 322) und ihrerseits zu einer Beziehung führen kann, nämlich zur religiösen Verehrung des Ursprungs. Aus dieser Erfahrung des Bezogenseins ergeben sich dann vielfältige Erfahrungen der Verflechtung von Bezogensein und Beziehung, als Abhängigkeit und Freiheit (vgl. 323). Wichtig: »Zwischen Bezogensein und Beziehung besteht ein einseitiges und insofern asymmetrisches Konstitutionsverhältnis.« (325) Hier liegt die Anknüpfung an Schleiermacher auf der Hand.
Die Frage bleibt, ob die von H. skizzierte Ontologie wirklich relational ist oder nur mehrstellige Prädikate einführt. Das wird deutlich an der Bedeutung der Wahlakte, durch die Beziehungen konstituiert werden. Müsste nicht eine wahrhaft relationale Be­schreibung der Person in viel höherem Grade die komplexen Rück­kopplungen in Betracht ziehen, die sich als Geschichtlichkeit aufdrängen und narrative Sprachgebilde nahelegen? Und wäre nicht eben dadurch die Rede von Wahlakten erheblich zu modifizieren, weil sie immer noch ein zentriertes Subjekt voraussetzt und somit in der Substanzontologie verharrt?
Immerhin hat H. im Anschluss an Luther und Joest die Affekte schon so stark betont, dass die Distanz des wählenden Subjekts in Bewegung versetzt wird. Aber er will die Formulierung Joests vom exzentrischen Person-Sein vermeiden, weil sie den Eindruck er­weckt, »es gebe ein substantiales Personsein, das aber nicht innerhalb, sondern außerhalb der Person liege« (185). Nun ist gerade das die Pointe in Gal 2,20 und der Schlüssel zu einer wirklich relationalen Anthropologie (und Ontologie). Die Vereinigung mit Christus stellt H. ja selbst sehr schön heraus (vgl. 117). Diese Vereinigung ist aber eine ver­wickelte Rück­kopplung von Selbst-, Sünden- und Christuserkenntnis, in der die Person ihren festen Stand verliert und in Christus findet. Ob das mit dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit ohne weiteres vereinbar ist, bleibt eine interessante und m. E. durchaus noch offene Frage. Möglicherweise liegt hier keine Substanzontologie mehr vor – aber kann bei Schleiermachers Exposition der Frömmigkeit wirklich noch von einer Relation gesprochen werden?
Noch problematischer ist es, wenn H. die Abstammungsrelation zum Paradigma für ein Bezogensein innerhalb der Schöpfung macht. Damit ist der Bereich der Substanzontologie in keiner Weise verlassen. Leider wird diese Relation zum Leitfaden für die Mehrzahl seiner ethischen Argumentationen. Gegen Peter Singer macht H. – mit m. E. durchschlagenden Gründen – geltend, dass das Menschsein nicht an Kriterien gebunden werden darf. Es ist an die transzendente Bestimmung des Menschen gebunden (vgl. 332), und die hängt nicht davon ab, ob und wie weit sie realisiert wird. Um jede Relativierung dieser Argumentation auszuschließen, wird mit der Abstammung doch wieder ein recht abstraktes Kriterium eingeführt. Zwar betont H., dass eine menschliche Person nur im Zusammenhang ihrer Geschichte angemessen wahrzunehmen ist (vgl. 331). Das hängt durchaus mit der relationalen Betrachtung zusammen. Inwiefern gilt das aber für die befruchtete Eizelle? » Nicht jeder Mensch kommt zur vollen Entwicklung geistiger Fähigkeiten, aber jeder beginnt sein Dasein als Embryo.« (371) Die notwendige Bedingung wird unversehens zur hinreichenden Bedingung. Das »Kontinuitätsargument« (vgl. 393, Anm. 40) hat vollends mit Beziehungen nichts mehr zu tun. Das Verhalten der zukünftigen Eltern gehört aber doch auch zu deren Geschichte. Wird diese Geschichte in H.s Gedankengang nicht durch einen biologischen Automatismus überlagert? Die Konflikte im Rahmen eines Verhütungsfehlers oder einer Vergewaltigung sind gar nicht erfasst.
In eine andere Richtung weisen hingegen die grundlegenden Bemerkungen zur Ethik im Horizont der Rechtfertigungslehre: Das von der Rechtfertigung herkommende Ethos »steht nicht im Dienste eines erst noch für den Handelnden zu erringenden Zieles, sondern kommt von einer zugesprochenen, bejahten Identität her und hat darum das Herz, den Kopf und die Hände frei zum selbstvergessenen Tun des Guten« (339). Die Ethik wird auf dieser Grundlage zu einer »Leitbildethik« (354), die Tugend-, Pflichten- und Güterethik transzendiert durch eine »vision of life«, deren Stärke darin liegt, dass sie die Menschen »nicht zwingen, sondern sie gewinnen will« (357). Dann »ändern sich Ton und Stil ethischen Redens weg vom Gebot und von der Vorschrift zur Einladung und Verlockung« (359). Das ist eine sehr sympathische Weichenstellung für die Ethik (aber es wäre zu fragen, wie sich dies zur Rigidität der Abstammungsrelation verhält)!