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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

568–570

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidinger, Heinrich, u. Clemens Sedmak [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Mensch – ein freies Wesen? Autonomie – Personalität – Verantwortung.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 320 S. 8° = Topologien des Menschlichen. Geb. EUR 44,90. ISBN 3-534-17502-6.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Der von zwei Mitgliedern der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Salzburg herausgegebene Sammelband enthält 16 Beiträge, die in vier unterschiedlich umfangreichen Themen­blö­cken zusammengestellt sind. Voran steht eine begriffsgeschicht­liche Studie (»Das Wesen des Menschen liegt in seiner Freiheit – Zur Geschichte einer Definition«) des Herausgebers Schmidinger. Anlass und Ziel des Buches werden nicht genannt. Ein Vorwort der Herausgeber, das darüber Auskunft geben könnte, fehlt leider. Wahrscheinlich geht der Band auf ein Symposium zurück (vgl. 21).
Im ersten Teil werden unter der Überschrift »Grundsätzliches« historische und systematische Aspekte des Theoriediskurses in philosophischer, theologischer und ästhetischer Perspektive thematisiert. Dabei kommen die Philosophin Annemarie Pieper (»Freiheit ohne soziale Verantwortung?«), der Historiker Wolfgang Schmale (»Freiheitsdiskurse in der Geschichte«), der Theologe Michael Greiner (»Frei vor Gott«), der Kunsthistoriker Götz Pochat (»Freiheit und Kunst«) und der Germanist Steffen Martus (»Die Freiheit der Literatur«) zu Wort.
Unter der Überschrift »Freiheit – eine Illusion?« wird sodann die aktuelle Debatte zur freiheitstheoretischen und -praktischen Bedeutung der Gehirnforschung aufgegriffen. Wolf Singer referiert seine bekannten Thesen unter der Überschrift »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen«. Einen wichtigen Beitrag zur Differenzierung der Diskussion liefert der Psychologe Wolfgang Klimesch unter dem Titel »Verantwortung und Persönlichkeit aus psychobiologischer Sicht«. Er kommt zu dem Ergebnis, »dass unser Denken unter spezifischen Bedingungen … nicht als biologisch determiniert angesehen werden kann. Dies bedeutet, dass unsere persönliche Verantwortung nur unter Einsatz kognitiver Ressourcen möglich ist und dass persönlich wie kulturell Randbedingungen für rationales Verhalten geschaffen werden müssen.« (133) Der Philosoph Ansgar Beckermann verneint die im Titel seines Beitrages gestellte Frage: »Biologie und Freiheit. Zeigen die neueren Ergebnisse der Neurobiologie, dass wir keinen freien Willen haben?« Im Rekurs auf die ganzheitliche Anthropologie des Aristoteles und John Lockes­ Theorie der Willensfreiheit weist er nach, dass Entscheidungen für rationale Argumente zugänglich sind. Daraus folgt die Notwendigkeit, neuronale Prozesse doppelperspektivisch zu be­schreiben. Denn es steht der »Annahme nichts … im Wege, dass es sich bei manchen neuronalen Prozessen um Prozesse des rationalen Überlegens oder des Abwägens von Gründen handelt. Oder anders ausgedrückt: Die Tatsache, dass etwas ein neuronaler Prozess ist, schließt keineswegs aus, dass es sich bei demselben Prozess um einen Prozess des Überlegens handelt – genau so wenig wie die Tatsache, dass etwas ein elektronischer Prozess ist, ausschließt, dass es sich bei demselben Prozess um das Berechnen der Summe zweier Zahlen handelt.« (122)
Begründungsprobleme von Freiheit sind Thema des dritten Teils (»Können Ethik und Autonomie begründet werden?«), in dem Beiträge der Ethnologin Elke Mader (»Mensch, Person, Weltbild. Zur kulturellen Konstruktion des Menschlichen zwischen Verantwortung und Freiheit«), der Philosophin Herlinde Pauer-Studer (»Autonomie: Ein Begriff und seine Bedeutungen«), des Soziologen Manfred Prisching (»Die Freiheit der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen«) und des Philosophen Friedo Ricken (»Warum Moral nicht naturalisiert werden kann«) versammelt sind.
Der vierte Teil, betitelt mit »Heutige Dimensionen menschlicher Verantwortung«, bietet drei Beiträge aus gesellschaftlichen Praxisfeldern. Ulrich Thielemann diskutiert die »Freiheit unter den Bedingungen des Marktes«, Lukas Gschwend betont in seinem Beitrag die bleibende Notwendigkeit der Freiheitsunterstellung für das Rechtssystem (»Verantwortung und Strafrecht«) und Hildegunde Piza-Katzer macht auf neue Freiheiten im Bereich der Medizin aufmerksam, stellt Folgeprobleme vor und zeigt Lösungsansätze auf (»Autonomer Patient – Verantwortungsvoller Arzt: Aus der Sicht einer Fachärztin für plastische und Wiederherstellungschirurgie. Idealzustand und Realität«).
Der Band bietet eine Fülle von sehr interessanten Studien zum Freiheitsbegriff und ermöglicht hervorragende Einblicke in die unterschiedlichen Diskursebenen. Als besonders hilfreich erweisen sich diejenigen Beiträge, die die Ambivalenzen und Gegenläufigkeiten im Freiheitsverständnis thematisieren. Bei Pieper geschieht dies in typologischer Gegenüberstellung der Freiheitstheorien von Kant und Nietzsche. Schmale erinnert an die durchaus gewaltsame politische Durchsetzung der Freiheit, die z. T. erhebliche Rück­schläge in Kauf nehmen musste. Pochat und Martus machen in ihren hochinstruktiven Analysen deutlich, wie Kunst und Literatur als Ort und Medien humaner Freiheitsentfaltung identifiziert werden können, in denen zugleich ihre inneren und äußeren Bedingungen zunehmend selbstkritisch reflektiert werden. Auf die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Freiheitslebens in der Mo­derne macht Prisching aufmerksam, nicht ohne am Beispiel der »Cyborgisierung des Menschen« auf ihre Gefährdung zu verweisen: »Aus lauter Hochachtung vor der Leistungsfähigkeit elektronischer Netze und Systeme könnten die Menschen werden wollen wie Computer, sie würden ihre Körper und Identitäten manipulieren, sich biologisch-genetisch adaptieren, zu Mensch-Maschine-Kombinationen wandeln« (236). Dass die ausgelebte Freiheit als Zwang auf den Menschen zurückschlagen kann, verdeutlicht eindrucksvoll Thielemann am Beispiel der Marktfreiheit und der ökonomisch-politischen Sachzwangrhetorik. Die Risiken des Freiheitslebens hebt Piza-Katzer am Beispiel der Schönheitschirugie hervor und betont exemplarisch am Gespräch zwischen Arzt und Patient den Bedarf an vernünftiger Aufklärung der Freiheit. Mader schließlich belegt durch ethnologische Studien die kulturelle Kontextgebundenheit des Freiheitsverständnisses und mahnt: »Wenn in der westlichen Gesellschaft Freiheit eine Zielvorstellung ist und Autonomie für alle impliziert, so sollte man vorsichtig sein festlegen zu wollen, was ›wahre Freiheit‹ für ›wahre Menschen‹ bedeutet.« (179)
Gerade angesichts der vielen erhellenden Zuspitzungen bleiben für den theologischen Leser Fragen offen. Der evangelische Theologe vermisst in der begriffsgeschichtlichen Studie einen Hinweis auf die Christliche Freiheit der Reformation, die gar nicht berücksichtigt wird. Stattdessen wird der Beginn der Freiheitsgeschichte in das Mittelalter verlegt, der Philosophie des Idealismus eine »Exaltierung der Freiheit« (13) bescheinigt und Bezüge zur Naturrechtslehre der Aufklärung und zum modernen Menschenrechtsdenken fehlen fast ganz. Auch die Beiträge aus der Feder römisch-katholischer Autoren bleiben mit ihrer ontologisierenden Kant-Interpretation und – im Falle Greiners – mit ihrem biblischen Offenbarungspositivismus hinter dem in den anderen Beiträgen erreichten Problemniveau weit zurück. Vielleicht waren die beiden Herausgeber zu bescheiden. Denn während sich Schmidinger auf die (dogmatisch nicht unbelastete) Begriffsgeschichte beschränkt, bietet Sedmak nur kurze und nicht immer pointensichere Einleitungen in die Themenblöcke, ohne in eine sachliche Auseinandersetzung mit den darin begründeten Thesen einzutreten. Das erscheint dem Rezensenten zu wenig. Insbesondere dort, wo in dem forschen Beitrag von Pauer-Studer mit der individualitätstheoretischen Be­gründung von Autonomie faktisch die römisch-katholische Na­turrechtslehre kritisiert wird, wartet man vergeblich auf die Antwort eines Sozialethikers. Eine gleiche Fehlanzeige ist im Blick auf die Kritik Thielemanns am Subsidiaritätsprinzip zu notieren. Theo­logie aber dürfte mehr sein als eine bloße Plattform zur Prob­lemakkumulation. Vielmehr hat sie sich den im wissenschaftlichen Diskurs aufgeworfenen Problemen gedanklich zu stellen und wenigstens anzudeuten, wo Antwort gesucht werden kann. Dies gilt insbesondere im Blick auf die von Gott gewollte, aber stets gefährdete Freiheit des Menschen. Bei welchem anderen Thema wäre die Theologie mehr bei sich?